Es gibt so viele Dinge an diesem Abend, von denen ich mir gewünscht hätte, sie wären anders gelaufen. Nur diese eine Sache war passiert, die nicht dazuzählte: Jacobs Uhr hatte plötzlich gesummt und Jakes Reaktion hatte mich damit wieder aus den Tiefen meines Unterbewusstseins hervorgeholt.
Ich hatte mein Augenmerk von seinen Lippen gelöst und auf seine Uhr gesehen. Sie sah ganz normal aus, analog, aber wie ich später verstanden hatte, war sie mit seinem Handy verbunden.
"Das ist mein Alarm. Es ist elf. Ich muss los."
Ich hatte ihn nur völlig leer angestarrt, denn ich wusste nicht, wie ich auch hätte gucken sollen. Innerlich aber war da diese Blase aus Fragen und Gefühlen gewesen, die ich mich nicht getraut hatte, anzufassen. Vielleicht wäre sie dann geplatzt und ich wäre tränenüberströmt davongelaufen.
Mir kam es so vor, als wäre es Jake ganz ähnlich gegangen, so wie er geguckt hatte. Aber a) war ich immer noch eine grauenvolle Mimikleserin und b)... was wusste ich denn über Jacob? Mir kam es so vor, als würde ich zwei Versionen von ihm kennen - den High-School-Jake und den Privaten - und an diesem Abend, für wenige Sekunden, hatten sie sich überschnitten und jetzt wusste ich nicht, wer da vor mir gestanden hatte.
Oder gegangen war, denn genau das hatte er nach seiner minimalistischen Erklärung getan. Er war gegangen. Aber gut, hätte er noch mehr geredet, oder ich ihm geantwortet, wäre ich nicht nur verwirrt und kurz vorm Platzen, sondern vielleicht sogar plump, wirsch oder absolut unpassend gewesen."Cloe!", sagte Miranda gereizt. "Du tust es schon wieder."
"Was?", fragte ich und sah sie an. Während sie nach gestern Abend total frisch und absolut bereit für alle Abenteuer war, fühlte ich mich grässlich und müde.
"Na du starrst wieder die Luft an und beißt in deinen Daumen."
Automatisch nahm ich meine Fingerkuppe aus dem Mund und sah sie reuevoll an. "Sorry..."
"Wieso sorry? Ich will nur nicht zu spät zum Spiel kommen."
Es war ein grausamer Fehler gewesen, Miranda von Jacobs Polospiel - zu dem ich versprochen hatte zu kommen - zu erzählen. Jetzt konnte ich mich nicht mehr drücken. Und es riss meine verdrängten Gedanken über unseren Tanz immer wieder zurück, sodass sich mein Herz zusammenzog. Sein Spiel heute war der Grund gewesen, weshalb er früher gegangen war.
Wenn ich ihn letzte Woche nicht schon wegen meiner Familienprobleme am Schlaf und somit an einem Sieg gehindert hätte, dann hätte er gestern vielleicht länger machen können, was heißt, dass er sich keinen Alarm gestellt hätte und damit hatte ich mir ja praktisch selbst den Arsch gerettet. Oder Mum? Oh Gott, was sollte ich denn tun, wenn ich da auf der Tribüne saß und ihm zusah? Was sollte ich danach machen? Gehen? Ihn grüßen mit dem Gewissen, dass wir uns gestern fast...?
"Ach scheiße!", sagte ich und pfefferte meine Socke in die nächste Ecke.
"Was?", fragte Miranda und sah mich mit hochgezogener Braue an. Nervös starrte ich auf die Tür, die einen Spalt breit geöffnet war. Wie, als hätte sie meine Gedanken gelesen, griff sie nach dem Knauf und schloss die Tür leise - mochte ja sein, dass Mum und ich uns vertragen hatten, aber DASS hier musste sie ja nicht unbedingt hören.
Miranda kam zu mir herüber und setzte sich neben mich.
"Was ist?", fragte sie, jetzt etwas besorgter.
Ich strich mir nervös die Haare hinter die Ohren. "Jake und ich, wir haben gestern getanzt. Auf dem Dach."
"Ach DA warst du also. Ich hab mir schon gedacht, dass du dich nicht 20 Minuten frisch machst. Und Jake war auch da?"
Ich nickte. "Wir haben getanzt und... ich weiß nicht, dann standen wir einfach da und wäre sein Alarm nicht gewesen dann hätte ich..."
"Was hättest du?" Obwohl Miranda noch besorgt klang, schwang da noch ein Hauch Neugier... oder Vorahnung?...
"Ihn geküsst." Ich seufzte schwer, jetzt wo es raus war. "Hätte seine Uhr ihn nicht erinnert, hätte ich ihn geküsst."
Mirandas etwa 100 verschiedene, nacheinander folgende Gesichtausdrücke waren wirklich nicht schwer zu deuten. Erst riss sie ihre Augen auf, dann ihren Mund, dann versuchte sie ein Grinsen hinter ihrer Hand zu verstecken und dann schien ihr die Bedeutung dessen klarzuwerden, sodass sie mich mitleidig betrachtete. Schließlich biss sie sich auf die Unterlippe und schien zu hoffen, dass ich dazu noch etwas sagte.
Schließlich begang ich den Fehler, meine Gedankenblase anzufassen auf der Suche nach einer Antwort, sodass mir all meine Eindrücke des Vorabend entgegenschwappten und nur noch eine Frage blieb.
"Was zur Hölle soll ich jetzt machen? Was sage ich Ian?"
"Gar nichts! Du hast ihn doch nicht geküsst."
"Aber ich wollte es.", stöhnte ich und ließ mein Gesicht in meine Hände sinken. "Und ich weiß nicht mal, warum. Und Ian... Oh Gott, was bin ich für ein Mensch? Was für eine FREUNDIN? Kaum geht er, mach ich mich an einen Anderen ran? Und dann auch noch an Jacob? Er wird mich hassen.", schluchzte ich.
"Na hör mal. Er ist ja auch nicht so ein Unschuldslamm.", maulte Miranda.
"Ja, aber da hat Christina ja auch IHN geküsst, nicht umgedreht, oder?"
Miranda schwieg, ich sah sie an.
"Oder?"
Meine beste Freundin biss sich auf die Lippe.
"Miranda, bitte sag mir, wenn was ist..."
Sie seufzte.
"MIRANDA!" Langsam wurde ich ungeduldig.
"Ist ja gut... Also wir sind uns nicht sicher, warum genau, aber mit Ian stimmt etwas nicht."
Ich sah sie verwirrt an. "Meinst du, ihm geht es nicht gut?"
"Was? Nein. Ich glaube viel mehr, dass er was im Schilde führt."
"Bitte was?" Ich lachte herzlos. "Niemals. Ian ist viel zu weichherzig..."
"Siehst du? Und genau deswegen wollte ich dir nichts sagen. Du bist voreingenommen..."
"Na dann sag mir mal, warum du glaubst, Ian wäre ein böser Bube."
Miranda sah weg. Sie schien mit sich zu ringen. Schließlich seufzte sie und sah mich wieder an. "Letzte Woche, als ich dir erzählt habe, dass mit Christina was nicht stimmt... Naja, also es war so:
Christina und ich wollten zur Cafeteria, aber da meinte sie, sie hätte noch so ein komisches Schülergespräch..."
Ich erinnerte mich, dass Ian genau das selbe gesagt hatte. Er war schließlich Vertrauensschüler. Wie Christina.
"Und dann ist sie in die eine und ich in die andere Richtung verschwunden. Aber dann ist mir aufgefallen, dass ich dann allein gewesen wäre und sorry, aber ich wollte da nicht mit dir sitzen. Also bin ich umgedreht und Christina hinterher und dann war ich im Raum für die Streitschlichter und als ich mich umgesehen habe, standen die beiden da. Christina an die Wand gelehnt und Ian vor ihr und die beide haben sich geküsst. Leidenschaftlich."
Mir entglitten die Gesichtszüge. Mein Herzschlag setzte für eine Sekunde aus. "WAS? Du hast mir gesagt, sie hätte ihn geküsst."
"Ich weiß. Aber auch nur, weil die beiden das gesagt haben und ich dachte mir, wenn das nicht wahr wäre, hätte Christina es abgestritten. Außer..."
"Außer was?", piepste ich. Mir war die Luft ausgegangen.
"Naja, außer, deine Beziehung mit Ian wäre wichtiger als die Wahrheit."
"Wie meinst du das? Natürlich ist mir die Beziehung mit Ian wichtig."
"Weil du in ihn verliebt bist.", sagte sie, lächelte milde und legte ihre Hand auf meine. "Aber dieser Kuss zwischen den beiden sah mir nicht uneinvernehmlich aus und das hat mich eben stutzen lassen. So, wie die Tatsache, dass keine zwei Kinder aufgetaucht sind, die es zu schlichten galt, also beide über ihr Vorhaben gelogen haben müssen."
Ich starrte die Wand an, während die Gedanken nur so vor meinem inneren Auge vorbeiflogen.
"Was ist, Cloe?"
Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir etwas. "Es könnte also sein, dass Ian mich betrügt? Nach nur 2 Wochen Beziehung? Warum macht er dann nicht einfach Schluss? Das wäre doch albern."
"Genau das ist der Knackpunkt. Ich vermute, dass er daraus irgendeinen Vorteil schließt."
"Wofür sollte er mich denn brauchen?"
"Das versuchen Mark und ich rauszufinden."
Ich nickte, mehr konnte ich nicht tun, als zu nicken.
"Was geht dir durch den Kopf?"
"Du meinst abgesehen davon, dass Ian mich angelogen hat?" Ich unterdrückte meine Tränen, schniefte einmal und setzte mich dann gerade hin. "Es ergibt Sinn, was du sagst. Ich hab es gesehen, aber nicht wahrgenommen. Wie er plötzlich zurückgekrochen kam am Sonntag, obwohl er mich den ganzen Samstag während der Probe hätte ansprechen können. Du weißt schon, er hat mich bei Abbygales Party stehen lassen. Irgendwann zwischen Samstag und Sonntag muss ihm also klargeworden sein, dass er mich braucht. Warum er mit Christina bei der Theaterfahrt kurz verschwunden ist, hat sich ja jetzt auch geklärt. Ich frage mich, wobei er noch alles gelogen hat... Und wofür?"
Miranda knetete sich die Hände. "Mir ist schon die ganze Zeit aufgefallen, wie sehr Ian Jacob hasst und dass du ihm theoretisch sehr gelegen gekommen sein könntest, um Jake zu manipulieren. Schließlich hängt von seiner Leistung beim Theater seine Note bei Ferguson ab."
"Du meinst, Ian wollte mich dazu bringen, für Jakes Rausschmiss zu sorgen? Für eine einzige Note auf dem Zeugnis?" Wenn ich so recht darüber nachdachte, hätte das auch funktioniert, wenn Jake nicht mit einem Deal vor meiner Haustür gestanden hätte.
"Naja, das ist das letzte Schuljahr. Jake wird sich nicht bei einer 08-15-Uni bewerben wollen."
"Dieses Arschloch." Wütend stand ich auf.
"Du bist nicht traurig wegen Ian?", fragte Miranda vorsichtig.
Ich sah sie an. "Nein. Traurig bin ich, weil es diese Version von Ian, die er mir vorgespielt hat, nicht gibt. Aber hauptsächlich bin ich wütend. Auf mich, weil ich darauf reingefallen bin und auf Ian, weil er eine manipulative Kakerlake ist."
Miranda entwich ein kleines Lächeln.
"Ich frage mich nur, was er vorhat. Wie viel Einfluss Jacob und ich aufeinander haben, muss ihm am Samstag nach der Party klargeworden sein, als wir uns gegenseitig fertig gemacht haben. Und dann kam er zurückgekrochen. Und während wir beide dachten, wir wären alle Freunde - vielleicht von Ian und mir abgesehen, immerhin habe ich da mehr gesehen - haben die beiden ein Auge aufeinander geworfen oder was auch immer das war. Dann hat er mit ihr im Camp rumgemacht und wenige Stunden später hat er mir mein größtes Geheimnis entlockt und mich geküsst."
"Welches Geheimnis? DAS Geheimnis?"
"Von Olivia. Und meiner Wasserphobie..", murmelte ich und wurde kurz ruhig. In meinem Kopf dröhnte es.
"Augenblick mal." Miranda starrte nachdenklich in die Luft. "Ist es dir nicht auch komisch vorgekommen, dass ausgerechnet die drei Jungs aus Jacobs Zimmer dich ins Wasser gesetzt haben? Einfach so? Was ist, wenn Ian wusste, dass du Jacob beim Kanufahren von deiner Angst erzählt hast? Er hat es sich vielleicht schon gedacht, nachdem du es ihm selbst danach auch gesagt hast. Schließlich saßen du und Jacob in einem Kanu zusammen und sogar ich habe mitbekommen, dass ihr beiden geplaudert habt und er dich plötzlich nicht mehr angekeift hat."
"Worauf willst du hinaus?", fragte ich verwirrt.
"Als die Jungs dich auf deiner Matratze rausgetragen haben, war Christina zuerst wach. Ich wurde erst durch den Lärm wach, den sie am Steg gemacht hat. Ich kenne Chris und Dave schon lange und sie sind nicht schlau genug, um auf so einen fiesen Streich zu kommen."
"Du meinst also, Ian hat sie dazu gebracht? Sie vielleicht bestochen?"
"Vielleicht. Aber er hat wohl nicht damit gerrechnet, dass die drei im betrunkenen Zustand nicht zuverlässig sind und sich mit diesem Streich lieber selbst gebrüstet haben, anstatt ihn Jacob in die Schuhe zu schieben. Wäre das nicht passiert und wäre ich nicht wach geworden, dann wäre Christina die einzige Zeugin gewesen und ich wette zehn Pferde, sie hätte Jacob auch beschuldigt."
Langsam wurde mir etwas klar. "Du meinst also, Ian hat die Jungs dazu gebracht, mir den Streich zu spielen?"
Miranda nickte. "Christina war wach, bis sie in unserer Hütte waren und hat dann darauf gewartet, dass sie dich ins Wasser legen. Dann hat sie auf Jake gewartet, um da eine Show abzuziehen und ihn vor dir zu beschuldigen. Oder sie hätte, falls er nichts davon mitbekommen sollte und somit gar nicht vor Ort war, den Verdacht auf ihn lenken können. Von wegen, er hätte dein Geheimnis ausgeplaudert oder so... Sie wusste aber nichts von deiner Narkolepsie und somit nichts davon, dass du untergehen und Jacob dich rausziehen würde. Als dann Ian dazukam - er hat vielleicht auch gewartet - muss ihm spätestens nach seinem Vorwurf Jake gegenüber klargeworden sein, dass seine Anschuldigungen wirkungslos waren. Die Jungs haben die Schuld auf sich genommen und ich war Zeugin. Er hat es also schon einmal versucht."
"Oh Gott." In meinem Hirn materte es. "Welcher Wahnsinnige denkt sich etwas so Aufwändiges aus, nur um Rache an seinem Spielkastenfeind zu üben? Und wenn es anders gelaufen wäre... wenn es funktioniert hätte, dann hätte Ian Jake wirklich rausschmeißen können. Aber warum musste er dafür an mich ran? "
"Ich vermute einerseits, um herauszufinden, wie man dich besondes wütend und geladen macht, und andererseits, damit du im Zweifelsfalle IHM traust."
"Aber der Plan hat nicht funktioniert. Und seitdem hat er auch sonst nichts versucht. Also was will er jetzt? Und warum? Was ist sein Problem mit Jacob, dass er solche Maßnahmen ergreift."
"Zu letzterem muss ich dich leider enttäuschen. Ich habe Mark mein Ehrenwort gegeben, es nicht weiter zu sagen, also da musst du schon Jake selbst fragen. Und was Ian jetzt will, fragen wir uns auch."
"Und was mache ich jetzt?", fragte ich.
"Ganz einfach. Du tust so, als wüsstest du von nichts."
Ich sah Miranda entgeistert an. "Niemals!"
"Du MUSST aber, sonst sucht sich Ian einen anderen zum Ausnutzen und wir bleiben auf der Strecke."
Ich seufzte. "Na gut."
Miranda umarmte mich fest. "Ich bin so froh, dass du mir glaubst."
"Du bist meine beste Freundin.", nuschelte ich in ihre rote Mähne. "Und eine Schlaue noch dazu. Ich bin dir dankbar für deine Ehrlichkeit. Sonst würde ich diesem Penner immer noch wie ein dummes Schaf hinterherlatschen."
Miranda löste sich von mir.
"Aber schlecht gelaunt bin ich immer noch."
"Na da kommt uns ein Polospiel doch nur gelegen."
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A Little Dream of You
RomanceDie 17-jährige Cloe müsste eigentlich glücklich sein. An ihrer High School gibt es nun eine Theater-AG und dann wird auch noch für ihr Lieblingsstück gecastet: Romeo und Julia - Das einzige, was ihr Vater dagelassen hatte, bevor er kurz vor ihrer Ge...