"Der BVB hat Lennard nach dem Testspiel vor Kurzem tatsächlich ein Angebot gemacht." sagte meine Mutter am Frühstückstisch konzentriert, während sie die Zeitung mit einem lauten Rascheln umblätterte. Völlig überrascht von dem plötzlichen und vor allem trockenen Themenwechsel ihrerseits, legte ich leise das Messer neben meinen Teller und starrte sie stirnrunzelnd an, obwohl sie es nicht sehen konnte. Gerade noch redeten wir darüber neue Vorhänge für das Schlafzimmer in meiner Wohnung kaufen zu gehen und jetzt ließ sie plötzlich so eine enorme Bombe platzen. Schließlich hatte ich mir extra freigenommen, um heute mit ihr ins Möbelhaus zu fahren. Sie hatte einfach den besseren Geschmack was so etwas anging. Jedenfalls war das ein ganz schöner Akt, denn wenn man bei einer Modekette angestellt ist, bekommt man nicht mal eben so frei. Das Geschäft ist viel wichtiger. Ich verwarf meine abschweifenden Gedanken und räusperte mich: "Das heißt?" So vorwurfsvoll wie es klang, meinte ich es eigentlich gar nicht. Endlich legte meine Mutter die Zeitung nieder und stützte mit ihrer rechten Handfläche ihr zierliches Kinn. Sie sah nachdenklich aus, fast schon irgendwie verzweifelt. Was machte sie daraus denn für einen Akt? Mein Bruder Lennard galt schon lange als überqualifiziert für den Kleinstadtverein unserer Heimat in dem er voller Herzblut spielte, seitdem er ungefähr fünf war. Er war sehr gut, wenn nicht sogar ein riesen Talent, so weit ich als Laie es jedenfalls beurteilen konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Großen Vereine Blut lecken würden. Ein Glück ist er jetzt alt genug, um alleine weg ziehen zu können. Aber meine Mutter machte diesem Gedanken, kurz nachdem ich ihn überhaupt in meinem Kopf ausformulierte, einen Strich durch die Rechnung: "Das heißt, wenn er das Angebot annimmt, werde ich mit ihm nach Dortmund ziehen müssen." Meine Kinnlade klappte schockiert herunter. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Ich holte tief Luft: "Hast du dir das auch gut überlegt?" fragte ich, diesmal ein wenig diskreter als zuvor. Mama nickte bloß, man hörte aber, wie sie versuchte den Kloß in ihrem Hals möglichst unauffällig herunterzuschlucken: "Ich kann doch nicht meinen neunzehn Jährigen Sohn alleine nach Dortmund gehen lassen." Ich dachte kurz an mögliche Folgen dieser Entscheidung. Meine Familie, also meine zwei wichtigsten Bezugspersonen, wären nicht mehr in meiner Nähe und ich hatte dann keinen mehr, der mich überhaupt hier an diesem Ort halten würde, denn für mich ging nichts über die Familie. Meine Mutter musste für einen Umzug zusätzlich auch noch jeden Cent umdrehen, denn als Alleinerziehende hatte sie alles andere als viel Geld. Mein Bruder jedenfalls hätte einerseits eine bessere Chance im Profifußball mitzumischen, auf der anderen Seite wäre er dort ohne mich ganz alleine. Nicht, weil ich eingebildet war, sondern weil wir zwei ein echt starkes große-Schwester-kleiner-Bruder-Gespann waren. Ich konnte und wollte ihn nicht gehen lassen und meine Mutter natürlich auch nicht. Schließlich hätte ich dann niemanden mehr, der meine Wäsche waschen würde. Spaß bei Seite. Nach meiner kurzen Grübel-Session wollte ich zum Reden ansetzen, da wurde es plötzlich laut im Flur. Man hörte den Schlüssel am Schlüsselbrett klimpern und wie ein Paar Schuhe in die Ecke neben dem Schuhschrank gekickt wurden. Keinen Augenblick später sprang die Tür der kleinen Küche in der wir es uns gemütlich machten auf und mein neunzehn-Jähriger Bruder spazierte grinsend in den Raum: "Was ist denn hier los? Ihr seht ja aus wie sieben Tage Regenwetter." fragte er irritiert, während er sich einen Teller holte und sich kurzerhand zu uns an den Tisch gesellte. Ich schaute ihn empört an, als er sich einfach so mein Brötchen schnappte und herzhaft hinein biss. Ihn schien es jedoch null zu kümmern. "Ich kann eure Laune ganz schnell aufpolieren, ihr werdet sehen." grinste er blöd, während er noch kaute. Ich verzog mein Gesicht bei diesem leicht widerlichen Anblick voller Brötchen zwischen seinen Zähnen und trank lieber meinen Kaffee aus. "Achja?" fragte Mama grinsend und zog interessiert eine Augenbraue in die Höhe. Lennard nickte, schluckte glücklicherweise diesmal bevor er sprach und erklärte dann: "Ich habe 'ne zwei geschrieben. In Mathe. Richtig cool, oder?" Stolz blinzelte er uns zwei an, wobei wir ihn aber irgendwie eher kritisch beäugten. Meine Mutter verwarf das Thema dann nach einem lieb gemeinten Schulterklopfer und räusperte sich dann ernst: "Wir haben gerade über das Angebot geredet, vom BVB." sagte sie dann. Lennard schaute unsere Mutter wehleidig an und wurde binnen Sekunden ernst: "Mama, es tut mir wirklich leid, dass wir dann umziehen müssten, echt. Aber ich will dahin. Ehrlich. Vor allem wäre das meine Chance, jetzt wo denen ein richtiger Stürmer fehlt." flehte er dann. Ich beobachtete ihn dabei, wir er seine Hände faltete und mit ihnen vor den Augen unserer Mutter herumfuchtelte, bis sie diese kopfschüttelnd herunter nahm und in ihre schloss. Mama presste ihre Lippen zusammen und nickte: "Ist gut, also werde ich später das Telefonat führen und dieses Angebot annehmen. Dann werden wir zusehen, wie wir schnellstmöglich nach Dortmund ziehen können. Wir schaffen das!" beschloss sie ziemlich gefestigt. Lennard strahlte sie überglücklich an und sprang vom Stuhl auf, um sie stürmisch zu umarmen. Dann schauten die zwei mich eindringlich an: "Und ich komme mit!" warf ich in den Raum und stieß zur Umarmung dazu. Mir war egal was ich dafür aufgeben musste, Hauptsache war doch ich hatte die Zwei.
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Schmetterlingseffekt
FanfictionKann man alles einfach so stehen und liegen lassen für die Profikarriere des eigenen Bruders? Genau dafür entscheiden sich die 26-Jährige Yve Kühnert und ihre Familie. Obwohl sie in ihrem Alter schon für sich selbst sorgt lässt sie gemeinsam mit ihr...