"Hast du geweint?" fragte er plötzlich, nachdem er mich eine Zeit lang musterte. Ich verdrehte meine Augen und versuchte durch die Tür zu gehen, aber er ließ mich natürlich nicht. Eher schaute er mir weiterhin eindringlich in die Augen und wischte zärtlich mit seinem Daumen die restlichen Tränen aus meinem Gesicht. In mir kribbelte plötzlich alles. Seine Hand, die verweilte auf meiner Wange, während sein Daumen immer wieder sanft über meine Haut streichelte. Ich wusste gar nicht wie mir geschieht, doch es kam mir vor als würde er in meinen Augen nach irgendwelchen Antworten suchen. Antworten, die ich ihm eigentlich nicht geben wollte. "Ach keine Ahnung. Der erste Arbeitstag war wohl irgendwie anstrengender als gedacht." log ich also, um eine Frau zu schützen, die mich, ohne mit der Wimper zu zucken, vor wenigen Minuten noch niedergemacht hatte. Ich verstand es nicht. Ich verstand einfach nicht, wie er sie lieben konnte. Plötzlich zog er mich wie selbstverständlich an seine Brust, obwohl ich nass und kalt war und wir uns doch eigentlich noch total fremd waren. Dabei stieß er die Haustür leise mit dem Fuß zu. Aus dem Wohnzimmer hörte ich derweil noch einige andere Stimmen, als die meines Bruders, die mir teilweise bekannt vor kamen. Irgendwann legte auch ich meine Arme um Marcos Körpermitte. Ich hatte das Gefühl, dass er immer wusste, wann eine Umarmung nötig war und ich konnte nicht behaupten, dass sie mir nicht gut getan hätte. Als er sich von mir löste, musste ich ein wenig lächeln. "Schon besser?" fragte er skeptisch. Ich nickte. Schon war die Gelegenheit ihm von den Worten seiner Freundin gegen mich zu erzählen irgendwie verflogen. Er zwinkerte mir noch zu, dann verschwand er bei den anderen ihm Wohnzimmer.
Ich eilte danach die Treppen hoch und verschwand im Bad. Nachdem ich mir ordentlich Zeit gelassen hatte in der Badewanne, schmiss ich mich in bollerige Jogginghosen und ein viel zu großes Sweatshirt und danach ging es mir auch schon nicht mehr ganz so schlecht. Ehrlich gesagt hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon längst vergessen, dass mein Bruder Mannschaftskollegen eingeladen hatte. Auch die Begegnung mit Marco war schon längst wieder in den Hintergrund gerückt. Ich schlenderte also relativ unbekümmert in unsere große Wohn-Ess-Küche und schob mir eine Tiefkühlpizza in den Ofen, nur um von mindestens sechs Augenpaaren vom Sofa beobachtet zu werden, als ich wieder aufsah. Lennard grinste mich an: "Da bist du ja wieder Yve. Bock auf 'ne Runde FIFA?" fragte er glücklich. Er schien ja wieder quietschwiedel zu sein. Mein Blick wanderte von ihm zum Fernseher, auf dem das Spiel schon lange zu flackern schien. Ich nickte: "Aber nur so lange meine Pizza im Ofen ist." und zuckte mit den Schultern. "Du kannst für mich spielen. Ich liege im Rückstand, vielleicht holst du ja noch etwas für mich heraus." lächelte Marco dann und klopfte mit seiner freien Hand auf den Platz neben sich. Ich schmiss mich ohne groß darüber nach zu denken neben ihn in die Federn und riss ihm grinsend den Controller aus der Hand: "Dann sie zu und lerne." Tatsächlich gelang es mir meinen eigenen Bruder, Marcel und Jason, während meine Pizza im Ofen vor sich hin bruzelte, abzuziehen und Marco wieder auf den ersten Platz zu bringen. Irgendwann hatte er total auffällig seinen Arm auf der Lehne hinter mir platziert, als er mit mir mit fieberte. Immer wenn es mir gelang ein Tor zu schießen, hielt er mir die flache Hand zum einschlagen hin und er war mir ganz nahe. Das war echt ein funktionierender Ansporn und das Gefühl von Unwohlsein verschwand nach wenigen Sekunden, als ich seinen Duft wieder roch. "Wieso kannst du bitte so gut spielen?" fragte Marcel, als ich Marco den Controller schon wieder herüber gereicht hatte. "Bei so einem Bruder ging es doch nicht anders. Seit Jahren werde ich gedrillt. Vielleicht habe ich mir auch ein paar Tipps im Internet durchgelesen." erklärte ich amüsiert. Lennard verdrehte die Augen. Dann klingelte der Küchenwecker. Ich sprang auf, um meine Pizza aus dem Ofen zu holen. Gerade als ich mich von den Männern verabschiedet und den Raum verlassen hatte, um meinen Bruder nicht bei seinem Männerabend zu stören, hörte ich wie mir jemand nachkam. Marco schloss leise die Tür zum Flur hinter sich und warf mir einen erwartungsvollen Blick zu. "Yve, mich lässt das irgendwie nicht los. Hast du wirklich wegen der Arbeit geweint oder war es wegen etwas An derem?" Ich biss mir ertappt auf die Unterlippe und seufzte: "Marco, ich will auf keinen Fall deine Freundin in ein schlechtes Licht rücken, aber ich kann mir nicht gefallen lassen, wie sie mit mir umgeht. Nicht nur, dass sie mir dein Trikot unmittelbar nachdem du weg warst aus der Hand gerissen hat sondern auch, dass sie im Laden aufkreuzt, nur um mich total zu erniedrigen sollte dir zu Denken geben. Generell wie sie über dich als Gegenstand redet. Das ist doch nicht normal.","Scarlett war da?" fragte er mich total überrascht. Ich nickte bloß. Der Fußballprofi raufte sich die Haare und griff nach meiner Hand: "Hör zu Yve. Ich regel das, auch das mit dem Trikot. Aber vielleicht solltest du wissen, dass Scarlett einfach nicht über unsere Trennung hinweg zu kommen scheint. Ich bin von ihr getrennt und das schon seit über einem Jahr. Es tut mir leid, dass sie dich da jetzt auch noch mit herein zieht." erklärte er. Ich versuchte, nicht allzu überrascht zu wirken über den Fakt, dass die zwei wirklich getrennt waren und ich wohl mitten in einen Rosenkrieg hineingeraten war. "Du, mir ist das alles zwischen euch wirklich egal. Ich will nur nicht, dass sie mich weiterhin beleidigt und mir nachstellt." lächelte ich, diesmal ein wenig gelassener als zuvor. Marco nickte besorgt. Ich bemerkte, dass es ihm wirklich leid tat. Er schien über etwas zum grübeln, entschloss sich dann mir es doch zu erzählen: "Manchmal ist sie einfach da und verhält sich so, als wäre die Trennung nie geschehen. Sie ist da, tut so als hätten wir ein Date. Taucht bei den Spielen und Trainings auf oder anderen Veranstaltungen, nur um uns im Gespräch zu halten. Ich kann machen was ich will. Sie geht einfach nicht." den Rest murmelte er nur noch verzweifelt. Ich strich ihm fürsorglich über den Oberarm, nachdem ich meine freie Hand dort platzierte: "Sie scheint dich wahrscheinlich einfach noch sehr gerne zu haben. Wer kann es ihr verübeln? Natürlich sind ihre Mittel mehr als fragwürdig. Du bist doch aber ein erwachsener Mann und solltest endlich mal Tacheless mit ihr reden, damit sie vielleicht endlich aufhört. Soweit ich dich kenne, hast du das noch nicht." Marco schüttelte seinen Kopf und schaute zu Boden.

DU LIEST GERADE
Schmetterlingseffekt
FanfictionKann man alles einfach so stehen und liegen lassen für die Profikarriere des eigenen Bruders? Genau dafür entscheiden sich die 26-Jährige Yve Kühnert und ihre Familie. Obwohl sie in ihrem Alter schon für sich selbst sorgt lässt sie gemeinsam mit ihr...