Das Herz schlug mir bis zum Hals, während ich die letzten Worte meines Monologs in Gedanken wiederholte. Der muffige Geruch der alten Theaterbühne vermischte sich mit dem Parfüm der anderen Bewerberinnen. Hinter der Bühne war es stickig und eng. Überall um mich herum flüsterten aufgeregte Stimmen, ein stetiges Rauschen, das meine Nervosität nur verstärkte.
Ich schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Der Text saß, ich hatte ihn mit Miranda tausendmal durchgegangen. Aber jetzt, kurz vor meinem Auftritt, fühlte es sich an, als könnte ich kein einziges Wort über die Lippen bringen. Die Anspannung in der Luft war fast greifbar, und die vielen Gesichter, die sich auf eine Rolle bewarben, machten mich nervös. Während ich hinter der Bühne mit den anderen Bewerbern wartete, hatte ich einen Blick über die Menge an Schülern streifen lassen, die sich auf eine Rolle bewarben. Mich überraschte, wie beliebt diese Theater-AG war. Als hätten die Schüler der Remington School seit Jahren darauf gewartet, ein Stück auf die Bühne zu bringen - und dann auch noch Romeo und Julia. Seit wann waren Klassiker so beliebt?
Ich fragte mich das eigentlich nicht wirklich aus Selbstinteresse, sondern weil ich nicht mit so viel Konkurrenz gerechnet hatte. Allein 25 Mädchen bewarben sich auf Julia, darunter ich. Als ich mich in die Liste am schwarzen Brett eintragen wollte, hatte jemand unter der Tabelle weitere Zeilen mit einem Füller dazumalen müssen.
Ein Blick auf die anderen Bewerberinnen ließ mich sofort wieder an meinem Talent zweifeln. Einmal sollte diese Rolle besetzt werden. Dabei gab es mindestens 5 Mädchen, die Amok laufen würden, wenn sie die Rolle nicht bekamen. Da machte es einem gleich Angst, Julia zu spielen. Dabei wollte ich das so sehr...
Romeo und Julia war das Letzte, was von meinem Dad übrig geblieben war, seit er kurz vor meiner Geburt einfach verschwunden war. Mr Murphy, unser Butler, hatte mir das Buch gegeben, als ich 4 war und ich hatte es aufbewahrt, bis ich es richtig lesen konnte. Es hatte zwar etwa 3 Durchläufe gebraucht, bis ich es verstand, aber das war es mir wert gewesen. Ich glaubte fest daran, dass Dad es mir aus einem Grund da gelassen hat. Vielleicht, damit ich eines Tages als Julia in einem Theater-Stück brillieren konnte?
Das war vielleicht mein einziger Vorteil: Ich hatte das Buch GELESEN. Die meisten Anderen hier hatten wahrscheinlich nur die Hollywood-Verfilmung gesehen oder sogar gar keine Ahnung vom Handlungsstrang.
Ich sah noch einmal in die Menge. Meine Zeit vertrieb ich damit, mir die anderen in deren Wunschrollen vorzustellen. Gerade wurde Paris, ein Nebenbuhler Romeos, gecastet. Brad Stanley bewarb sich auf diese Rolle. Als Einziger. Sagen wir mal, Brad ist nicht gerade der der Typ Frauenaufreißer". Er war eigentlich aus so einer Nerd-Truppe, die Star Wars vergötterte und kleine Roboter mit Greifarmen baute. Es überraschte mich, ihn hier zu sehen. Und es überraschte mich auch, dass er unbedingt Paris spielen wollte: Den Verehrer und laut Julias Eltern ihr Zukünftiger. Na dann...
"Als nächstes bitte Romeo", rief eine Lehrerin in die Gruppe ". Es machen sich bitte bereit: Peter Strokes, Christopher Lane und Jacob Cooper."
Ich drehte mich ruckartig zur Romeo-Ecke um. Jacob Cooper? Das musste eine Verwechslung sein. Der Typ würde nicht mal zur Theater-AG gehen, wenn sein Leben davon abhinge. Oder das seines Oldtimers. Was ihn betraf: Er war impulsiv, ignorierte Regeln und sah die Schule als Zwangsarbeit. Er war also das genaue Gegenteil von mir. Das war mir auch nur recht, denn mir passte sowohl seine arrogante Fratze, als auch die seines Vaters nicht. Mum hatte mir von Anfang an gesagt, dass die Coopers ein Haufen intriganter Idioten war, was ich durch Erfahrung nur bestätigen konnte.
Ich schaute genauer hin, und tatsächlich: Da saß er, lässig auf einem Stuhl, Beth Lopez vor ihm, die Beine übergeschlagen und ihre Schuluniform gefährlich kurz. Ich fragte mich, ob sie sich wirklich jeden Morgen die Mühe machte, die Haare mit dem Lockenstab zu bearbeiten. Die Haare sahen schön aus, keine Frage. Auch ihr Make-Up saß perfekt und schmückte ihr Gesicht kunstvoll. Aber es war... zu schön. Zu perfekt. Deplatziert. Wie ein Hollywoodstar auf dem Dorfanger. Aber so war sie nicht immer gewesen. Sie hatte aber auch eine merkwürdige Metamorphose durchlaufen, deren Hintergrund ich nie so richtig verstanden hatte.
Mich überkam ein Schwall Wut. Cooper würde mir alles kaputt machen. Die Theater-Gemeinschaft, die Proben. Wenn er Romeo werden würde, würde ich als Julia nach seinem Tod eher eine Endlich-Wieder-Single-Party veranstalten, anstatt mich für ihn umzubringen.
Ich konnte mich leider nicht zügeln und ging auf ihn zu. Immerhin veranstaltete ich das einigermaßen lässig. Blamieren würde ich mich hier sicher nicht. Ich stand nun direkt hinter ihm und hörte einen Teil ihres Gesprächs. Unwichtiges Gedöns über Autos. Beth nickte die ganze Zeit nur, als wüsste sie, was eine Zylinderkopfdichtung ist.
Ich räusperte mich. Jacob drehte sich auf seinem Stuhl um. Als er mich erkannte, verdrehte er genervt die Augen.
"Sorry Cloe, Jacob und ich unterhalten uns gerade über was Wichtiges.", zickte Beth mich an. Ich musste lachen.
"Du weißt doch noch nicht mal, wovon er redet.", gab ich unter Lachen zurück.
"Wir reden hier über Autos, nebenbei eines meiner Lieblingsthemen." Wieder musste ich lachen.
"Wenn du den Motor eines Autos starten kannst, hast du meine Erwartungen an dich bereits übertroffen." Beth sah mich fragend an. Schließlich schien sie zu bemerken, dass das gerade eine Beleidigung war. Dann drehte sie sich um und ging beleidigt weg.
"Was willst du, Williams?", fragte Jacob mich genervt.
"Das selbe könnte ich dich fragen. Seit wann stehst du auf Theater?"
"Hast recht, das ist eigentlich nur was für notdürftige Jungfrauen mit Aufmerksamkeitskomplex." Er blickte mich vielsagend an. Das ignorierte ich jetzt geflissentlich. Wie du weißt, bin ich nichts davon. Ich will nur meine Literatur-Note aufpolieren. Und ich bin jetzt dran. Also drück mir die Daumen." Er grinste und drehte sich um.
"Einen feuchten Dreck werde ich tun." Auch ich drehte mich um und ging weg. So eine Scheiße. Ich konnte nur hoffen, dass Jacob auf der Bühne genauso ein Arsch sein würde, wie sonst auch. Dann bekam er die Rolle nicht mal, wenn er der einzige Bewerber war.Nach gefühlt 2 Stunden (wahrscheinlich waren es eher 10 Minuten) war dann endlich das Casting der Julia und ihrer Amme. Ich bekam einen Panik-Anfall. Nicht etwa vor Lampenfieber, sondern weil Miranda, meine beste Freundin, Bewerberin für die Amme, meine Casting-Partnerin, eigentlich nur schnell 2 Kaffee am Automaten holen wollte. Vor dreißig Minuten. Panisch zückte ich mein Handy. Keine Nachricht. Ich rannte durch den Raum und rief nach ihr. Sie war nicht zu sehen. War sie etwa auf der Treppe ausgerutscht, oder was? Als ich fast auf die Tische stieg und nach ihr schreien wollte, tippte mir jemand auf die Schulter.
"Miranda, wo warst du? Wir sind gleich dran!", schrie ich ihr fast ins Gesicht.
"Beruhig dich. Die Milch war alle und ich musste in der Cafeteria Bescheid sagen." Ich sah sie mit erhobener Braue an.
"Gut, okay. Da war so ein süßer Typ und wir haben ein bisschen Small Talk gemacht. Kannst du mir das etwa verdenken?" Ich musste seufzen.
"Nein. Vielleicht ein bisschen. Ich hatte fast einen Herzinfarkt. Aber jetzt stell die Kaffeebecher weg und beweg deinen Hintern zum Vorhang."
Als Miranda und ich dran waren, gingen wir von der Seite aus auf die Bühne. Meine Hände waren schwitzig. Was, wenn ich versagte? Wenn ich den Text vergaß? Wenn ich stotterte oder mich verhaspelte? Ich wollte es mir eigentlich nicht vorstellen. Wir begrüßten die Lehrer mit einem "Hallo" und bekamen ein Gemurmel als Antwort. Sie sahen nicht so aus, als hätten sie bereits ihre Traumbesetzung.
Miranda und ich gingen in Position. Ich hatte unglaubliche Angst, zu versagen. Doch kaum begann ich, zu sprechen, war es, als würde alles ganz automatisch laufen. Mein Text, Mirandas Text, unsere Bewegungen. Wir kannten jede Geste, jedes Wort, als wären es unsere eigenen. Ich fühlte, warum ich die Dinge sagte, die ich sagte. Die Liebe, Verzweiflung und Hoffnung bewegten mich und ich musste nichts anderes tun, als sie einfach herauszulassen.Als schließlich der letzte Satz gesprochen wurde, atmete ich erleichtert aus. Von den Lehrern kam begeisterter Applaus. Mir stiegen fast die Tränen in die Augen, so froh war ich. Ich hatte es geschafft. Mum würde stolz auf mich sein. Dad vielleicht auch, wenn er sich denn mal melden würde. Dieses Gefühl der Erleichterung überkam mich wie eine Welle. Ich spürte sie in meinem gesamten Körper. Es war so intensiv. So hatte ich mich nicht mehr gefühlt, seit ich vor drei Jahren mit Mirandas Familie in den Bergen wandern war und ich mich verlaufen hatte. Nach 4 Stunden der Suche fand ich sie endlich - an genau derselben Stelle, an der ich sie verlassen hatte, um schnell ein Foto von der Aussicht zu machen.
Ein Gefühl unendlicher Erleichterung durchflutete mich auch dieses Mal. Glückseligkeit machte sich breit, so intensiv, dass ich kaum atmen konnte.
Und dann klappte ich zusammen, als hätten meine Knie nicht mehr die Kraft gehabt, meinen Körper zu halten. Ich spürte und sah, wie ich zu Boden viel. Und dann lag ich einfach da und starrte an die Decke. So hatte ich die Aula noch nie betrachtet. Ganz hübsch, diese Deckenbeleuchtung. Und der Stuck erst. Das musste noch aus dem Rokoko stammen.
"Oh Gott, Cloe, geht's dir gut?" Miranda setzte sich an meine Seite und beugte sich zu mir runter. Dasselbe fragte ich mich auch gerade.
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A Little Dream of You
RomanceDie 17-jährige Cloe müsste eigentlich glücklich sein. An ihrer High School gibt es nun eine Theater-AG und dann wird auch noch für ihr Lieblingsstück gecastet: Romeo und Julia - Das einzige, was ihr Vater dagelassen hatte, bevor er kurz vor ihrer Ge...