Kapitel 50 - Nervosität und Mut

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Alec nutzte den Moment der Schockstarre, quetschte sich an den Soldaten vorbei und kletterte aufs Podest, um den nervigen Tenor runter zu schubsen. Er landete mit einem ersticktem Schrei auf dem Boden und blieb dort reglos liegen. Der Soldat, der bei Magnus gewesen war, war glücklicherweise schon wieder in der Menge verschwunden.

Dann wandte er sich zu Magnus, befreite ihn von dem Halsstrick -sicher war sicher-, bevor er auch seine Handfesseln löste.

Alles um sie herum war verstummt, doch es wirkte ohnehin nur verschwommen auf Alec. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Mann vor ihm.

Er wirkte ausgezerrt und müde, den dunklen Augenringen nach zu urteilen. Sein Gesicht zeigte unzählige kleine Platzwunden auf und über seinem linken Auge blühte ein kleines Veilchen. Seine Haare hingen ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht -offenbar war Kerkerluft nicht gut für Haare.

Dennoch verlor sich Alec kurz in seinem Anblick, denn, so besorgniserregend sein Zustand auch war, sein Anblick war ein Beweis dafür, dass er noch lebte. Magnus lebte noch.
Eine enorme Last rutschte von Alecs Schultern, denn die Angst, er sei bereits tot, hatte wie ein Felsbrocken auf seiner Seele, direkt über seinem Herzen gelastet und es beinahe zerquetscht.

Alec glaubte, er war nie glücklicher gewesen, als jetzt. Er hatte es vermisst, sich in diesem faszinierendem Braun mit den grünen und goldenen Tupfern zu verlieren, als tauche er komplett in einen großen Haufen frischen Herbstlaubs ein.
In diesen sah er eine Mischung aus Ungläubigkeit, Verwirrung und Schock, gepaart mit einer so tiefen Verwundbarkeit, die einem schier den Atem rauben konnte.
Doch dann wurde das alles von einem Ausdruck grenzenloser Erleichterung und Freude abgelöst, die gemeinsam mit einem elektrisierendem Gefühl der bedingungslosen Liebe Hand in Hand gingen.

~A-Alexander?~, wisperte er mit heiserer Stimme, als könnte er noch immer nicht recht glauben, dass Alec wirklich hier war. Seinetwegen. Um ihn zu retten.
Doch er war hier und so nickte er hastig.
~Magnus.~

Magnus wollte auf ihn zugehen, doch schon beim ersten Schritt taumelte er vor Schwäche und wäre sicher gestürzt, hätte Alec ihn nicht aufgefangen. Als er ihm eine Hand auf den Rücken legte, atmete Magnus zischend ein und das weiße Hemd verfärbte sich an der Stelle rot.
Sofort verringerte er den Druck und sah den Blutfleck geschockt an. Er hatte gewusst, dass es Magnus alles andere als gut gehen würde, doch jetzt schien alles so viel realer und erschreckender als in seiner Vorstellung.

~Du blutest ja!~
~Halb so wild~, winkte er schwach ab, obwohl man eindeutig hören konnte, wie angestrengt seine Stimme klang,~Aber wir werden angestarrt. Könntest du ...?~

Mist, er hat recht!, stellte er entsetzt fest und wurde bestimmt tiefrot im Gesicht. Dennoch kam er Magnus' unausgesprochener Bitte nach und richtete ihn wieder auf, legte aber auch, so sanft wie möglich, einen Arm um seine Taille, um ihn am erneutem Stürzen zu hindern.
Nur deshalb. Nicht etwa, weil er Magnus irgendwie berühren wollte, um sich von seiner und der Echtheit des ganzen Schauspiels vor ihnen zu überzeugen.

Nervös sah er auf die Menge unter ihnen herab, die langsam aus ihrer Schockstarre erwachte. Gerade als die vordersten Soldaten aufs Podest steigen wollten, traf Raphael mit den anderen ein und dieser hatte ganze Arbeit geleistet.

Auf dem Rücken eines eindrucksvollen Rappen -Alec fragte sich, woher er dieses Pferd hatte, wollte es dann aber doch nicht so genau wissen- ritt er vor den Soldaten auf, gefolgt von vielen anderen Menschen, allesamt bewaffnet und mit mehr oder weniger ernsten Mienen. Es waren Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, Aussehens und Statur, dennoch bildeten sie eine mindestens ebenso starke Einheit wie die Soldaten, wenn nicht gar noch stärker.
Sie stellten sich noch vor den Soldaten um das Podest auf und schirmten ihn und Magnus somit von diesen ab.

Alec hatte sie noch nie gesehen, denn sie alle waren Unterweltler aus jeglichen Stützpunkten, die sie auf die Schnelle hatten erreichen können -Catarina hatte ihm nicht verraten wollen, wie sie den Kontakt zu den anderen Stützpunkten hergestellt hatte, allerdings interessierte ihn das jetzt auch nicht mehr.

Dennoch war er überrascht, wie viele doch gekommen waren, immerhin war das alles mehr oder weniger spontan geschehen.

Doch das war nicht die einzige, plötzliche Veränderung.
Endlich schafften es Lydia und Clary, die Stoffbahnen des Pavillions auseinanderzuziehen, sodass die Königsfamilie nun unter freiem Himmel und gut sichtbar für alle saß. Dann verschwanden sie wieder in der Menge.

Dafür stiegen nun Ragnor und ein junges, platinblondes Mädchen mit gezogenen Schwertern auf das Podium, um sie davon abzuhalten, irgendetwas unüberlegtes zu sagen oder zu tun.

Alec verspürte eine gewisse Genugtuung, als er den Schock in den Augen seiner Eltern sah, als sie Ragnor erblickten. Es war offensichtlich, dass sie ihn erkannten und wahrscheinlich auch wussten oder zumindest ahnten, was jetzt wohl geschehen würde.
Ragnor schaute zwar, wie immer, grimmig drein, wirkte aber auf Alec ziemlich belustigt, als hätte er gerade den Spaß seines Lebens.

Er warf Magnus unter seiner großen Kapuze einen Seitenblick zu und stellte überrascht fest, dass dessen Kinnlade etwas nach unten geklappt war. Pure Überraschung, aber auch Rührung spiegelte sich in seinen Zügen wider, als hätte er gerade das schönste Geschenk aller Zeiten bekommen, hätte aber überhaupt nicht damit gerechnet.

Er lächelte leicht, da das unheimlich süß aussah.

Dann wandte er sich wieder an die unruhig abwartende Menge und atmete tief durch, denn er war unglaublich nervös.
Er musste jetzt vor diesem Publikum sprechen, dabei hasste er Aufmerksamkeit beinahe mehr als alles andere, doch ihm blieb keine Wahl.

Er sah noch kurz zu Magnus und versuchte sich dadurch Mut zu machen, denn er gab ihm immer eine gewisse Sicherheit.

Er ist es wert, dachte sich Alec und wandte sich wieder der Menge zu, um eine der bedeutendsten Reden seines Lebens zu schwingen.

Malec-Der Prinz von IdrisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt