Was zuletzt geschah:
Jonas' und Eriks Kurzurlaub in Stuttgart beginnt stressig. Zum Glück kennt Erik die eine oder andere zur Entspannung geeignete Ecke und so kommt Jonas nicht nur in den Genuss eines ausgesprochen lecken Nachmittagssnacks, sondern auch Hugos und Mannis Bekanntschaft zu machen. Gerührt von ihrer herzlichen Art, ihn in Eriks Leben willkommen zu heißen und von ihrer Lebensgeschichte beeindruckt, ist er noch fester entschlossen, die Tage in Stuttgart zu nutzen, so viel wie möglich über Erik zu erfahren.Kapitel 37
Schatten zogen sich über die gepflasterte Straße, das Rascheln der Blätter im Abendwind streichelte Jonas' Sinne. Erik hatte ihn an den Stadtrand geführt; schnuckelige Gässchen und Einfamilienhäuser versteckten sich hinter einer zubetonierten Hauptstraße. Vor einem mit wildem Wein überwucherten Zaun blieben sie stehen.„Das ist das Haus, in dem ich aufgewachsen bin."
Jonas versuchte abzuschätzen, ob Erik lieber nicht über das Thema sprechen wollte, doch abgesehen von einer gewissen Melancholie in seiner Stimme, schien er entspannt. „Und wer wohnt jetzt da?"
„Ah, das weiß ich auch nicht. Meine Tante und mein Onkel haben nach dem Unfall meiner Eltern entschieden, es zu verkaufen." Erik lächelte freudlos. „Damals habe ich mich deshalb fürchterlich verraten gefühlt. Meine Eltern waren tot und das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, sollte irgendwelchen fremden Leuten überlassen werden. Aus heutiger Sicht verstehe ich sie schon. Der Kredit war noch nicht abbezahlt, zuverlässige Mieter zu finden ist stressig und es gab ja auch noch die beiden Wohnungen–" Erik stockte, als er Jonas' Blick bemerkte. Verlegen strich er über sein hochgebundenes Haar und zog den Haargummi fester. „Meine Eltern waren beide beruflich ziemlich ehrgeizig und haben finanziell vorgesorgt, falls etwas mit ihnen passiert. Ich bin also–"
„Christian Grey", vervollständigte Jonas seinen Satz und Erik lachte.
„Ah, dafür reicht es dann doch nicht ganz. Nur finanziell ganz gut abgesichert." Seine Fingerspitzen fuhren über den rauen Putz der Grundstücksumgrenzung. „Ein paar Wochen vor ihrem Unfall bin ich mit meinen Eltern im Garten gesessen. Muss einer der ersten Abende in dem Jahr gewesen sein, an dem es halbwegs warm genug dafür war. Wir haben Kuchen gegessen, eine der alten Schallplatten meines Vaters angehört und gequatscht. Und ich dachte ... Ich dachte, das sei das perfekte Leben. Dass das genau das Leben ist, das ich auch mal mit meiner Familie und meinen Kindern führen will." Ein Schatten huschte über Eriks Züge, aber bevor sich Jonas sicher sein konnte, was dieser bedeutete, setzte sich Erik wieder in Bewegung und lief die Straße entlang. „In diesem Moment ist mir zum ersten Mal klargeworden, dass ich nie eigene Kinder haben werde. Das war", er zögerte, strich über seine Unterarme, „überraschend schmerzhaft."
„Du willst Kinder?" Seine Verblüffung ließ Jonas kurzfristig jedes Taktgefühl vergessen. Natürlich war ihm aufgefallen, dass Erik zu den Menschen gehörte, die neugierigen Kindern zuwinkten, wenn sich ihre Blicke trafen, im Supermarkt Grimassen schnitten und sich über das vergnügte Lachen freuten, oder auch mal zehn Minuten Verspätung in Kauf nahmen, um sich mit dem Nachbarskind zu unterhalten. Er hatte nur nie besonders viel in dieses Verhalten hineininterpretiert.
„Ich wollte Kinder, so lange ich denken kann."
Inzwischen musste sich Jonas beeilen, um mit Erik Schritt zu halten. Er stellte die erste Frage, die ihm einfiel: „Was ist mit Adoption?"
Erik hob eine Braue. „Als alleinstehender Schwuler?"
„Jaah, okay", räumte Jonas ein. „Aber du bist ja nich' mehr allein. Ähm, ich mein, ich weiß noch nich' so ganz, wie ich dazu stehen soll. Das kommt grad etwas überraschend, aber–"
„Spielen wir es trotzdem mal durch", unterbrach Erik ihn nicht allzu sanft. „Angenommen ich – wir", verbesserte er sich, „heiraten und du wolltest ebenfalls ein Kind adoptieren. Wie hoch stehen die Chancen? Selbst unter der Voraussetzung, dass Vermittlungsstellen keinerlei Vorurteile gegenüber Homosexuellen haben, alleine meine Arbeitszeiten lassen sich nicht mit einem Kind vereinbaren. Und", er seufzte, „meine Vorgeschichte auch nicht unbedingt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich wirklich belastbar genug für ein Kind bin, oder der Wunsch danach einfach nur meine Urteilsfähigkeit trübt. Am Ende ist es doch so: Selbst, wenn ich ein Kind adoptieren dürfte, müsste ich mich permanent fragen, ob ich dieses Kind um eine Zukunft mit Menschen bringe, die viel besser dafür sorgen könnten als ich."

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Raupe im Neonlicht
RomanceDas Abitur frisch in der Tasche, entschließt sich Jonas, das beschauliche Dorfleben gegen die flitternden Lichter der Großstadt zu tauschen. In Zukunft soll Berlins Luft seine Lungen mit Feinstaub und Freiheit füllen. Zum ersten Mal auf sich selbst...