Zu Hause

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Zuhause angekommen warf ich meine Tasche erschöpft in die Ecke. Das war eigentlich so gar nicht meine Art, aber was soll ich sagen: Beschissene Menschen verursachen beschissene Taten.
"Hi, Cloe. Lief das Casting nicht so gut? Hast du die Rolle nicht bekommen?" Meine Mutter kam auf mich zu, wie gewohnt in ihrem schwarzen Business-Kostüm und passenden Pumps. Ihr Gesicht warf zwar schon Falten, doch ihre Ausstrahlung zeugte noch von jugendlicher Frische. Mich überraschte, dass sie sich an das Casting erinnerte. Aber ich hatte sie damit auch unverhältnismäßig oft zugetextet, wenn sie mal zu Hause war. Natürlich verstand sie nicht die Bedeutung. Sie wusste, dass ich das Stück oft gelesen hatte, aber dass es von Dad war, hatte ich ihr immer verheimlicht.
Elizabeth Williams war das genaue Gegenteil einer Hausfrau. Sie hatte sich über die Jahre ein beachtliches Immobilienunternehmen aufgebaut. Meine Mum arbeitete hart für ihren Erfolg und war für ihren Ehrgeiz, insbesondere der größten Konkurrenzfirma Cooper Enterprises gegenüber, sehr bekannt. Daher rührte wahrscheinlich ein Teil ihres Hasses gegenüber dieser Familie. Wobei man Familie nicht wirklich sagen konnte. Immerhin waren Robert und Meridith Cooper geschieden. Laut Mum war es kein Wunder, dass die beiden 'schon nach einem Jahr Ehe schlappgemacht haben'. Umso komischer war dann die Tatsache, dass sie zusammen ein Unternehmen leiteten. Seit immerhin fast 18 Jahren.
Mum war wie besessen von ihrem Untergang. Viele Tage und Nächte hatte sie telefonierend und planend in ihrem Arbeitszimmer verbracht. Gerade bekam ich sie viel zu selten zu sehen.
"Nein Mum, ich habe die Rolle. Ich werde Julia spielen." Ich musste seufzen.
"Dann verstehe ich nicht, was das Problem ist. Ich dachte, du wolltest diese Rolle." Sie sah stirnrunzelnd von einer roten Akte auf. Offenbar schien sie wahrzunehmen, dass dieses Gespräch länger gehen könnte, als erwartet.
"Doch doch, ich wollte sie." Ich wollte ihr erst vom Jake-Desaster erzählen, aber dann sah ich ihr Gesicht. Sie sah total überarbeitet aus. Musste ich ihr wirklich auch noch erzählen, dass ihre Tochter mit dem Sohn ihres größten Konkurrenten einen auf Romeo und Julia machen sollte? Nein, das war zu viel für sie.
"Es ist alles in Ordnung. Ich bin einfach total übermüdet." Und das war gar nicht mal so weit hergeholt. Die Züge meiner Mutter erhellten sich etwas.
"Okay.", sagte sie, dann beugte sie sich wieder über die rote Akte.
Ich schnappte mir meine Tasche wieder und wollte nach oben gehen.
"Soll ich ihnen eine heiße Schokolade bringen?", fragte mich Mr Murphy.
Ich drehte mich überrascht um. "Das wäre toll.", sagte ich und lächelte matt. Mr Murphy war unser Butler, wobei er schon so lange für meine Familie arbeitete, dass er fast dazugehörte. Mein Urgroßvater war zuerst in unser großes Anwesen in Mayfair, London gezogen. Seitdem hatten die Nachkommen es samt Personal geerbt. Mr Murphy war praktisch in unserem Haus aufgewachsen und ging schon auf die 60 zu. Mum redete ihm schon lange ein, er solle doch ruhig in (gut bezahlte) Rente gehen, doch Mr Murphy antwortete dann stets: "Ich wurde in diesem Haus geboren und ich strebe an, hier meine letzten Tage zu verbringen." Das war irgendwie süß und gruselig zugleich. Ich wollte nicht erleben, wie Mr Murphy vor mir dahinsiechte, dafür war er viel zu treuherzig und liebenswürdig.
Ich ging unsere große Treppe hinauf, dabei lief ich an Unmengen von alten Bildern und anderen Antiquitäten vorbei. Meine Urgroßmutter hatte ein Faible dafür gehabt, wobei sie jetzt nicht so eine Art Ramschsammlerin gewesen war. Jedes Teil hier hatte mindestens einen Wert im 4-stelligen Bereich. Mum sah es als Absicherung für uns, wobei ich mir nicht direkt Sorgen machte, unser letztes Hemd verkaufen zu müssen.
Ich ging an einem Bild mit einem gruseligen Typen mit dunklen Augen vorbei, vor dem ich mich schon immer gefürchtet hatte. Hier verschnellerte ich meine Schritte immer. Hinter der Treppe bog ich rechts ab. Glücklicherweise waren unsere Wände hell gestrichen und mit altem, goldfarbenem Stuck dekoriert, weswegen der erhellende Effekt der hohen Fenster verstärkt wurde. Ich liebte dieses Haus. Wie viel hatte ich hier schon erlebt und wie viele Geheimnisse meiner Vorfahren waren noch unentdeckt geblieben? Nur leider war es viel zu groß für so wenige Menschen. Meine Urgroßteltern hatten 7 Kinder, doch nur eines, meine Grandma, war in diesem Gebäude geblieben.
Mein Dad war nicht da. Ich hatte Mum schon hunderte Male interviewt, doch sie sagte immer nur, er wäre gegangen. Nicht weggelaufen, nicht tot, er war nur einfach nicht mehr da.
Jetzt war die Familie Williams auf 2 Mitglieder plus Butler und Haushälterin geschrumpft.
Die erste linke Tür rechts neben der Treppe ging zu meinem Zimmer. Ich hatte Glück, denn direkt daneben war ein Speiseaufzug, mit dem Miranda und ich vor Jahren immer wieder gespielt hatten, auch wenn Mum es uns verboten hatte. Die Gefahr macht aber ja bekanntlich den Reiz.
Ich öffnete meine Tür und betrat mein Zimmer. Ich hatte jetzt nicht direkt einen Ordnungsfimmel, aber eine gewisse Reinheit war mir immer gern. Da wir so übermäßig viel Platz hatten, standen mir gleich 3 Räume zu Verfügung. Mein Schlafzimmer, einen viel zu großen Umkleideraum und ein Bad.
In unserem Stockwerk gab es noch die Zimmer meiner Mum auf der anderen Seite der Treppe, zwei Gästezimmer, ein Musikzimmer, eine Art Wohnzimmer und das Lesezimmer. Im Stockwerk über uns war eine Bibliothek und Mr Murphys Räume. In diesem Haus konnte man wirklich untergehen.
Unten gab es die Eingangshalle, die große Küche, einen weiteren Aufenthaltsraum, der einem Wohn- und Lesezimmer ähnelte, außerdem noch ein "Zigarrenzimmer", wie Mum es nannte und einen Waschraum.
Ich hatte mir mein Zimmer selbst einrichten dürfen. Nur das Himmelbett war noch ein original aus alten Zeiten, natürlich mit einer neuen Matratze und etwas restauriert. Es hatte irgendwie Charme. Vor einem meiner Fenster hatte ich eine breite, mit roséfarbenem Stoff bezogene Sitzbank platziert, auf der man lesen oder auf den kleinen Garten gucken konnte. Dann gab es noch eine gemütliche Sitzecke, meinen Schreibtisch in einer anderen Ecke, eine helle Kommode, ein Bücherregal und ein Regal mit Boxen, in dem ich Schulzeug und jede Menge anderen Kram aufbewahrte. Mein Boden war mit Eichenholzdielen belegt, was dem ganzen einen einladend hellen Charme verlieh. Ich ließ mich auf einen Diwan in der Sitzecke, mein Lieblingsort neben dem Bett, fallen.
Ich musste kurz eingenickt sein, denn es klopfte plötzlich an der Tür.
"Herein", rief ich etwas verschlafen. Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr ich mich nach einem heißen, zuckrigen Getränk sehnte. Mr Murphy kam ein Stück zur Tür herein und sah mich durch seine braunen, wachsamen Augen an.
"Miss McAdams wünscht sie zu sprechen. Und hier ist eine heiße Schokolade von Mrs Graham. Ich habe mir die Freiheit genommen, für ihren Besuch gleich auch eine zu holen."
"Jaja, Murphy. Sie sind super.", sagte Miranda und drängelte sich an Mr Murphy vorbei. "Sie dürfen sich übrigens immer noch die Freiheit nehmen, mich beim Vornamen zu nennen. Schließlich kenne ich sie ja schon ein paar Jährchen." Miranda nahm ihm die Tassen voll mit heißem Glück vom Silbertablett und bedankte sich bei Mr Murphy. Der verbeugte sich leicht, drehte sich um und schloss die Tür.
"Gott, manchmal nimmt er seinen Job wirklich zu Ernst. Als ob ich ich einen Adelstitel hätte. Nicht, dass es nicht manchmal echt komfortabel ist, einen Butler zu haben..." Miranda und ich kicherten ein wenig. Ich setzte mich nun endgültig auf und machte meiner Freundin Platz. Sie hielt mir eine Tasse unter die Nase, dann sah sie in ihre eigene.
"Oh mein Gott, sind da etwa Mini-Marshmallows drin? Cloe, du lebst am besten Ort Londons.", schwärmte sie.
"Warte ab, bist du sie probiert hast. Die ist besser, als ihre Pancakes." Unsere Haushälterin, Mrs Graham, hatte uns früher schon immer Pancakes gemacht, wenn wir nur ein bisschen mit den Kulleraugen geklimpert hatten. Allgemein konnte sie einem wenig abschlagen. Sie wusste einfach, wie man Kinderherzen (und auch die von Jugendlichen) glücklich machte.
Miranda nahm vorsichtig einen Schluck. "Ach du heilige... Hat diese Frau eigentlich schon mal daran gedacht, ein Kochbuch zu schreiben oder eine eigene Sendung zu machen? Das Zeug macht süchtig." Nach einiger Zeit des Schlürfens und freudigen Summens stellte Miranda ihre Tasse weg und drehte sich zu mir.
"Hör mal, Cloe. Ich weiß, Jacob ist nicht gerade dein Liebligsthema, aber du musst da jetzt irgendwie durch."
Ich war gerade mal abgelenkt von diesem Theater-Mist, da musste Miranda natürlich wieder damit anfangen.
"Es hilft nichts, wenn du dich nicht damit beschäftigst. Deswegen habe ich mir ja auch einen Schlachtplan überlegt." Ich wurde hellhörig.
"Dafür muss ich aber von dir wissen, was eigentlich dein konkretes Problem mit ihm ist. Ich kenne dich jetzt schon seit wir 4 Jahre alt sind und hab dich ihm gegenüber immer so... ablehnend erlebt. Du hast mir nie gesagt, warum genau." Diese Frage überraschte micht etwas. Ich öffnete den Mund um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder. Dann begann ich mit meiner Antwort.
"Naja, also ich habe ihn immer für ein arrogantes Arschloch gehalten. Er hat sich nie Mühe gegeben, meine These zu widerlegen. Er nutzt jede Gelegenheit aus, mich bloßzustellen oder auszulachen. Er schiebt mir manchmal sogar Dinge in die Schuhe, die ich nicht getan habe. Vor zwei Jahren hat er was an den Naturwissenschaftstrakt gesprayed. Ich bin zufällig vorbeigekommen. Jacob hat mir eine Dose in die Hand gedrückt und er und sein Busenfreund Mike wollten sich über mich lustig machen, aber ich hab sie weggestellt, weil sie voller Farbe war. In dem Moment kam ein Lehrer um die Ecke die beiden haben sich schnell vom Acker gemacht."
"Das hast du mir nie erzählt.", meinte Miranda ein wenig beleidigt. Immerhin war sie meine beste Freundin.
"Ja, das war in den zwei Wochen, in denen du mit deiner Mum auf Kur warst. Außerdem hatte ich eher damit zu tun, dir von der anderen Missetat zu erzählen, die dieser Penner verübt hat."
Miranda begann zu lachen. "Ja stimmt, wer hätte gedacht, dass er so schlecht tanzen kann. Aber immerhin war die Sportstunde schon fast vorbei, als ihr einander zugeteilt wurdet." Sie musste wieder lachen.
Ich schmollte. "Er ist mir bestimmt fünf mal auf die Füße getreten. Und entschuldigt hat er sich auch nicht. Er hat mich sogar ausgelacht und mich behandelt, wie einen stinkenden Kuhmisthaufen, den er da halten soll." Doch lange hielt ich meine miese Stimmung nicht aufrecht, denn Mirandas Lachen war viel zu ansteckend. Überhaupt hatte sie das schönste Lachen, das ich kannte. Denn dann bildeten sich Grübchen auf ihrer blassen Haut und ihre roten Locken begannen auf und ab zu hüpfen. Bei ihrem ehrlichen Gelächter musste man einfach einsteigen.
Plötzlich erlosch ihr Lachen. Sie sah mich ernst an. "Weißt du, Mum hatte zu Hause noch ein Buch über Kindererziehung stehen und ich hab da mal reingeschnuppert." Ich sah Miranda verständnislos und ein bisschen verwirrt an. "Ich dachte mir, Jacob ist ja nicht gerade der erwachsene Typ. Jedenfalls nicht, was sein Benehmen betrifft, wenn du verstehst, was ich meine."
"Wenn wir jetzt über Jacob Coopers Sexleben reden, bringe ich mich um." So weit kam es gerade noch.
"Ach nein, das war nur ein Witz, Cloe. Du darfst nicht immer alles so ernst nehmen. Also, was ich eigentlich sagen wollte: Der Autor, so ein interlektueller Vollprofi mit etlichen Doktortiteln, ist der Überzeugung, dass man so eine Art Zuckerbrot-und-Peitsche-Methode verwenden sollte." Ich sah Miranda mit einem großen 'Häh' im Gesicht an.
Sie fuhr fort. "Das heißt, wenn er nett bist, bist du nett oder mindestens neutral zu ihm. Also gibst du ihm praktisch Zuckerbrot, damit er keinen Grund hat, dich für dein schlechtes Verhalten mit Beleidigungen oder anderen Scheiß-Aktionen zu bestrafen."
"Aber was ist, wenn er direkt mit so einer Arsch-Nummer kommt?" Dann würde ich definitiv nicht nett sein.
"Dann schwingst du deine metaphorische Peitsche und tötest ihn mit Blicken." Ich musste grinsen. Das gefiel mir schon eher.
"Ich weiß, es macht dir irgendwie Spaß, ihn zu hassen, aber... naja..." Miranda kam ins stocken.
"Naja was?"
"Also, vielleicht solltest du ihm... eine Chance geben.", sagte sie vorsichtig. Bei dem Gedanken, zu Jacob nett zu sein, wurde mir schon fast übel. Ich verzog das Gesicht.
"Bitte sei mir dafür nicht böse, du sollst ihm nicht übers Haar streicheln und Annoncen machen. Sei einfach weniger... bissig." Ich schwieg kurz, dann sah ich sie an.
"Wie könnte ich dir für deine Hilfe böse sein? Auch wenn ich das mit den Annoncen gerne aus meinem Kopfkino verbannen würde." Miranda grinste mich wieder an, dann umarmten wir uns fest.
Als wir uns voneinader lösten, sah sie auf ihre Uhr.
"Oh verdammt!" Sie sprang auf. "Ich muss sofort los, sonst bringt Mum mich um. Wir wollten uns zusammen noch einen Film ansehen." Ich stand rasch auf und lief mit ihr nach unten. Miranda schlüpfte schnell in ihren dunkelgrünen Regenmantel, der ganz hervorragend zu ihren roten Haaren passte und ihre zierliche Gestalt umschmeichelte. Hastig umarmte sie mich. "Du schaffst das.", flüsterte sie mir noch zu. Dann verschwand meine beste Freundin mit einem "Bye" im strömenden Regen.
Ich war wieder allein.

A Little Dream of YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt