Malec-Der Prinz von Idris

Kapitel 9 - Das Mädchen mit der Puppe

Das Mädchen sah verwarlost aus, fand Alec. Es trug ein halb zerrissenes und schmutziges Hemd als Kleidersatz und besaß keine Schuhe. Die Füße waren schwarz und starrten vor Dreck, nur im Gesicht konnte man ihre eigentliche Hautfarbe erkennen, obwohl auch dieses schmutzig war.
Die braunen, verfilzten Haare waren zu einem einfachen Zopf gebunden.

Normalerweise war Alec ein guter Beobachter, aber bei diesem Mädchen konnte er nicht einschätzen, wie alt es war, da es so schmutzig und dürr war. Sieben? Neun? Zwölf? Er wusste es beim besten Willen nicht. Er konnte nur sagen, dass sie etwas jünger als sein kleiner Bruder Max war, mehr auch nicht.

Sie hielt eine kleine Puppe fest umklammert und sah sie mit großen Kinderaugen an.
Während er selbst stehen geblieben war, ging Magnus noch ein paar Schritte weiter, bevor er in die Hocke ging und die Arme nach dem Mädchen ausstreckte.

Diese wortlose Einladung nahm das Mädchen nur zu gerne an, denn sie stürmte mit ihren dünnen Beinen los und warf sich förmlich in seine Arme.
~Drusilla, Süße. Schön dich zu sehen.~, begrüßte er das kleine Mädchen freundlich, als er sich von ihr löste.

Er lächelte sogar und obwohl Alec es nicht wollte, sein Herz schlug schneller. Magnus sah so schön aus, wenn er lächelte, so ehrlich und auch so jung.

Erst jetzt bemerkte Alec, dass Drusilla weinte, dicke Krokodilstränen lösten sich aus ihren Augenwinkeln und tropften auf ihr Hemd.
~Sie haben Helen mitgenommen!~, schluchzte sie mit zittriger Stimme.

Kurz huschte ein Ausdruck unbändiger Wut über Magnus' Gesicht, kombiniert mit einem Hauch von ... schlechtem Gewissen? Alec fragte sich, ob er sich das nur eingebildet hatte, aber er konnte dies nicht mehr überprüfen, da er wieder eine liebevolle und mitfühlende Miene aufgesetzt hatte. Ach, was hätte Alec dafür gegeben, wenn er so von ihm betrachtet werden würde!

~Sie können Helen nicht mitnehmen.~, erklärte er sanft.
~Aber ich habe es doch gesehen!~, schluchzte sie,~Die Soldaten kamen rein und h-haben Helen ... ge-geschlagen. Sie ist gefallen ... und dann haben sie s-sie mitgenommen! Sie ist weg!~
~Nur weil du etwas nicht sehen kannst, heißt das nicht, dass es nicht da ist.~, sagte Magnus mit einer so beruhigenden Stimme, dass sich selbst Alec etwas entspannte.

Drusilla sah ihn mit schimmernden Augen an.
~Was meinst du?~
~Die Soldaten können machen und tun, was sie wollen, aber sie können dir deine Familie nicht wegnehmen~, antwortete Magnus, wobei seine Stimme leicht zitterte, als spräche er von etwas, was er selbst erlebt hätte,~Soll ich dir auch verraten, warum?~

Sie nickte zögerlich.
~Weil ein Teil deiner Familie immer hier sein wird.~
Er tippte mit einem seiner langen Finger auf Drusillas Brust.

Sie schien es aber nicht zu verstehen, denn sie hob verwirrt ihr Hemd an und starrte an ihrem mageren Körper hinab.
~Aber da ist nichts.~

Und dann hörte Alec etwas, wofür er durch ein Meer aus Glasscherben geschwommen wäre: Magnus lachte. Es war ein tiefes, ehrliches, wenn auch leises Lachen, doch es war so ansteckend, dass auch Alec lächeln musste.
Es war wunderschön.
Er war wunderschön.
Ja, er sah aus wie ein gefallener Engel, so wie das Mondlicht seinen schwarzen Mantel beleuchtete, die Kettchen glitzern ließ und seinem Gesicht eine silberbraune Färbung gab, aus der seine Augen wiedereinmal hervorstachen.

~Da nicht, aber in deinem Herzen. Jeder, den du liebst und der dir wichtig ist, wird in deinem Herzen leben, also auch deine Familie.~, sagte er, als er sich wieder beruhigt hatte.
~Also ist ein Teil von Helen in mir und kann mich nicht verlassen, weil man mich dazu aufschneiden müsste?~, fragte sie, worauf Magnus wieder leise lachte.

~Sozusagen~, stimmte er ihr zu,~Ich habe übrigens etwas für deine Puppe. Wie heißt sie denn heute?~
~Drusilla Junior~, antwortete sie,~Was hast du denn?~

Magnus legte lächelnd seinen Rucksack ab, um dort rumzuwühlen. Dann zog er ein winziges, lavendelfarbenes Kleidchen heraus, dass genau die gleiche Größe hatte, wie Drusilla Junior.
Die Augen von Druslla wurden, wenn überhaupt möglich, noch etwas größer.
~Das ist wunderschön.~

~Ich dachte mir schon, dass es dir gefällt und deshalb habe ich dir auch eins gemacht.~ Mit diesen Worten griff Magnus nochmals in seinen Rucksack und holte ein größeres Kleid heraus, welches dem ersten bis zum letzten Nadelstich glich. Dann griff er nochmals in den Rucksack und holte zwei aufgerollte Gürtel heraus, die jeweils aus getrocknetem Gras geflochten waren. Einer für das große Kleid und einer für das kleine.

Drusillas Augen wurden noch größer, bevor sie sich wieder in Magnus' Arme warf, der Mühe hatte, sein Gleichgewicht zu halten und gefährlich schwankte.
~Wir wollen ersteinmal sehen, ob es passt. Also, welches Mädchen will zuerst in ihr neues Kleid?~, fragte er lächelnd.
~Ich!~, sagte Drusilla schnell, sah sich dann aber mit der Puppe in der Hand unschlüssig um.

Genauso hatte seine kleine Schwester Izzy ausgesehen, wenn sie im Palastgarten eine schöne Blume gefunden hatte, die sie zwar unbedingt pflücken, ihre Puppe dabei aber nicht alleine lassen wollte.

Also ging er schnell neben Magnus in die Hocke und hielt Drusilla seine Hände hin.
~Ich kann ja auf Drusilla Junior aufpassen, solange du dein neues Kleid anziehst.~, bot er an.
~Kannst du das denn?~, fragte sie skeptisch.

Magnus neben ihm kicherte leicht, aber Alec ließ sich nicht beirren, auch wenn ihm das Kichern einen warmen Schauer über den Rücken jagdte.
~Ich habe schon oft auf die Puppen meiner Schwester aufgepasst. Ich weiß, wie man mit solch feinen Damen umgehen muss.~

~Und du lässt sie nicht fallen?~
~Das würde mir im Traum nicht einfallen.~, versicherte er ihr.
~Kannst du sie denn dann auch umziehen?~
~Ich muss zugeben, meine Puppenankleiderjahre sind schon eine Weile her, aber ich werde mein bestes versuchen.~

Drusilla sah hilfesuchend zu Magnus.
~Keine Sorge. Ich habe Alexander zwar schon viele dumme Dinge machen sehen, aber ich denke, mit Puppen kann er umgehen, auch wenn Drusilla Junior viel zu gut für ihn ist.~

Das alles sagte er mit einem Lächeln in Alecs Richtung, welches Alec von Innen heraus wärmte. Die Art, wie Magnus seinen vollen Namen aussprach und wie er ihn betonte, ließ Alec einen warmen Schauer über den Rücken laufen. Er hörte sich so gut an, dass Alec hoffte, dass er seinen Namen in Zukunft öfters in den Mund nahm.

Als sich ihre Augen trafen, konnte er es kaum glauben, denn zum ersten Mal betrachtete Magnus ihn nicht mit Verachtung und Kälte, sondern mit so einer zerbrechlich wirkenden Zuneigung, die Alecs Herz einen Salto schlagen ließ. Was würde er nur dafür geben, diesen Blick öfters von Magnus geschenkt zu bekommen?
Viel zu viel, wenn er ehrlich war.

Drusilla warf ihm nun einen unsicheren Blick zu, bevor sie Drusilla Junior vorsichtig, als wäre sie aus Glas, in Alecs Hände gab.