6. b) Das Rennen gegen die Zeit

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Der Wind schlug mir in das Gesicht. Er war wie eine zornige Faust, die meine Furcht in ihre kräftigen Hübe verwandelte. Er spornte mich an. Ein Schlug und ich beschleunigte meinen Lauf. Ein weiterer Schlag und mein Lauf wurde zu einem Sprint. Die Energie, die wie ein Blitz durch meine Adern zuckte, trieb und trieb mich bis ich so schnell lief wie ich nur konnte. Bis in die Kampfarena.

Dort hatte ich sie zurückgelassen, und dort hoffte ich, sie zu finden.

Staub war das einzige, was ich finden konnte.

Mein Atem rasselte. In meinen Ohren pulsierte mein bis in meinen Hals hammerndes Herz. Meine Arme und Beine zitterten als wollten sie sich beschweren. Doch ich schenkte ihnen kein Gehör. Meine Augen waren das einzige, was ich brauchte.

Schwerter und Staubhaufen lagen verteilt herum, schlagartig beendete Kämpfe. Die Kämpfer waren verschwunden. Ares war verschwunden. Annabeth war verschwunden.

Wo konnte sie nur sein? Wenn ich sie nicht hier fand, konnte sie überall sein, überall konnte sie liegen, bewusstlos, zu Tode verängstigt oder verletzt, oder auch...

Ich schüttelte mir den Gedanken ab, doch das Bild verdrängte die Arena von meinen Augen. Wieder und wieder sah ich sie und nicht den staubigen Arenaboden. Sie lag in meinen Armen...nass, ...ertrunken.

Der Long Island Sound! Meine Füße rissen mich voran zum See hinaus. Sie war dort.

„Da ist Chiron, vielleicht hat er 'ne Ahnung, wo sie stecken könnte." Grover, völlig außer Atem, zupfte an meinem Shirt, um mich auf Chirons weiße Gestalt aufmerksam zu machen, die in einem Affenzahn auf uns zugelaufen kam. Ich riss mich von ihm los und stürmte aus dem Tor. Aber Chiron fing mich wie einen entlaufenen Hund.

Ich riss und zerrte und schlug, doch er ließ mich nicht los.

„Lass mich! Bei den Göttern, lass mich gehen!", schrie ich. Jammerte ich und zog weiter an meinem Arm. Wie konnte er mich nur so quälen und mich nicht gehen lassen. Die Zeit! Ich würde zu lange brauchen, allein der Weg war zu weit. Wenn Chiron mich noch weiter aufhielt, dann-

„Gut, dass alle wohlauf sind, ich hatte schon die Befürchtung, dass noch mehr aufkreuzen würden", unterbrach er mich. Erst dann bemerkte er, wie wir ihn anstarrten.

„Hannah wird euch noch alles erklären." Er tätschelte mir die Schulter als wäre ich bloß wegen der Kämpfe aufgebracht. Pah!

„Lass mich los!", schrie ich wieder und zerrte und riss an meinem Arm. Chiron griff mich fester und zog mich zurück. Noch einen Schritt weiter von Annabeth entfernt. Noch eine Sekunde verschwendet.

„Ruhig Blut, Freund. Was macht ihr hier draußen, solltet ihr nicht längst beim Abendessen sein? Jetzt beherrsche dich doch, Percy, du benimmst dich wie ein Kampfhund."

Ich wollte ihm alles erklären, doch aus meinem Mund kamen keine Worte, nicht einmal ein Stottern, mit dem ich ihm hätte erklären können, dass ich es nicht geschafft hatte, alle zu retten. Dass Annabeth noch irgendwo war, vermutlich in Gefahr, so, wie ich sie in meinem Traum gesehen hatte. In meinem Hinterkopf tickte eine imaginäre Uhr, die mich hetzte, weiter nach ihr zu suchen, mir die Zeit abzog, in der ich sie noch unversehrt finden konnte. Sie vor dem Tode bewahren konnte.

Nein, ich konnte nicht sprechen, die Worte würden mich ersticken. Erstickt. Ertrunken.

Es war Grover, der mich aus meiner Qual befreite.

„Annabeth ist verschwunden." Mit zitternder Stimme fragte er Chiron um Erlaubnis, nach ihr suchen zu dürfen, doch ich hörte seine Worte nicht. Mit einem tauben Gefühl in meinem Körper und benebeltem Blick sah ich, fühlte ich, wie Chiron zur Besinnung kam. Ich spürte, wie er meinen Arm erschrocken losließ. Er rief mir etwas hinterher. Doch Worte würden mir nicht zu neuer Luft verhelfen.

Percy Jackson - Der Feind des Halbgottes, inspiriert von Rick RiordanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt