Alles zog sich in meinem Magen zusammen, während sich die Bilder die sich vor mir abspielten, wie in Zeitlupe bewegten. Ich spürte Marcos starken Arm, der sich um meine Taille legte um mir ein bisschen Halt zu geben.Dabei war es Lennard, der jetzt Halt brauchte. Ich ging also auf meinen Bruder zu und löste mich somit aus Marcos Griff. "Lennard geht es dir gut?" fragte ich vorsichtig und streichelte ihm fürsorglich über die Stirn. Er hatte Angst, das merkte jeder, der im Raum war. Lennard schüttelte erniedrigt den Kopf: "Meine Karriere ist gelaufen!" beschwerte er sich lautstark mit schmerzverzerrtem Gesicht. Marco trat gegenüber von mir an die andere Seite der Liege und legte seine Hand beruhigend auf die Schulter meines kleinen Bruders. Meine Augen folgten jeder seiner Bewegungen akribisch, in der Hoffnung ich könnte mir etwas von seiner sicheren Ausstrahlung abgucken. Aber die hatte er einfach, da gab es nichts für mich abzugucken. "Ist Mama hier?" fragte mich der Neunzehnjährige mit einem hoffnungsvollen Funkeln in den Augen. Ich presste, mindestens genauso enttäuscht wie er es jetzt sein würde, meine Lippen aufeinander und schüttelte langsam und enttäuscht meinen Kopf. Seufzend starrte Lennard also zur Decke. Marco warf mir einen fragenden Blick zu. Ich kaute nachdenklich auf meiner Unterlippe herum und fragte mich, wie ich seine Laune nicht verschlimmerte, bevor ich ihm erklärte, dass unsere Mutter zu einem Arbeitstier mutiert sei und wahrscheinlich nicht kommen würde. Das hatte sich ja schon heute Morgen herauskristallisiert. Marco nickte verständnisvoll während ich sprach und schenkte mir ein vorsichtiges Lächeln: "Soll ich sie anrufen? Dann kannst du bei ihm bleiben." bot er mir an. Ohne Zeit zu verlieren kramte ich direkt in der Innentasche meiner Jacke nach meinem Smartphone und legte es in seine Handfläche, die er schon in meine Richtung ausgestreckt hatte. "Das kriegen wir schon hin." sagte er noch einmal aufbauend zu Lennard, bevor er aus der Tür verschwand und sie leise hinter sich schloss. Hatte ich ihm gerade wirklich mein Smartphone anvertraut? Ich schüttelte mich kurz, um die unwichtigen Gedanken die ich gerade hatte loszuwerden und konzentrierte mich wieder auf meinen Bruder: "Lennard, deswegen ist deine Karriere doch nicht beendet. Auch wenn das Kreuzband durch ist. Du bist jung, du wirst schneller fit sein als du denkst. Verletzt ist jeder mal." versuchte ich also ihn aufzubauen. "Du hast leicht reden. Ich bin gerade mal zwei Monate hier und schon so stark verletzt, dass ich einige Wochen ausfallen werde. Die geben mich nächstes Jahr also wieder weg, mit Sicherheit nach Hause. Dann war alles umsonst und ich gelte als der größte Loser, mit Sicherheit." "Mit Sicherheit nicht" schreitete ich schnell ein: "Jeder Profispieler ist mal verletzt." wiederholte ich mich und lächelte ihm hin und her gerissen zu. Ich wusste kaum, ob ich mir überhaupt selbst glaubte in diesem Moment. Aber was sollte ich denn tun? Ich wollte ihn aufbauen und ihm nicht wortwörtlich mit der Realität ins Gesicht schlagen. "Sie geht nicht ans Telefon. Aber ich habe auf den AB gesprochen." teilte Marco kritisch mit, als er wieder in den Raum trat. Diesmal stellte er sich wieder schräg hinter mich und gab mir mein umgehend mein Smartphone zurück. Ich schenkte ihm ein kurzes, aber ehrliches Lächeln: "Danke dir." Er winkte ab, hatte aber ein zufriedenes Grinsen auf den Lippen, das er nicht verstecken konnte, aber aufgrund der Situation versuchte. "Und jetzt?" fragte ich Marco unsicher. "Jetzt" sagte er genau so pessimistisch-optimistisch wie ich und raufte sich die Haare: "Müssen wir auf die Untersuchungen warten. Das kann leider etwas dauern."
Und er sollte Recht behalten. Es dauerte und dauerte und dauerte. Erst zwei, dann drei Stunden. Stunden in denen unsere Mutter sich nicht meldete. Marco und ich blieben die ganze Zeit da. Ich musste ununterbrochen daran denken, wie ich mich für den gefoulten Mats in Form eines Stoßgebets vor dem Spiel bedankt hatte und dachte wirklich für einige Minuten, ich hätte Lennards Verletzung damit herausgefordert, nahezu verlangt. Eins war sicher, so etwas wünschte ich mir nie wieder. Die Ärzte hatten Klemmbretter mit tausenden Zetteln zum Check-Up und schwirrten um uns und besonders natürlich um Lennard herum, wie aufgescheuchte Hühner. Irgendwann war es dann so weit, er sollte zur Sicherheit von einem der Zuständigen des Vereins in das Krankenhaus gebracht werden, für allumfassendere Untersuchungen. "Ich möchte mit." sagte ich entschlossen zu Lennards Begleiter vom Verein. Er schüttelte genervt den Kopf: "Wer sind sie denn wenn ich fragen darf?" fragte er skeptisch. "Seine Schwester." "Ich kann ihre Sorge verstehen, trotzdem können sie nicht mitkommen. Der Junge ist trotz allem volljährig." sagte er dann noch streng. Ich verdrehte sauer meine Augen und hätte ihm am liebsten angefahren. "Wenn sie das sagen" zischte ich also genervt und schaute ihnen hinterher wie sie den Raum verließen, ohne mich. Sauer verschränkte ich meine Arme vor der Brust. Dann trat Marco wieder in mein Blickfeld. "Komm, ich fahre dich." "Ins Krankenhaus?" fragte ich hoffnungsvoll. Er schüttelte den Kopf: "Nein, nach Hause. Du solltest sie jetzt wirklich alleine lassen. Du hast für Lennard getan was du konntest, glaube mir." Ich warf ihm einen verärgerten Blick zu. Wieso wollten sich denn alle einmischen? Ich dachte Marco würde mich verstehen, aber ihm schien es doch nur egal zu sein. Nur weil er mit seinen dreißig Jahren bei seinen ganzen Verletzungen über die ich schon gelesen hatte, immer alleine im Krankenhaus versauerte, hieß es nicht das mein nicht mal zwanzig Jahre alter Bruder es auch musste. Ich wollte für ihn da sein und Marco stand mir jetzt auch noch im Weg. Was mischte der sich eigentlich ein? Wir kannten uns schließlich kaum. Er spielte sich auf wie ein Vater und wenn ich eins hasste, dann das. "Kannst du mich nicht verstehen? Ich will nicht, dass er sich zurückgelassen fühlt." murmelte ich also leise und versuchte meine Wut zu unterdrücken. Marco schien zu überlegen was er sagen sollte und zuckte dann bloß mit den Achseln: "Yve, du bist kein Arzt. Lass sie machen. Lennard wird dich anrufen sobald ein paar der Ergebnisse feststehen. Komm jetzt, ich bringe dich nach Hause." versuchte er mir nun etwas angespannter zu vermitteln. Ich machte auf dem Absatz kehrt: "Nein danke Marco. Lass mich einfach in Ruhe und spiel dich vor allem nicht auf wie ein Vater, das kann ich gar nicht ab. Ich weiß sowieso nicht, was du ständig von mir willst! Mir ist Lennard einfach gerade wichtiger." zischte ich noch, bevor ich den Raum verließ und die Tür hinter mir zuknallte.

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Schmetterlingseffekt
FanfictionKann man alles einfach so stehen und liegen lassen für die Profikarriere des eigenen Bruders? Genau dafür entscheiden sich die 26-Jährige Yve Kühnert und ihre Familie. Obwohl sie in ihrem Alter schon für sich selbst sorgt lässt sie gemeinsam mit ihr...