Suppenexperimente... und Julia bei der Selbstfindung

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Zu Hause lag ich mal wieder auf meinem Lieblingsdiwan und grübelte über mich selbst. Ich hatte mir bisher noch nie wirklich Gedanken darüber gemacht, wie ich mich selbst definieren sollte.
Miranda hatte mir in der U-Bahn noch ans Herz gelegt, eine Liste mit den Dingen zu erstellen, die Jake über mich wissen durfte, damit ich noch einen gesunden Abstand zu ihm halten konnte. Zwar war jede Information über mich in seinem Hirn eine zuviel, aber die Idee mit der Liste war gar nicht so schlecht.
Also begann ich, mein Leben auf einem A4 Zettel zusammenzufassen. Gar nicht mal so leicht.
Ich...
...liebe heiße Schokolade.
...würde für Pancakes morden.
...liebe jegliche Musik der Imagine Dragons.
...spiele seit 11 Jahren Klavier.
...kann Judo (auch wenn ich vor 3 Jahren aufgehört habe)
...habe panische Angst vor der Dunkelheit und offenem Gewässer
...liebe Geheimnisse.
...wünsche mir sehnlichst einen Bruder.
...liebe Shakespeare.
...will unbedingt meinen leiblichen Vater kennenlernen.

Seufzend legte ich den Zettel zur Seite und wägte Punkt für Punkt ab, was Jacob wissen durfte. Die ersten drei waren recht trivial, daher machte ich mir da keine Gedanken. Aber beim vierten Punkt fiel mir ein, dass ich seit Wochen nicht mehr Klavier gespielt hatte. Hoffentlich waren meine Finger nicht steif geworden.
Ich ging also den Flur entlang an der Treppe vorbei und im linken Teil des Hauses in das Musikzimmer.
Dort stand ein Flügel, der bestimmt schon ein paar Jährchen auf dem Buckel hatte. Jedoch war er durch regelmäßige Pflege noch gut in Schuss.
Ich setzte mich auf den Klavierhocker. Neben dem Flügel stand noch ein unbenutztes Spinett, sowie der seit Jahren unbewegte Cello-Koffer meiner Mutter. Ich klappte das Verdeck hoch und fuhr mit den Fingern über die Tasten. Erinnerungen an Stunden der Übung kamen in mir hoch, in denen ich verbissen an den schwierigen Stücken gearbeitet hatte, bis meine Finger wehtaten. Irgendwie hatte ich in den letzten Monaten an so viel anderes gedacht, dass ich den Flügel vergessen hatte.
Ich schlug die ersten Töne einer leichten, traurigen Melodie meines Lieblingskomponisten an. Der süß-bittere Klang traf mich immer wieder ins Herz. Als ich sie das erste Mal gehört hatte, hatte ich eine Träne verdrücken müssen.
Meine Finger fanden die Tasten auch ohne Noten und obwohl ich merkte, dass ich ungeübt war, fand ich mich zurück in dieses Stück. Vielleicht, weil ich es so oft schon gespielt hatte. Ich baute noch ein paar Schleifen und Wiederholungen ein, um meine Lieblingsteile nochmals spielen zu können. Ich vergaß, wie die Zeit an mir vorbeirauschte.
"Das war beeindruckend schön. Sie haben lange nicht mehr gespielt, Miss." Ich hatte gerade den letzten Ton gespielt und schreckte hoch, als Mr Murphy mich von der Tür aus ansprach. "Tut mir Leid, dass ich sie erschreckt habe." Er sah wirklich ein bisschen betroffen aus.
"Nein, nein. Ist schon gut. Sagen sie, wie lange stehen sie da schon?" Hatte er etwa gesehen, wie ich da mit geschlossenen Augen vor mich hin gespielt hatte?
"Ach, erst seit ein paar Minuten. Ich wollte ihnen eigentlich nur sagen, dass unten ein gewisser Mr Cooper mit ihnen zu sprechen wünscht." Er legte in das Wort 'Cooper' eine gewisse Neugier, die mich noch ein Stück weiter aufhorchen ließ.
"Bitte, was? Ehm, ich meine natürlich danke, Mr Murphy." Er meinte doch nicht etwa Jacob? Schließlich war Cooper ein gängiger Nachname. Vielleicht irgendein Kunde von Mum.
"Soll ich den jungen Mann wieder wegschicken?" Damit verstarb meine Hoffnung auf einen anderen Cooper.
"Ach nein, lassen sie das mal mein Problem sein." Ich lächelte ihm zu. Mr Murphy trat weg und ich verließ das Musikzimmer auf dem Weg zur Treppe. Ich tat vorsichtig ein paar Schritte die ersten Stufen hinunter, doch als ich am gruseligen Gemälde vorbeikam, verschnellerte ich meinen Schritt automatisch etwas. Ich bog gerade auf die zweite Treppe ab und da sah ich auch schon Jacob in der Eingangshalle. Er trug noch die Schuluniform (ich hatte mittlerweile zu schwarzer Jeans und einem dunkelroten Strickpulli gewechselt) und stand vor dem einzigen Gemälde in diesem Haus, dass seit fast 12 Jahren von einem weißen Tuch bedeckt war. Er hatte es ein Stück angehoben und betrachtete die mit Öl gemalte Darstellung der tobenden See. Als er mich hörte, drehte er sich ruckartig um und sah zu mir herauf.
"Nett hast du's hier. Aber ist der Butler nicht eine Schippe zu viel?" Verdammt, das war der Teil meines Lebens, von dem der Idiot nichts zu wissen brauchte. Ich stieg die letzte Stufe hinunter.
"Mich wundert es, dass du dich überhaupt traust, einen Fuß  in dieses Haus zu setzen. Ist das nicht gegen die Grundregeln eures Heiligen Codex der intreganten Coopers?" Einen Augenblick sahen wir uns beide erbost an. Ich hatte leider wieder einen schwachen Moment, in dem ich seine leuchtenden Karamell-Augen bewunderte. Also war das heute Mittag nicht der verletzte Kopf gewesen. Oder ich war immer noch nicht ganz klar. Sicher traf Letzteres zu. "Was willst du hier?", fragte ich schließlich, um nicht noch länger seine Augen betrachten zu müssen.
"Du hast deinen Text auf der Bühne liegen lassen und ich war gerade bei Freunden der Familie ein paar Häuser weiter. Ich dachte, du brauchst den heute noch." Er zog einen Stapel Zettel mit meinem Namen darauf aus seiner Ledertasche und hielt sie mir entgegen. Ich regte mich kein Stück. Da war doch was faul. Jacob Cooper würde nie, auch wenn es nur 10 Meter waren, für mich irgendwo hingehen oder mir irgendwas bringen. "Also entweder du nimmst die jetzt oder ich gehe wieder."
Leider brauchte ich meinen Text wirklich und mir fiel auch wieder ein, dass ich ihn nach meinem Sturz nicht wieder mit nach unten genommen hatte. Also tat ich die letzten Schritte bis zu Jakes Hand und nahm ihm langsam den Stapel ab. Dabei ließ ich ihn nicht aus den Augen. Als ich schließlich nach meinem Text griff, ließ Jacob nicht, wie erwartet, los. Eindringlich fixierte er mich, zwei Karamellbonbons, die im Licht unseres Kronleuchters an der Decke funkelten.
Scheiße...
"Ist noch was?", fragte ich und zog energischer an meinem Text. Es schien, als wollte er noch zu einer Antwort ansetzen, ließ es jedoch bleiben und löste seinen Griff um den Papierstapel. Damit drehte er sich um und ging einen Schritt zur Tür hinaus. Doch er hielt noch kurz inne.
"Ach, und bilde dir ja nichts darauf ein. Ich wollte nur nicht, dass ich morgen mit einer schlecht vorbereiteten Partnerin spielen muss." Damit verschwand er und schloss die große Haustür.
"Ts, als ob ICH unvorbereitet wäre.", murmelte ich ihm noch hinterher.
"Wir sagen ihrer Mutter lieber nichts vom Besuch des jungen Herren. Sonst wäre sie sehr wütend, wie ich befürchte." Mr Murphy war wieder neben mir aufgetaucht und sah auf die nun wieder geschlossene Tür. Auch ich starrte sie noch etwas perplex an.
"Ja, das sollten wir besser nicht tun."
"Ungewöhnliche Leute, diese Coopers. Sie tun die Dinge, die man am wenigsten von ihnen erwartet." Mr Murphy atmete scharf ein, als wäre ihm noch was eingefallen. "Ich hatte vollkommen vergessen, dass ich ihnen von ihrer Mutter mitteilen soll, dass sie es heute nicht zum Dinner schafft. Sie konnte sie auf ihrem Telefon nicht erreichen."
"Ja, das hab ich leider vergessen, aufzuladen.", antwortete ich als Ausrede. Mum hasste es, wenn ich grundlos nicht ans Telefon ging.
"Sie speisen also heute nur mit Mrs Graham und mir."
"Ich werde also in bester Gesellschaft sein." Ich lächelte Mr Murphy an, dann verzog ich mich bis zum Abendessen.

Ich saß erneut vor meiner Liste und grübelte Stunde um Stunde, was ich von mir preisgeben wollte.
Das mit dem Klavierspielen hatte sich wohl erledigt. Ein Bruder war vielleicht einer meiner geheimsten Wünsche, aber eigentlich nur wegen meiner Mutter. Sie wollte nicht noch mehr Kinder, schließlich kam sie mit mir gerade noch so zurecht. Aber ich war immer so allein, dass ich mich einfach nach einem Geschwisterchen sehnte. Mirandas großer Bruder war das beste Beispiel.
Vielleicht konnte ich das mal am Rande einer Konversation mit Jacob fallen lassen.
Meine Gedanken wurden vom kurzen Klingeln meines Handys unterbrochen. Eine Nachricht von Abbygale.
Morgen: Filmabend bei mir. Bier, Mischgetränke und Snacks werden gestellt, der Rest unter eurer Verantwortung.
Abbygales berühmte "Filmabende" waren eigentlich nur ein anderer Begriff für Hausparty. Vor drei Jahren war ein tatsächlicher, gemütlicher Abend mit Channing Tatum-Filmen ein wenig aus dem Ruder gelaufen, als Abby den Schnapsschrank ihrer Eltern geplündert und daraufhin die halbe Schule zu sich eingeladen hatte. Seither sind diese Partys DIE Eventabende für Oberstufenschüler an unserer Schule. Gott sei Dank dieses Mal an einem Freitag. Der letzte "Filmabend" war am Donnerstag vor der Zeugnisausgabe gewesen und die meisten in unserer Klasse hatten ihre Endnoten schlafend erhalten.
Eine weitere Nachricht traf ein, dieses Mal von Miranda.

Du kommst morgen!!! Callum kommt und ich will da nicht allein hin.

Ach ja, Callum Green. Mirandas aktueller Schwarm. Er war, wie Jacob, beliebt und gutaussehend, kam aber eher aus der Ecke der Verantwortungsvollen. Er leitete das Kinderlernnetzwerk  an unserer Schule und war erfolgreiches Mitglied unserer Schwimmmannschaft. Kein Wunder, dass Miranda so auf ihn abfuhr. Ich schrieb ihr zurück.

Aber ich bleibe nicht so lange. Nachher bin ich eh nur das fünfte Rad am Wagen ;D.

Ich hielt mich seit dem ersten Filmabend fern von Alkohol, und das sollte auch lieber so bleiben. Ich war nach einem Becher Bier schon betrunken und dann tat ich Dinge, die meinem Ruf nicht sehr förderlich waren - jedenfalls nicht in die positive Richtung.
Deshalb waren die meisten Partys nur unterhaltsam, weil ich die anderen dabei beobachten konnte, wie sie betrunken und dämlich wurden. Ab etwa 12 Uhr nachts wurden sie dann so bekloppt, dass ich lieber ging, bevor ich noch in etwas reingeriet.
Und auf Abbygales Partys ging erst recht die Post ab.

Mrs Graham hatte heute etwas Besonderes auf dem Speiseplan. "Mrs Burleigh hat mich überzeugen können, mich doch an der Kunst der Hummersuppe zu versuchen." Ich verzog das Gesicht. Einmal in meinem Leben hatte ich Seebarsch gegessen und seitdem nichts mehr angerührt, was aus dem Wasser kam. Der Fisch war widerlich gewesen.
"Cloe, Schätzen. Probier es wenigstens. Wenn es dir dann nicht schmeckt, isst du eben nur den Selleriesalat."
Was war heute nur los mit Mrs Graham? Normalerweise kochte sie leckere Sachen, wie Maccheroni mit extra Käse oder gefüllte Hähnchenbrust.
Als ich das Esszimmer betrat, schlug mir entgegen meiner Erwartungen noch nicht der Meeresgestank in die Nase. Dann erreichte mich die Erkenntnis: Die Suppe war kalt. Und gehörte auch so. Scheußlich.
Ich setzte mich neben Mr Murphy an den Tisch. Um Mrs Grahams Willen füllte ich mir eine winzige Menge der Suppe auf.
"Guten Appetit.", sagte ich, dann nahm ich langsam, unter ihrem interessierten Blick, einen Löffel und führte ihm zum Mund. Der ekelhafte Geschmack füllte meinen Mund, dann begann die Suppe irgendwie zu prickeln. Ich spuckte sie erschrocken wieder aus, doch es hörte nicht auf.
"Ach Herzchen, so grässlich schmeckt sie nun auch wieder nicht."
Doch, das tat sie. Sie schmeckte so scheußlich, dass mein Gaumen zu brennen anfing und als ich mit der Zunge darüberfuhr, spürte ich, wie meine Schleimhaut Pocken bildete. Dann wurde meine Zunge größer und begann, taub zu werden. Panisch versuchte ich, deutlich zu machen, dass hier etwas nicht stimmte.
"Cloe? Was ist?" Mr Murphy sah mich an und Mrs Graham eilte zu mir. "Ruf einen Krankenwagen. Ich glaube, sie hat einen anaphylaktischen Schock."
Mir wurde schwindelig, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Was genau geschah, bekam ich nur am Rande mit. Ich kippte vom Stuhl.
Irgendwann zwischen meinem Röcheln und Mrs Grahams hysterischen Schluchzern kamen die Rettungskräfte.

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Das hier ist meine allererste Story auf Wattpad und ich hänge sehr an dieser Idee. Wenn ihr also Ratschläge oder Lob/Kritik habt, schreibt mir doch :D

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