Die erste Probe... oder Romeo und Julia bei der Paartherapie

98 8 1
                                    

Ich zuckte erschrocken hoch. Als ich nach vorne sah, erzählte Mr Hunter gerade etwas über Agrarpolitik. Wie langweilig.
"Du bist eingeschlafen.", sagte Miranda etwas anklagend (oder eher überrascht?) zu mir. "Ist es gestern etwa so spät geworden?" Ich überlegte angestrengt, aber irgendwie konnte ich gerade keinen klaren Gedanken fassen. Mein Hirn war wie Pudding.
"Nein, eigentlich war ich um halb elf im Bett." Miranda runzelte die Stirn.
"Dann erkläre mir mal, warum du fast zehn Minuten vor dich hergedöst bist!" Ich sah erschrocken in Mirandas nun belustigtes Gesicht, dann auf die Uhr.
"Warum hast du mich nicht früher geweckt?" Wie konnte ich denn bitte einschlafen. Sooo langweilig war Agrarpolitik nun auch wieder nicht. Oder etwa doch?
"Ich dachte mir, ich lasse dich erstmal ein bisschen schlafen, wenn du so müde bist. Forscher haben herausgefunden, dass zehn Minuten die ideale Länge für Power-Napping sind. Außerdem ist der alte Hunter blind wie ein Maulwurf und schon ein bisschen senil. Jedenfalls, wenn man mich fragt."
Blöd nur, dass er so streng war. Manchmal bestrafte er Leute fürs Plaudern mit Strafarbeiten, obwohl diese die gesamte Stunde nicht einen Mucks von sich gegeben hatten.
Einmal hatte er die Zeichnung einer Rakete an der Tafel vom Montagsmaler für das Bild eines männlichen Geschlechtsteils gehalten. Als er den stellvertretenden Schulleiter gerufen hatte, hatte dieser ihm ebenfalls gesagt, dass Mr Hunter sich irrte. Der hatte dann murrend von sich gegeben, dass er sein Klassenzimmer nie wieder für Vertretungsstunden zu Verfügung stellen würde.
"Ein Wunder, dass der überhaupt noch arbeiten darf.", flüsterte uns jemand von der Seite zu. Es war Abbygale Wayfair. "Wenn ich hier das Sagen hätte, wäre er längst draußen."
Viele von Abbygales Sätzen begannen mit "Wenn ich hier das Sagen hätte..." Praktischerweise war dieser Satz recht flexibel einsetzbar. In Teenie-Clubs (wegen der Sperrstunden) regte sie sich über die Musik auf, in der Cafeteria über das Essen und manchmal kam sogar die ein oder andere politische Kritik über ihre Lippen.

Den Rest der Stunde grübelte ich darüber, wieso ich eingeschlafen war. Leider waren meine Überlegungen nicht sehr hilfreich.
In der achten Stunde stand Literatur mit Mr Ferguson auf dem Stundenplan. Da musste ich jetzt leider ohne Miranda durch, denn die hatte, klug wie sie war, Kunst bei Mrs Millerton gewählt und kassierte stets die Bestnote A, denn laut Mrs Millerton ist fast alles Kunst.
Mr Ferguson hatte da schon ganz andere Ansprüche. Manchmal hatte ich das Gefühl, ihm gefielen die Werke selber nicht. Er wählte nämlich selten Literatur aus der Klassik, wie ich es gerne gehabt hätte, sondern bevorzugte neuzeitliche Werke, die wirklich zum Eindösen waren. Daher stand ich bei ihm immer auf einer wackligen C-. Wenn wir heute wieder frühes 20. Jahrhundert machten, befürchtete ich, wieder einzuschlafen.
Doch entgegen meiner Erwartungen hatte Mr Ferguson eine Überraschung parat.
"Ab heute beschäftigen wir uns mit einem anderen Werk." Er holte aus seiner Tasche ein schon etwas abgewetztes und zerlesenes Taschenbuch mit lauter Klebezetteln heraus. "Romeo und Julia."
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich hatte tatsächlich Chancen auf eine bessere Note und würde zumindest heute sicher nicht einschlafen.
"Wie ihr sicher wisst, wird die Theater-AG dieses Stück dieses Jahr aufführen und ihr seid als Leistungskurs natürlich alle dazu verpflichtet, eine der Aufführungen anzusehen. Damit ihr zumindest eine Ahnung habt, worum es geht, behandeln wir dieses Buch jetzt." Wieder lagen viele Blicke, wie schon den ganzen Tag, auf mir. Die meisten waren belustigt, jedoch insbesondere die der Mädchen wütend bis eifersüchtig. Jacob war nämlich durchaus nicht unbeliebt. Unmengen von Mädchen himmelten ihn (ohne mein Verständnis) an. Da waren die Julia-Bewerberinnen, die die Rolle nicht bekommen hatten, gleich doppelt eifersüchtig. Wobei es da eigentlich keinen Grund zu gab. Würden sie in meiner Haut stecken, würde Jacob sie nämlich behandeln, wie den letzten Dreck (ich weise noch einmal dezent auf den Tanzvorfall hin).
Jacob war mir Gott sei dank nicht über den Weg gelaufen. Doch mein Dank würde nicht ewig wären. In weniger als einer Stunde war das Theatertreffen. Na Prost, Mahlzeit...
Mr Ferguson zeigte, was für ihn ungewöhnlich war, mehrere trailerhafte Zusammenfassungen von Aufführungen von Romeo und Julia. Hätte ich das Buch nicht gelesen, hätte ich aus den Fetzen nichts verstehen können. Das war wieder typisch Mr Ferguson.
"Wer kann den Plot zusammenfassen?", fragte er in die Runde. Sofort schnellten Hände in die Höhe. Klar, wer kannte denn nicht die berühmteste Liebesgeschichte aller Zeiten?
Abbygale neben mir wurde drangenommen. "Es geht um Romeo und Julia, und die beiden verlieben sich ineinander. Und am Ende sterben beide." Stolz auf ihr breit gefächertes Wissen drehte sie sich selbstzufrieden zu mir.
"Okay, kann da jemand noch mehr zu sagen?", hakte Mr Ferguson nach. Sofort gingen die meisten Hände wieder nach unten.
Mr Ferguson sah mich überrascht an. "Ja, Cloe?"
"Eigentlich geht es um die Familien Capulet und Montague, die seit Jahren eine Fehde zerspaltet. Romeo Montague und Julia Capulet verlieben sich also unter unglücklichen Umständen. Nach ihrer Verlobung bringt Romeo aus Trauer und Rache einen Capulet um und muss die Stadt verlassen. Julia will ihre Heirat mit Paris, ihrem von der Familie vorgesehenen Ehemann in Spee, verhindern und nimmt daher ein Gift, das sie 2 Tage tot aussehen lässt. Romeo weiß nicht, dass es ein Trick ist und vergiftet sich selbst. Julia wacht auf, sieht den toten Romeo und ersticht sich mit seinem Dolch. Aufgrund dieses Vorfalls versöhnen sich ihre Familien wieder."
"Und Ende..", gab Abbygale genervt von sich. "So kann man es natürlich auch ausdrücken."
"Exakt, Cloe. Umrahmt wird diese Geschichte vom Zerwürfnis zweier Familien und um deren Wiederversöhnung." Es klingelte leider zum Schulschluss.
"Bis übermorgen hätte ich gerne eine detailliertere schriftliche Zusammenfassung des ersten Aktes. In der Schulbibliothek gibt es mehrere Klassensätze des Werkes. Leiht euch bitte jeder eines aus. Und denkt dran: Nicht drin rummalen!"
Ich packte meine Sachen zusammen und verließ den Raum.
Als ich den Flur betrat, sah ich Mrs Millerton geradewegs vor mir und hechtete ihr hinterher.
"Mrs Millerton?" Sie drehte sich um und sah mich an. "Ich hätte da mal eine Frage."
Die Kunstlehrerin lächelte. "Hallo Cloe, schön dich zu sehen. Aber ich kann mir schon denken, was du mich fragen möchtest."
"Ja, wahrscheinlich." Nervös wippte ich auf und ab. "Sie wissen doch, dass Cooper und ich... nicht gerade gut aufeinander zu sprechen sind." Das war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts. "Wie können sie erwarten, dass ich da mein Bestes geben kann?"
Mrs Millerton lächelte mich wissend an. "Wie konnten Romeo und Julia bis zu deren Begegnung auch nur denken, dass ihre Familien sich näher kommen würden?" Ich sah sie verwundert an. "Du schaffst das schon. Sagst du den Anderen bitte, dass ich noch kurz meine Unterlagen aus dem Lehrerzimmer hole?" Ich nickte. Damit drehte sie sich um und ging weg.
Auf meinem Weg zur Probe grübelte ich über das nach, was sie gesagt hatte.
Als ich die Aula betrat, blickte ich in eine Masse aus Leuten, darunter Miranda und leider auch Jacob. Er lehnte dort in seiner Uniform und quatschte mit einem Mädchen aus meinem Chemie-Kurs. Sie war durchaus hübsch. Als Jacob mich bemerkte, kniff er verärgert die Augen zusammen. Dann widmete er sich schnell wieder dem Mädchen. Ich glaubte, ihr Name war Christina. Anders hätte ich es nicht erwartet. Am Stuhlkreis vor der Bühne angekommen sagte ich zu den Lehrern: "Mrs Millerton meinte, sie hohlt noch schnell was aus dem Lehrerzimmer." Mr Ferguson nickte mir dankend zu, dann wandte er sich wieder an den anderen Lehrer, Mr Halsey.
Miranda kam auf mich zu. "Hey, Schlafmütze. Wie lief Literatur?"
"Wir behandeln gerade Romeo und Julia. Ein Licht am Ende des Tunnels." Ich hob dramatisch meine Faust und Miranda begann zu lachen.
Schließlich kam auch Mrs Millerton und ich setzte mich neben meine beste Freundin in den Stuhlkreis. Das erinnerte mich ein bisschen an meine Zeit im Kindergarten, aber wenigstens konnte ich mir in Ruhe die Gruppe ansehen.
"Also, liebe neue Theater-AG. Ich würde gerne eine Vorstellungsrunde auf Wunsch von Mrs Millerton machen, aber die Zeit haben wir leider nicht. Hier ist unser Terminplan." Er reichte einen Stapel Zettel herum. "Wir haben ein sehr enges Zeitfenster bis zu den Aufführungen, wie ihr sehen könnt. In 3 Monaten soll das Stück hier auf der Bühne aufgeführt werden. Der Text ist bereits von uns angefertigt worden. Ihr seid etwas weniger Leute, als erwartet, daher werden ein oder zwei Nebendarsteller zwei Rollen spielen. Eine fertige Fassung könnt ihr euch gleich am Tisch dort abholen. Hier ist für die, die noch keine Rolle haben, eine Liste der Nebenrollen mit Kurzbeschreibungen." Er reichte einen weiteren Stapel Papier herum. Gerade erreichte mich der Terminplan. Oha. Der war wirklich eng.
Schließlich meldete Mrs Millerton sich zu Wort. "Und weil ich mir schon gedacht habe, dass es keine Vorstellungsrunde geben wird, habe ich Krepppapier und Filzstifte mitgebracht, damit jeder sich ein Namensschild auf die Brust kleben kann. Seht ihr, ich habe auch schon eins." Auf ihrem lila Cardigan prangte ein Streifen Krepppapier, auf dem in Großbuchstaben 'Mrs Millerton' zu lesen war. "Und wenn ihr schon eine Rolle habt, macht ihr euch einen zweiten Streifen mit dem Namen eurer Figur."
Ich bezweifelte zwar, dass jemand nach gestern nicht meinen Namen oder meine Rolle kannte, aber für mich waren die Namen der anderen durchaus hilfreich. Ich kannte fast niemanden hier.
Auch das Tape wurde herumgereicht. Ich schrieb in meiner schönsten Schrift 'Cloe' und 'Julia' auf zwei Streifen und klebte sie untereinander auf die Bluse meiner Schuluniform.
"In einem Monat wird das erste Mal mit Kostümen geprobt, die Mr Halsey in freiwilliger Arbeit mit seiner Frau anfertigt." Erst jetzt fiel mir auf, dass neben Mr Halsey eine Frau in den Vierzigern saß. Das war dann wohl Mrs Halsey. "Sie nehmen heute eure Maße. Bis die Kostüme fertig sind, kommt ihr bitte in schwarzer, neutraler Kleidung."
Schließlich bereiteten wir die erste Szene vor. Mrs Millerton und Mr Ferguson waren sich beide einig gewesen, mit den schwierigsten Szenen zu beginnen, um nicht zu sehr in Zeitnot zu geraten.
Während Mr und Mrs Halsey im Nebenraum die ersten Maße nahmen und die anderen Hauptrollen dort mit den Nebenrollen deren Besetzung diskutierten, sollten Jacob und ich uns einer Szene zwischen Romeo und Julia nach Romeos Verbannung widmen. Als ich mir die Szene durchlas, hätte ich mich über einen leichteren Einstieg gefreut.
Irgendwie herrschte gerade ein sehr, sehr unangenehme Stille im Raum. Ich räusperte mich. "Gut. Also wollen wir dann mal auf die Bühne." Jacob nickte nur und stand auf. Als ich mich zu Miranda umdrehte, bedeutete sie mir, Ruhe zu bewahren. Schließlich war er noch neutral mir gegenüber. Dann ging auch sie in den Nebenraum.
Vor dieser Szene hatte Romeo die Nacht bei Julia verbracht und er will die Fliege machen, sie will nicht, dass er geht.
"Vielleicht sollten wir die Bank als Markierung für das Fenster nehmen, vor dem wir stehen sollen." Ich zeigt auf eine Bank, die schon als ein Teil des Bühnenbilds von den Lehrern mitgebracht wurde. Sonst sah es auf der Bühne noch sehr spärlich aus.
Noch bevor wir das weiter diskutierten, stand Jacob schon fast hinter der Bank. Mann, war der Junge flott. Ich stellte mich mit dem Text in der Hand neben ihn und atmete einmal tief durch. Dann begann ich mit meinem ersten Satz.
"Willst du schon gehn? Der Tag ist ja noch fern..."
...
"Stopp", rief Mr Ferguson mitten im Dialog. Wie ich merkte, war Jacob zwar ein überraschend guter Schauspieler, aber sogar er musste merken, dass die Szene überhaupt nicht gut wirkte. Auch Mr Ferguson und Mrs Millerton war das aufgefallen. Er versank in seinen Händen und Wortfetzen wie "Gefühlslosigkeit" und "das wird nie was" kamen bei uns an. Mrs Millerton schien nicht mehr so überzeugt wie noch vor 20 Minuten. Das hätte ich ihr auch gleich sagen können.

"Robert!" Das war Mrs Millerton, offenbar entsetzt von Mr Fergusons Laune. "Das war zwar nicht besonders gut, aber immerhin schon mal keine Katastrophe." Wo sie recht hatte, hatte sie recht. "Die beiden müssten sich nur ein wenig näher kennen lernen." Sie lächelte uns aufmunternd zu. Leider konnte ich sie mit ihren blonden, mit Blumen hochgesteckten Haaren nicht sehr ernst nehmen. Sie sah eher aus, als hätte sie ihre Haare im Blumenbeet gewälzt.
"Annabelle, das wird doch nichts. Sieh sie dir doch mal an. Die sind ..."
"Pscht, pscht.", unterbrach Mrs Millerton. "Die beiden sind wundervolle Menschen. Das müssen sie nur noch herausfinden. Aber wenn so ein Griesgram dabei ist, wird das nichts. Vielleicht können sie Peter und Margaret noch helfen." Damit scheuchte sie Mr Ferguson aus dem Saal und kam zu uns auf die Bühne.
Ich hatte das Schaupiel der beiden ein wenig belustigt beobachtet, doch als Mrs Millerton mit weit ausgebreiteten Armen auf uns zukam, als wolle sie Jacob und mich zusammenführen, ging ich extra noch einen Schritt von ihm weg.
"Na hört mal ihr zwei. Was war denn gerade das Problem?", fragte sie, als müsse sie einen Konflikt zwischen zwei Grundschülern lösen.
"Wir hassen uns.", sagte Jacob trocken. Ausnahmsweise mal konnte ich das nicht besser ausdrücken.
"Aber ihr kennt euch doch gar nicht. Also ich sage ja immer: Wen man nicht kennt, den kann man nicht hassen."
"Doch, wir kennen uns, ziemlich gut sogar. Wir hassen uns trotzdem.", gab ich zurück.
"Na wenn das so ist. Dann stellt euch doch mal gegenüber und sagt dem anderen, was ihr nicht an ihm hasst. Vielleicht sogar etwas, was ihr am anderen mögt. Antwortet einfach, was euch durch den Kopf schießt." Ich musste fast lachen. Das klang ja, wie in einer Paartherapie. Schlagartig wurde mir bewusst, dass das auch irgendwie eine war.
Romeo und Julia bei der Paartherapie.

A Little Dream of YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt