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Es war acht Uhr morgens, als ich durch unsere Haustür trat um meine Schulsachen zu holen. Miranda wollte vor der Tür warten, falls es tatsächlich zum Gespräch mit Mum kam.
Mr Murphy müsste eigentlich schon wach sein und Mrs Graham Frühstück machen, doch ich hörte weder aus der Küche, noch sonst irgendwoher Stimmen. Vielleicht hatten die beiden ja frei heute.
Schnell flitzte ich nach oben, um meine Schulsachen in die Tasche zu stopfen. Dann schlüpfte ich in meine Schuluniform und ging wieder nach unten. Am Fuß der Treppe angekommen nahm ich eine Bewegung im Augenwinkel war.
"Ich fand schon immer, dass dieses Grün dir steht.", murmelte Mum leise. Sie lehnte am Türrahmen der Küche.
Sie blickte auf meine Uniform, die irgendwo zwischen dunkelblau und grün gefärbt war. Mum sah unglaublich müde aus. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe, ihr Teint war fahl, ihr Blick matt. Erschöpft hatte ich sie schon oft gesehen, aber nie so schwach.
Mit einem Mal war sie den Tränen nahe. Weil ich das von ihr nicht kannte und nicht wusste, was zu tun war, ging ich sporadisch einen Schritt vor, doch da kam Mum schon auf mich zu und umarmte mich.
Während sie in mein Haar schluchzte, erwiederte ich ihre Umarmung und sagte einfach gar nichts. Mir wäre auch nichts eingefallen.
"Ich mache immer alles kaputt. Es tut mir Leid.", schluchzte sie. Ich hatte viel erwartet - dass sie mich rauswarf, wir lauthals diskutierten bis hin zur Möglichkeit, dass sie gar nicht da war - doch nicht, dass sie sich ohne Weiteres entschuldigte.

Und weil ich den Eindruck hatte, dass es ihr tatsächlich leidtat, entschied ich mich dazu, ihr zu verzeihen. "Es ist okay."
Später würde Miranda mich volltexten, dass ich Menschen viel zu leicht verzieh.
"Nein, nichts ist okay.", sagte Mum, löste sich von mir und wischte sich über ihr Gesicht. "Ich bin deine Mutter und ich hätte das nicht sagen dürfen. Ihr hättet mir von all dem nicht erzählen müssen, aber ihr habt mir trotz allem vertraut und es getan.
Ich hasse Robert, ja. Aber ich hatte nicht den Mumm, dir die Wahrheit über deinen Vater selbst zu erzählen und ich hab nicht gemerkt, wie ich das Vertrauen zwischen uns kaputt gemacht habe. Ich verspreche dir, ich werde mein bestes geben, es für dich so einfach wie nur möglich zu machen und dir zu vertrauen, wenn es um deinen Vater geht. Und, naja..." Sie schniefte. "Ich würde mich freuen, wenn du auch mir wieder vertrauen könntest."
Ich schluckte schwer. Sie hatte recht, unser gegenseitiges Vertrauen war bisher für die Tonne gewesen und das ließ sich nicht mehr so leicht kitten, aber mit ihrer Entschuldigung eben war sie einen riesigen Schritt gegangen und ich fühlte mich verpflichtet, es zumindest auch zu versuchen.
Ich biss mir nervös auf die Unterlippe. "Wenn wir schon beim Thema Wahrheit sind. Ich habe einen Freund.", sagte ich also wartete gespannt auf Mums Reaktion.
"Ehrlich?", fragte Mum und anhand ihres Lächelns konnte ich sehen, dass sie das positiv meinte. "Ich freu mich so für dich."
Wieder umarmte sie mich und schluchzte erneut und das steckte mich so an, dass ich vor Erleichterung auch weinen musste und schließlich standen wir da, zwei Williams-Mädchen und weinten erleichtert vor uns hin.

Irgendwann ging Mum ein Stück zurück und nahm mich an den Schultern. "Wie heißt er denn?"
"Ian.", antwortete ich und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Mum seufzte. "Meine kleine Cloe." Wieder bebte ihre Unterlippe.
"Mu-um. Ist ja gut."
Endlich riss sie sich zusammen und richtete sich ein wenig.
"Gut, dann will ich ihn auch mal kennenlernen, diesen Ian."
"Freitag ist der Benefizball, da holt er mich ab."
"Ein Ball? Das erinnert mich an früher.", sagte Mum und starrte nostalgisch an mir vorbei.
Ich sah auf meine Uhr und bekam fast einen Herzinfarkt.
"Mum, ich muss los."
Sie kriegte sich wieder ein und gab mir einen Kuss auf die Wange. "Viel Spaß in der Schule.", rief sie mir hinterher, dann verschwand ich durch die Tür.
"Himmelherrgott, Cloe. Du siehst aus, als hättest du eine zweite Themse geweint.", sagte Miranda, als ich aus der Tür trat und wir zur U-Bahn-Station gingen.
Ich zog mein Handy aus der Jackentasche und überprüfte mein Aussehen in der Reflektion des Bildschirms. Wohlweislich war ich eine Verwenderin wasserfester Mascaras, deswegen sah ich nicht aus, wie ein Panda. Aber den Concealer sollte ich vielleicht lieber auffrischen.
In der U-Bahn setzten wir uns auf einen vierer, der vorne und hinten von Plexiglaswänden umringt war, daher konnte nur ein merkwürdiger Typ auf der anderen Seite des Ganges mich beim Schminken beobachten.
Sicherheitshalber tupfte ich noch etwas Concealer auf den blauen Fleck am Kiefer. Dann legte ich mein Handy zurück in die Tasche und steckte den Abdeckstift weg.

A Little Dream of YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt