10.

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Als ich mich endlich wieder eingekriegt hatte steckte ich vorsichtig meinen Kopf durch den Türspalt. Erst als niemand mehr in dem kleinen Flur vor den Toiletten zu sehen war, traute ich mich wieder heraus und wurde von einer Wolke schlechter Luft empfangen. Ich sah mit Sicherheit aus wie ein scheues Reh, als ich verzweifelt meinen Bruder in den Massen an Menschen suchte. Plötzlich rannte ich dabei noch fast Jenny um. "Yve, wo warst du die ganze Zeit? Du hast das Beste verpasst, die Männer haben beim Torwandschießen im Anzug voll verratzt. Aber sag mal, du und Marco ihr habt so wunderschön getanzt, da stand mir echt der Mund offen Süße. Da konnte man gar nicht anders als hin gucken. Ich wusste gar nicht, dass er so gut tanzen kann. Scarlett wollte nämlich nie tanzen." Jenny hatte wohl gerade den Redefluss ihres Lebens. Ich nickte energisch, schenkte ihr ein kurzes Lächeln und legte meine Hand auf ihrem Unterarm um sie zu stoppen: "Hast du Lennard gesehen? Ich würde wohl gerne Nachhause fahren." fragte ich sie dann. Sie grinste zähneknirschend: "Ja du, der hat glaube ich ein wenig zu tief ins Glas geguckt. Ich habe eben gesehen wie Marco ihn von Jadon weggezogen hat und dann sind die Zwei direkt nach draußen gestürmt - Lennard zumindest und Marco hinterher." murmelte sie. Ich verdrehte meine Augen: "Wo sind wir denn hier? Auf einer Bauernparty? Das ist doch peinlich. Oh man, Lennard." redete ich in meine Hand hinein und schüttelte meinen Kopf. Umgehend machte ich auf dem Absatz kehr und war noch nicht mal draußen angekommen, da sah ich Lennard, der sich übergab und Marco, der daneben stand und ein Glas Wasser hielt. Mein Herz pochte irgendwie ganz schnell. Mir war plötzlich so warm, es war echt total lieb von ihm, dass er sich um meinen kleinen Bruder kümmerte. Die Wärme verflog jedoch schnell, schließlich war es erst Ende Januar und bitterkalt. Bei den Beiden angekommen, räusperte ich mich laut. Schnell erlangte ich Marcos Aufmerksamkeit: "Er hat bei irgendeinem Trinkspiel zusammen mit Jadon total durchgezogen." erklärte er mir. Ich nickte bloß und schenkte ihm ein kleines Lächeln, dass er sofort erwiderte als hätte er nur darauf gewartet. Während mein Bruder sich also die Seele aus dem Leib kotzte, standen Marco und ich nur neben ihm. Das konnte ihm schließlich keiner abnehmen. Irgendwann verschränkte ich meine Arme vor der Brust, in der Hoffnung mich warmhalten zu können Natürlich funktionierte es nicht und schon bald klapperten meine Zähne und das Geräusch durchbrach die peinliche Stille zwischen mir und dem blonden Fußballprofi der mich noch vor wenigen Stunden über das Parkett geschwungen hatte. Marco zögerte wirklich keine Sekunde. Er zog seinen bestimmt unbezahlbar teuren Mantel aus und legte ihn über meine Schultern, sodass er selbst nur noch in Jackett und Hemd vor mir stand. "Marco, nicht" wandte ich ein, doch er schüttelte nur mit dem Kopf. Ich äußerte dennoch weiterhin meine Bedenken: "Ich glaube es wäre besser wenn du deinen Mantel wieder anziehst. Wenn ich krank bin ist es nicht so schlimm, aber wenn du Krank bist und ich bin daran schuld, dann hasst mich ganz Dortmund." ich warf ihm einen bitter ernsten Blick zu. Er lachte leise: "Lass das mal meine Sorge sein. Außerdem ist doch übermorgen dein erster Arbeitstag oder?" zwinkerte er mir zu. Ich konnte nur meine Stirn runzeln. Woher wusste er denn das schon wieder? Obwohl ich mir verkniff ihn zu fragen, bekam ich dennoch eine Antwort von ihm: "Ich habe da so meine Quellen." erklärte er. Ich nickte - schon wieder dieses Grinsen von ihm, es zog mich voll in seinen Bann. Die Geräusche die mein armer Bruder machte, holten mich jedoch umgehend wieder zurück in die Realität. "Könntest du vielleicht ein Taxi für mich und Lennard rufen? Ich habe mein Smartphone nicht vorbei." fragte ich ihn also schnell, während ich meinem kleinen Bruder, der zum ersten Mal in seinem Leben ganz still war, den Rücken tätschelte. Marco biss sich kurz auf die Unterlippe und zögerte: "Ich bin heute Fahrer. Ich kann euch gerne nach Hause bringen." bot er plötzlich an. In meinem Kopf nutzte ich den weiteren "Anfall" von Lennard, um schnell Pro und Kontra abzuwägen. Wir wären auf jeden Fall früher Zuhause. Aber wollte ich wirklich, dass Blondie wusste wo ich wohne? Ich musste das Risiko eingehen, mein Bruder war mir in diesem Moment einfach wichtiger. Marco würde ja auch nicht einfach irgendwann vor meiner Haustür stehen, ich glaube ich war mittlerweile einfach schon fast Paranoid. "Wenn du das Risiko eingehen willst, dass Lennard dein Auto ruinieren könnte, dann gerne." antwortete ich also schulterzuckend. Marco strahlte mich an. Gemeinsam wollten wir Lennard hinten auf der Rückbank seines Autos verfrachten. Marco drückte ihm vorsichtshalber noch eine Plastiktüte aus dem Supermarkt in die Hand, obwohl ich mir sicher war, dass bei ihm nicht mehr viel herauskommen würde. Danach stand ich neben ihm und schaute ihn fragend an: "Du musst das Auto schon aufschließen, sonst können wir ihn nicht hinein setzen." bemerkte ich also altklug. Marco schüttelte lachend den Kopf: "Würdest du mir dann bitte die Schlüssel aus meiner linken Manteltasche geben?" Ich wurde sofort rot, während meine Hand in den Tiefen seiner Jackentasche wühlte. Danach hielt ich ihm den schweren Schlüsselbund unter die Nase und wir stiegen ein, nachdem wir meinen kleinen Bruder anschnallten.
Während der Fahrt war es still. Marco musste sich auf das Fahren konzentrieren und ich war einfach froh, endlich die Ruhe genießen zu können. Erst jetzt bemerkte ich das Dröhnen meines Trommelfells und das Puckern meiner Füße durch die hohen Schuhe, von denen ich mich direkt in seinem Auto entledigte. "Meinst du, dass Lennard jetzt Ärger bekommt?" fragte ich ihn irgendwann kleinlaut. Marco musste nicht überlegen, er schüttelte direkt den Kopf: "Nein, erstmal ist ja jetzt Länderspielpause das heißt der BVB muss in den nächsten zwei Tagen mit keiner katastrophalen Leistung von ihm rechnen. Außerdem hatte das jeder von uns schon mal. Das es ihm morgen wahrscheinlich peinlich ist, ist wohl Strafe genug." erklärte er gelassen und warf mir von der Seite ein Lächeln zu. Beruhigt ließ ich mich weiter in den weichen Autositz sinken. "Bist du auch mit der Nationalmannschaft weg?" fragte ich daraufhin dann doch interessiert. Er nickte stolz: "Ja, wir fliegen nach Frankreich." Er schien sich echt darauf zu freuen. "Und deine Freundin, kommt die auch mit?" testete ich ihn. Nun war ich diejenige, die ihm einen Blick zu warf, während er sich auf die Straße konzentrierte und versuchte keine Miene zu verziehen. "Scarlett? Nein. Das wäre es ja noch." antwortete er beinahe schon spöttisch. Obwohl ich vor Neugierde fast platzte, fragte ich nicht weiter nach. Wir waren auch an unserer Wohnung angekommen. "Lennard sei bitte leise. Nicht, dass du Mama aufweckst." ermahnte ich ihn, als er sich völlig fertig an das Auto lehnte und seinen Kopf an dem kalten Fenster kühlte. Marco und ich fingen gleichzeitig an, ihn dafür auszulachen. Erst jetzt bemerkte er, dass ich plötzlich viel kleiner war als zuvor. Sein Blick fiel auf meine Schuhe, die ich in meiner Hand hielt. Er grinste amüsiert, sagte aber nichts dazu. "Soll ich dir noch helfen ihn hoch zubringen?" fragte er daraufhin sehr zuvorkommend. Ich schüttelte den Kopf: "Nein, das wäre echt zu viel verlangt. Danke für deine Hilfe." lächelte ich. Marco nickte, auch lächelnd. Nachdem er kurz einen Blick an meinen Bruder richtete, schaute er zu mir zurück. Direkt in meine Augen. Wieder war es so, als würden sie mich in seinen Bann ziehen. Wie sein Lächeln. Ohne, dass ich es erwartete kam er dann auf mich zu und umarmte mich innig. Ich ließ mich einfach von ihm in seine starken Arme ziehen und wehrte mich gar nicht. Irgendwie brauchte ich das in diesem Moment, dass mich jemand einfach nur hielt. Es war keine kurze Umarmung, um sich zu verabschieden. Diese war anders. Als wir uns lösten, gab ich ihm natürlich seinen Mantel zurück und schob Lennard genervt und erschöpft von diesem ereignisreichen Abend in Richtung Haustür, nur um dabei zu bemerken wie wunderbar meine Haare nach seinem Parfüm durch den Mantel rochen. Das aller schlimmste war aber, dass dieser Geruch mir auch noch mehr als nur gut gefiel.

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