Kapitel 1

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Wie in den letzten Wochen auch, lag ich im Gästebett und starrte an die Decke. Jeden Tag durchlebte ich die Qualen erneut und erinnerte mich an den Schmerz, den ich verspürt habe.
Ich ähnelte einem Häufchen Elend, dass in seiner eigenen Welt ertrank. In einer Welt, die unter mir zusammengebrochen war.

Ich wischte mir die einzelne Träne weg, die aus meinem Auge lief und richtete mich auf. Mit dem Kopf lehnte ich mich an die kalte Wand und versuchte mich dazu zu zwingen aufzustehen, um duschen zu gehen. Doch ich blieb sitzen und sah Archibald vor meinen Augen. Immer und immer wieder. Er war in meinen Gedanken verankert und das ekelte mich an. Er ekelte mich an. Zum Glück war er jetzt im Gefängnis, wo er definitiv hingehörte. Meiner Meinung nach hätte er eine noch viel schlimmere Strafe verdient, als lebenslängliche Haft. Aber die Hauptsache war, dass ich ihn nie wieder begegnen musste.

"Ms. Thompson.", das Klopfen an der Zimmertür erschreckte mich, weshalb ich zuckte. "Ja?", ich wusste dass es Mrs. Rodriguez, die Haushälterin war, die hinter der Tür stand. Sie öffnete sie und trat in das Zimmer herein. "Guten Morgen, Ms. Thompson. Das Frühstück steht schon bereit im Esszimmer.", informierte sie mich und lächelte so höflich wie immer. Die Dame trug einen Kittel und hatte ihr schwarzes Haar wie immer zu einem Pferdeschwanz gebunden. "Ich gehe duschen und danach komme runter.", erklärte ich ihr, in der Hoffnung sie würde das so hinnehmen. In Wirklichkeit aß ich in letzter Zeit sehr wenig, weil ich einfach keinen Appetit hatte. "Ich werde Sie erwarten.", Mrs. Rodriguez war die einzige Person in den letzten Wochen, mit der ich redete und die ich näher an mich heran lies. Ansonsten niemanden, vor allem keine Männer. Nicht einmal Liam, den ich so sehr liebte.

Mit einem Grinsen verschwand die Haushälterin wieder und schloss die Tür. Den Teil mit dem duschen hielt ich ein, deshalb legte ich die warme Decke zur Seite und ließ meine Beine am Bett herunter hängen. Ich schlüpfte in die kuscheligen Hausschuhe und schlenderte in mein Badezimmer, das direkten Zugang von dem Gästezimmer aus hatte. Die Tür sperrte ich hinter mir zu und fing an mich auszuziehen. Ich schmiss meine Hose und mein Oberteil in den Wäschekorb und stand nun in Unterwäsche vor dem Spiegel.

Meine Augen wanderten über meinen ganzen Körper. Über meinen Hals, an dem Archibald mich fast erwürgt hatte. Über meine Handgelenke, an denen er mich brutal festgehalten hatte. Ich schloss gequält meine Augen und ekelte mich vor meinem eigenen Spiegelbild. Das Schamgefühl, das ich fühlte wenn ich mich selbst ansah, war unerträglich. Es war auch nicht auszuhalten, jede Sekunde an diesen Missbrauch zu denken. Eher gesagt an die Vergewaltigung. Ich wurde vergewaltigt und das konnte ich nicht mehr rückgängig machen. Mein restliches Leben lang musste ich jetzt damit kämpfen und es verarbeiten, was nur schwer möglich war.

In den nächsten Minuten stand ich unter der Dusche und mit jeder Berührung an meinen Handgelenken oder an meinen Hals, sah ich Archibald vor mir. Immer wieder erinnerte ich mich an den Scherz. Ich schüttelte meinen Kopf und meine Tränen verschmolzen mit den lauwarmen Wassertropfen der Dusche. Mit meinen Händen stützte ich mich an den Fliesen ab und legte mein Kinn auf meine Brust. Das Wasser floss an meinen Körper herunter, während ich versuchte meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.

Ich drehte den Wasserhahn zu, stieg aus der Dusche und zog mir einen Bademantel über. Meine Haare trocknete ich mit einem Handtuch und putze danach meine Zähne. In meinem Zimmer zog ich mich an und setzte mich auf die Couch, die vor dem Bett stand. Ich überlegte, ob ich nach unten gehen sollte oder nicht. Doch ich entschied mich dafür, frühstücken zu gehen. Immerhin muss sich Liam ebenfalls schlecht und einsam fühlen, aber ich konnte ihm momentan einfach nicht so nahe sein wie vorher.

Mit gemischten Gefühlen öffnete ich die Zimmertür und ging den Flur entlang. Vor der Treppe blieb ich stehen und blickte nach unten. Ich spielte in meinem Kopf jede einzelne Möglichkeit durch, wie die nächsten Minuten aussehen könnten. Werde ich wieder zusammenbrechen? Oder werde ich seine Augen auf mir zulassen können ohne nervös zu werden? Ich wusste es nicht. Trotzdem stellte ich mich meinen Ängsten und ging die erste Stufe nach unten. Ich hielt nicht an und ging immer weiter, bis ich unten ankam. Das Geländer der Treppe umgriff ich fest mit meiner Hand, bevor ich weiter ging. Meine innerliche Spannung wurde immer größer, mit jedem Schritt den ich näher zu Liam ging.

Als ich im Türrahmen zum Esszimmer stand, suchte ich ihn mit meinen Augen. Er saß bereits am Tisch und schaute in sein Handy. Er trug an diesem Sonntagmorgen ein blaues Polo Shirt, welches seine Augen zur Geltung brachte und eine helle Jeanshose. Vor ihm war ein umfangreiches Frühstück aufgetischt, was seit der Einstellung von Mrs. Rodriguez Alltag war.
"Oh Ms. Thompson, da sind Sie ja.", sie huschte an mir vorbei und lächelte freundlich. Mit dieser Begrüßung lenkte sie Liams Aufmerksamkeit auf mich. Er sah mich an und seine Augen strahlten Verwunderung aus. In der letzten Zeit aßen wir so gut wie nie zusammen. Entweder kam ich erst, wenn er schon in der Arbeit war oder ich bin gar nicht nach unten gekommen. Kurz zog ich meinen Mundwinkel nach oben, um ihm wenigstens ein bisschen zu zeigen, dass ich ihn noch immer liebte. Am liebsten hätte ich ihn umarmt, ihm gesagt wie sehr ich ihn liebe, aber dazu war ich einfach noch nicht bereit.

Ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber von ihm und hatte dabei meinen Blick gesenkt. Mein Herz raste, da ich sehr lange nicht mehr einem Mann so nahe war. Obwohl ich ihn nicht ansah, spürte ich wie er mich anstarrte. Ich spürte, wie er etwas sagen wollte und ich spürte wie sehr er mich liebte. Er schnaufte, als sein Handy klingelte, aber wandte seinen Blick nicht vor ab. Im Gegenteil, er drückte den Anruf weg und legte sein Handy zur Seite. Ich fing an die Waffeln zu essen und wurde dabei immer noch von Liam beobachtet. Es machte mir nervös und unruhig. Mit einem Blick bat ich ihn darum, mich nicht mehr so anzustarren. Er verstand es sofort und wandte seinen Blick von mir ab.

Plötzlich wurde mir übel und ich spürte dieses mulmige Gefühl in meinem Bauch. Wie aus dem nichts stoß es mich auf und ich sprang von meinem Stuhl. Schnell eilte ich ins Badezimmer und hörte wie Liam mir hinterher lief. "Alice!", er klang besorgt, dennoch wollte ich ihn nicht so nahe bei mir haben. Vor allem nicht in dieser Situation. Ich schloss die Tür hinter mir und übergab mich in die Toilette.
"Alice, ist alles okay? Darf ich rein kommen?", Liam stand auf der anderen Seite der Tür. Ich antwortete nicht, weil ich nicht konnte und weil ich es nicht wollte. "Mr. Kennedy, ich denke Sie sollten sie jetzt in Ruhe lassen. Ich kümmere mich um ihre Freundin.", meinte Mrs. Rodriguez zu ihm und schickte ihn weg.
Sie klopfte an die Tür und trat herein. Ich hinderte sie nicht daran und kniete immer noch vor der Toilette.

Sie band meine Haare zusammen und legte einen kalten Waschlappen in meinen Nacken. "Danke.", murmelte ich und sackte zusammen.
Mrs. Rodriguez half mir hoch, weshalb ich daraufhin zum Waschbecken ging und mein Gesicht wusch. Währenddessen überlegte ich, woran das liegen konnte. Ich war nicht krank und fühlte mich eigentlich auch nicht schlecht.
Bei einer Überlegung blieb ich hängen, die ich aber mit einem Kopfschütteln aus meinen Gedanken verbann. Ich schaute mich im Spiegel an und redete mir ein, dass ich krank war. Ich redete mir ein, dass das nicht wahr sein konnte. Ich musste mich irren.

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Nach langer Zeit geht es weiter mit der Geschichte von Liam und Alice. Viel Spaß beim lesen!

You're my bright light in the darkness - Band 2 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt