Eine Untersuchung ... oder Julias Gefühlschaos

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Gott sei Dank war ich nicht in mein eigenes Erbrochenes gefallen. Das wäre noch das Sahnehäubchen auf der Torte gewesen.
Aber da ich dem halbverdauten Frühstück elegant - gut, nicht ganz so elegant - ausgewichen war, nahm ich es mir vor, noch ein wenig auf dem Rasen zu verweilen.
Das lag vielleicht auch daran, dass ich mich gar nicht bewegen konnte. Aus irgendeinem Grund war mir das gerade egal. Interessant war nur, dass Jacob, ausgerechnet JACOB, mir die Augen geöffnet hatte. Ich war ein egoistisches Miststück und feige noch dazu.
Kurz kam mir der Gedanke, ihm dankbar für seine Offenbarung zu sein, doch den Gedanken verwarf ich. Überhaupt alle Gedanken an Jacob Cooper wollte ich verwerfen.
Es waren wahrscheinlich nur wenige Sekunden vergangen, da hörte und spürte ich kleine, polternde Erschütterungen durch den Boden. Erst dachte ich, ich hätte einen Maulwurf bei der Arbeit gestört, dann wurde mir klar, dass das dann doch sehr weit hergeholt war. Unfähig, mich umzusehen, wartete ich einfach gespannt, was das war. Oder eher gesagt, wer. Denn jemand kam angerannt und hatte sich über mich gebäugt.
Es war Ian, alias Früher-noch-Beatle-Frisur alias Heute-Sunnyboy.
Er fragte mich, ob ich ihn hören konnte. Natürlich konnte ich das, und antworten eigentlich auch, nur überraschte es mich mal wieder so sehr, wie gut er aussah, dass ich keinen Pieps von mir gab.
Schließlich klatschte er dann gegen meine Wange, was wahrscheinlich ein aufpeppelndes Tätscheln sein sollte, aber haarscharf an eine Schelle grenzte.
"Aah!", rief ich und richtete mich abrupt auf. Damit hatte Ian wohl nicht gerechnet, also verpasste ich ihm - versehentlich, ich schwöre es - eine Kopfnuss.
"Aah!", riefen wir jetzt beide, dann endete das ganze in einem sehr nervösen Kichern. Ich fragte mich, ob ich die Delle in meinem Schädel je wieder herausgedrückt bekam, er überlegte sich wahrscheinlich gerade eine gelungene Ausrede, um die Biege zu machen.
Doch, entgegen meiner Erwartungen, löste er seine hockende Position und setzte sich neben mich. Er lachte nicht mehr und hatte eine ernste Miene aufgesetzt.
"Geht es dir gut?", fragte er besorgt.
"Äh ja, nur ein kleiner Schwächeanfall." Ich strich mir nervös eine Strähne aus dem Gesicht. Oh Gott, ich musste furchbar aussehen, verheult. Als hätte er meine Gedanken gelesen - oder mir einfach ins Gesicht gesehen - reichte Ian mir wie aus dem nichts ein Taschentuch. Ich nahm es dankend ab und wischte mir über die Augen und sicherheitshalber auch noch einmal über den Mund.
Ian kramte in seiner Tasche und zückte einen Stift. Er drückte auf den Knopf, jedoch leuchtete das andere Ende daraufhin auf. Also doch kein Stift.
"Schau mal auf das Licht.", sagte er und drehte sanft meinen Kopf zu sich. Ich verkniff mir, zu sagen, dass das Licht echt wehtat, wenn man da so reinstarren musste, aber das war sowieso schnell wieder vorbei. Er legte den Stift, der kein Stift war, weg.
"Hast du Diabetes oder etwas in der Art?", fragte er.
"Nicht, das ich wüsste." Ich sah ihn verwirrt an. Untersuchte er mich etwa gerade?
Dann zückte Ian ein Gerät, das irgendwie einem Etikettendrucker ähnelte.
"Leg deinen Finger mal da rein und dann kommt eine kleine Nadel..."
"Mo-mo-mo-momentmal. Was wird das jetzt?" Ich zog meine Hände ganz schnell vom Gerät weg.
Ian lächelte mich beruhigend an. "Keine Angst, ich bin Schulsanitäter." Ich war immer noch skeptisch.
"Ah ja, deswegen führt man ja auch immer so ein... Nadeldings mit sich."
"Damit messe ich deinen Blutzucker. Schau hier. Die Nadel gibt dir nur einen kleinen Pieks, dann nehme ich mit diesem Papier das Blut auf und schiebe es hier rein. Das Gerät sagt mir den Wert."
Das klang ja alles schön und gut, nur war da ein Problem: Ich habe Angst vor Nadeln.
"Also das tut wirklich kaum weh. Mach dir keine Sorgen, du verblutest nicht."
Ich hätte jetzt einfach gehen können, blöd nur, dass ich wissen wollte, ob meine Ohnmachtsanfälle wirklich dem Blutzucker zuzuschreiben waren. Das war eigentlich meine Chance.
"Weißt du, ich und Nadeln, wir sind nicht so bei Du und Du." Ian schien zu verstehen, doch er lachte nicht über mich.
"Schau einfach weg, ich nehm deinen Finger." Erst war ich misstrauisch, aber dann nahm er einfach meinen Finger, sehr behutsam. Seine Hand war angenehm warm. Ich sah weg und spürte nur, wie er meinen Zeigefinger ganz vorsichtig in eine kleine Mulde legte und einen Knopf drückte, wodurch die Nadel in meinen Finger schoss. Es war nur ein kleiner Piekser, gar nicht schlimm. Den Gedanken an die Nadel hatte ich komplett verdrängt. Ich konnte wieder hinsehen und sah zu, wie Ian den kleinen Bluttropfen auf den Papierstreifen strich und diesen in das Gerät schob. Es piepte kurz.
"Also das Gerät sagt mir, dass mit deinem Blutzucker eigentlich alles in Ordnung ist."
Verdammt. Meine Blutzuckertheorie hatte seinen Höhenflug beendet - und war unsaft auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Dabei hätte ich mir das auch selber erklären können, nach meinem üppigen Frühstück.
"Fällt dir vielleicht ein anderer Grund ein?" Ich schüttelte den Kopf und rappelte mich auf. Ian sprang sofort hoch und half mir dabei. Oha, es gab also noch Gentlemen.
Mein Gleichgewichtssinn war wiederhergestellt.
"Warum hast du eigentlich geweint? Ich will mich ja nicht aufdrängen, aber ich habe nur mitbekommen, dass das was mit Cooper zu tun hat."
Ich nickte nur stumm, während ich mein Zeug zusammenkramte.
Ian fuhr fort. "Er ist ein echter Arsch, aber davon darf man sich nicht beeindrucken lassen. Ich hätte eigentlich gedacht, du hättest eine dicke Haut."
Ich schniefte etwas. "Er hat mir nun mal Dinge an den Kopf geworfen, die leider wahr sind. Das hat er dann in seinem Machopaket samt Schleife verpackt."
"Ich glaube, du musst mal an was anderes denken. Kommst du zu Abbygale heute?" Ian sah mich erwartungsvoll an.
"Hatte ich eigentlich vor, ja." Worauf wollte er hinaus?
"Na das ist doch wunderbar. Ich komme auch, Jacob ist da noch nie aufgekreuzt. Das ist doch die ideale Ablenkung für dich." Er strahlte mich an und irgendwie musste ich zurückstrahlen.
"Hörmal, ich werde hier eh nicht mehr gebraucht, deswegen würde ich gerne nach Hause und mich noch etwas ausruhen. Danke für deine... äh... Untersuchung." Damit drehte ich mich um und ging.
"Gute Besserung!", rief Ian mir noch hinterher. Ich winkte dankend, dann drehte auch er sich um und ging ins Hauptgebäude.

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