Uferparty... oder Julias Erster

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Ich saß am kleinen Wall vor dem Fluss, ein Alibi-Bier - dass ich sicher nicht austrinken würde - in der Hand, während ich auf den Fluss starrte. Es hatte längst gedämmert und die Lehrer waren am anderen Ende des Camps in ihren Hütten.
Die meisten Mitglieder der AG hatten sich vor dem Steg versammelt und lachten leise über verrückte Geschichten, die sicher nur zu 50 Prozent wahr waren. Aber das war sowieso egal.
Mein Handy summte zum x-ten Mal. Wahrscheinlich wieder eine Nachricht von meiner Mutter. Ich hatte ihr geschrieben, wo ich war, doch seit von ihr nur Schimpftiraden kamen, reagierte ich nicht mehr auf sie.
"Hey.", sagte Ian leise. Ich drehte mich erschrocken um. Dann atmete ich erleichtert aus.
"Ian."
"Darf ich mich zu dir setzen?", fragte er.
"Ähm, klar." Ich lächelte ihn an.
"Warum sitzt eine so holde Maid so allein mit ihren Gedanken und starrt auf den Fluss?" Er lächelte verschmitzt zurück.
Ich fummelte am Flaschenhals meines Biers und sah auf das Wasser, das im Licht des Mondes funkelte.
"Ich weiß nicht. Das Wasser erinnert mich an jemanden."
"An wen?" Ich spürte, wie er mich musterte. Mein Magen verzog sich beim Gedanken an die Antwort. Ich sprach seit Jahren mit niemandem mehr darüber. Aber aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass ich es Ian erzählen konnte.
Ich räsuperte mich und löste den Blick vom Fluss. "Meine Cousine. Olivia." Ich starrte wieder die Flasche an und strich über die Öffnung. "Sie hat das Wasser geliebt. Ich erinnere mich noch daran, wie sie morgens nach dem Aufstehen immer erst in den Pool gerannt ist, bevor sie irgendetwas anderes gemacht hat. Tja, und mehr ist da leider nicht. Ich sehe immer nur sie im Wasser, wie sie es mir ins Gesicht spritz und lacht."
"Sie HAT das Wasser geliebt? Was ist passiert?", fragte Ian vorsichtig.
Ich schwieg kurz. Das jetzt laut zu sagen war tausendmal schwerer, als es einfach für mich zu behalten. "Fährunglück vor der Küste. Keine Überlebenden. Meine ganze restliche Familie - meine einzige Cousine, meine Tante und ihr Ehemann - einfach weg. Ich habe nur noch meine Mum." Mir entwich ein Schnauben. "Schon ironisch, oder? Was sie so geliebt hat, hat sie umgebracht." Ich schluckte einen schweren Kloß in meinem Hals herunter "Sie war erst sechs." Obwohl ich mich so dagegen wehrte, rann mir eine Träne die Wange hinunter.

Ian legte seine Arme um mich und ich lehnte mich gegen seine Brust.
Was leider Fakt ist, ist, dass Umarmungen es manchmal nur schlimmer machen. Sie geben mir noch eher das Gefühl, vor Kummer zu ersticken. Miranda kannte mich, daher drückte sie in diesem Falle meine Hand oder streichelte meinen Rücken. Das brachte mich runter. Aber jetzt fühlte ich mich noch elender als zuvor. Ich schluchzte.
"Hey, das wollte ich aber nicht." Ich spürte, wie Ian ein trauriges Lachen entrann und er mir über den Kopf streichelte.
"Das ist schon elf Jahre her. Mittlerweile sollte ich eigentlich damit abgeschlossen haben."
"Und das hast du nicht?"
"Nein. Ich habe immer noch Angst vor dem Wasser. Und deswegen habe ich nie gelernt, zu schwimmen. Es steht mir immer noch im Weg.", gestand ich.
"Das tut mir unfassbar Leid."
Ich löste mich von ihm. "Schon okay. Die restlichen elf Jahre hab ich es ja auch überlebt." Ich wischte mir die Tränen ab. "Oh mann, ich muss schrecklich aussehen."
"Nicht mal, als ich dich total fertig auf dem Schulrasen gesehen habe, sahst du schrecklich aus.", sagte er leise. Er wischte eine Träne von meiner Wange. Seine Hand blieb dort einfach stehen und wärmte mein Gesicht. Ein Lächeln hellte ihn auf. "Nur etwas... demoliert."
Ich lachte schniefend auf und schmiegte mich weiter an seine Hand.
Vor mir schwebten seine tiefblauen Augen immer weiter auf mich zu, dann spürte ich seine Lippen auf meinen. Ein schwindelerregendes Gefühl ließ mich praktisch in seinen Armen versinken, während mein Kopf überhaupt nicht verstand, was gerade passierte. Es war mein erster Kuss. Ian war ruhig, wie ich ihn kannte, aber ich spürte, dass unter seiner Oberfläche etwas brodelte. Doch bevor ich dahinter kommen konnte, zerriss ein Pfiff unseren Kuss.

Erst dachte ich, wie das bei meinem Glück nunmal war, dass jemand uns teenagerhaft zujohlen wollte, doch dann kam Brad den Hang heruntergejagd. Es überraschte mich, ihn hier zu sehen, denn eigentlich hielt er sich von solchen Bierabenden fern. Das konnte ich nur zu gut verstehen, denn in unserer AG war keiner seiner Freunde und diejenigen, die es sein könnten taten ihn als Nerd ab.
Zugegebenermaßen auch Miranda und ich, aber es war wirklich schwierig, ein Gespräch mit ihm zu führen, dass nicht von Marsexpeditionen oder Star Wars handelte.
Jedenfalls hastete Brad an uns vorbei und zischte uns noch "Ferguson kommt" zu.
Ian und ich sahen uns kurz an, dann sprangen wir auf.
Auch die Gruppe ein Stück von uns entfernt realisierte das Problem. Mr Ferguson würde ganz sicher nicht begeistert sein. Sie rannten auf zwei Hütten vor sich zu - wahrscheinlich die von Miranda, Christina und mir und die unserer Nachbarn, Melissa, Courtney und Sarah.
Zwischen den Bäumen und Hütten sahen wir den Lichtkegel einer Taschenlampe gefährlich nah umherirren - Mr Ferguson.
"Wir schaffen es niemals in deine Hütte - geschweige denn in meine.", flüsterte Ian. Er hatte recht, also griff ich seinen Arm und zog ihn zur Hütte vor uns. Kurz, bevor ich eintrat, zischte Ian noch "Nein." Doch wir waren schon hereingestolpert.
Innen war es komplett dunkel, wahrscheinlich waren die Bewohner alle ein paar Hütten weiter und zwangen sich gegenseitig, die Klappe zu halten.
Ich wollte mich gerade erleichtert auf eines der leeren Betten fallen lassen, als Ian mich noch in letzter Sekunde an den Armen packte, sodass mein Hintern nun über dem Bett schwebte.
"Was zum...?", flüsterte ich, doch dann sah ich auf das Bett. Upps, doch nicht so leer.
Ich richtete mich leise auf. Da schlief jemand von uns abgewandt ruhig vor sich hin.
Ich beugte mich vorsichtig, um mir anzusehen, wer.

Braune kurze Haare, kantiges Gesicht...
"Oh scheiße.", formte ich mit meinen Lippen und sah Ian panisch an. "Das ist...", flüsterte ich.
"Coopers Hütte. Ich weiß.", sagte Ian neutral. "Ich wollte es dir ja noch sagen, aber..."
Ich drückte ihm die Hand auf den Mund.
"Nicht wecken.", flüsterte ich. "Wenn er wach wird, gibt's ein riesen Theater und dann kriegt Ferguson uns am Arsch."
Ian nickte schließlich, also nahm ich die Hand herunter.
Um die Hütte herum hörten wir Schritte.
"Hier ist niemand. Und dafür hast du mich aus dem Schlaf gerissen?" Mrs Millerton? Leise schlich ich zur Gardine am vorderen Fenster und lugte vorbei.
Mrs Millerton und Mr Ferguson standen am Ufer, beide in Bademänteln.
"Ich schwöre dir, ich hab' was gehört.", sagte Mr Ferguson.
"Siehst du hier jemanden? Also ich nicht. Das war bestimmt nur ein Toilettengänger. Und wenn schon - sollen die Kids doch auch mal ihren Spaß haben."
Mr Ferguson grummelte etwas vor sich hin, dann zog er seinen lila Bademantel enger und ging wieder zurück in Richtung seiner Hütte.
Mrs Millterton drehte sich um und sah mich direkt an. Ich erstarrte, doch dann zwinkerte sie mir zu und ging Mr Ferguson hinterher.

Ian und ich warteten noch einen Augenblick. Wir wollten auf gar keinen Fall doch noch in die Arme unserer Lehrer rennen.
Hinter uns regte sich etwas, wir hörten Bettgeraschel. Langsam drehten wir uns um.
"Hallo?", fragte Jacob verschlafen. Er sah noch gar nicht genau hin.
Ian reagierte zuerst, riss die Tür auf und rannte, meine Hand fest umklammert aus der Hütte.
Uns kamen etliche andere auf ihrem Weg zu ihren Hütten entgegen.
Vor meiner angekommen begann er zu leise zu kichern und ich musste unweigerlich mit einsteigen. Immernoch hielt Ian meine Hand. Er zog mich zu sich und schlang einen Arm um meine Hüfte. Sein Kichern erlosch zu einem warmen Lächeln.
Um uns herum war niemand mehr. Alle hatten es eilig gehabt, zu ihrer Hütte zurück zu kommen.
Er küsste mich sanft auf die Lippen. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ob es ihm genau so ging?
Ich legte meine Hand auf die Stelle seiner Brust, wo sein Herz saß.
Bumm, bumm, bumm... Ruhig schlug es gegen meine Hand, fast so, als wolle er mich damit beruhigen.
Ich ließ meine Stirn auf meine Hand sinken und hörte nun sein Herz, seinen ruhigen Atem.
Er legte sein Kinn auf meinen Scheitel. "Siehst du? Passt perfekt." Seine Stimme summte in meinem Ohr.
Noch immer schlug mir mein Kolibri-Herz bis zum Hals. Eine einzige Frage lag mir auf der Zunge, ohne dessen Antwort ich nicht hätte schlafen können. "Sind wir jetzt... zusammen?"
Nennt mich naiv oder idiotisch, aber ich wollte lieber Klarheit, bevor ich mich verrannte.
Ians Brust bebte. Ich hob meinen Kopf und sah ihm in die Augen. Ihm war ein Lachen entronnen.

Fast hätte ich gedacht, er lachte mich aus. Aber so war Ian eigentlich nicht.
"Du bist so süß, dass man es schon fast nicht mehr aushält, ohne dich zu sein. Aber ja..." Er Strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und lächelte. Wow, das hatte er echt gut drauf. "Wenn du denn mit mir zusammen sein willst..."
Ich ersparte mir eine Antwort und küsste ihn stattdessen auf seine lächelnden Lippen.
"Gut.", sagte ich schließlich. Ich wippte auf meinen Füßen auf und ab und fegte mit den Händen über Ians Schultern, als hätte ich dort Schmutz hinterlassen. "Dann hätten wir das also geklärt. Gute Nacht."
Ich drehte mich um und trat, nicht ohne mich noch ein letztes Mal umzudrehen, durch die Tür. Er winkte mir zu, dann schloss ich sie und lehnte mich daran.

Vor mir hörte ich ein Quiken, dass kurz davor war, zu einem Schrei überzugehen.
"Pscht, Miranda." Sie sah mich an, ihre Wangen knallrot und ein fettes Grinsen im Gesicht.
"Aber ihr ward so süüüß." Sie kam auf mich zu, ihre roten Locken hüpften genauso fröhlich wie sie auf und ab, und umarmte mich fest.
"Okay, also ihr habt gespannert?", fragte ich belustigt und ließ mich auf ein - wirklich - leeres Bett fallen.
"Ich nicht. Nur Miranda.", sagte Christina genervt. Sie war in irgendein Buch über Astrophysik vertieft.
"Ich dachte, Klatsch und Tratsch wäre dein zweites Hobby."
"Ach quatsch. Du hast auch mal geluschert." Miranda schmiss sich neben Christie und piekste sie in die Seite.
"Ich muss mir nicht ansehen, wie Ian mit Cloe rummacht!", pampte sie herum und schmiss ihr Buch auf's Bett." Dann schnappte sie sich ihre Schlafsachen und ging in die Ecke mit dem Vorhang, hinter dem man sich umziehen konnte.
"Whoa, ganz ruhig. Hat sie dir was getan?", verteidigte Miranda mich. Das fragte ich mich aber auch gerade.
Christie räusperte sich hinter dem Vorhang. "Nein, hat sie nicht." Sie zog den Vorhang zur Seite. "Tut mir Leid. Ehrlich. Ich wollte nur das Buch zuende lesen. Das ist Pflichtlektüre für die Uni."
"Studierst du nicht erst ab nächstem Jahr?", fragte ich.
"Ja, aber man kann ja nie vorbereitet genug sein." Sie setzte sich wieder auf ihr Bett. "Seid ihr denn jetzt zusammen?"
Mir entwich ein Grinsen und ich sah auf meine Hände.
"Aaaaaw." Miranda war mal wieder hin und weg. "Das ist so süß."
"Freut mich für dich.", sagte Christie. Sie lächelte. Ich hatte schon die Befürchtung gehabt, ihr würde das mit Ian und mir nicht passen. Immerhin hatten wir mittlerweile eine feste Clique gebildet und da kann eine Beziehung schon mal ordentlich nerven.
"Ich will ja nicht neugierig sein, aber wo habt ihr beide euch eigentlich versteckt?"

A Little Dream of YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt