Der leere Stuhl | 3

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Ross Kingston nahm die Tageszeitung entgegen, die ihm der Leiter der Abteilung, Alton Webb, über dessen Schreibtisch hinweg reichte. Sein Gesicht war ernst, noch ernster als sonst, was Agent Nash beunruhigte. Er, Nolan und Barron beobachteten das Geschehen von seinem Schreibtisch aus. Das Büro ihres Chefs war aus Glas und Vincent kam sich jedes mal wie in einem Goldfischglas vor, wenn er den Glaskasten betrat.
 
Er saß auf seinem Drehstuhl, während Nolan sich an seiner Tischplatte anlehnte, von wo aus man den besten Blick auf das Büro seines Vorgesetzten hatte. Barron stand mit verschränkten Armen daneben.
 
„Was meint ihr? Bekommt King einen Anschiss?", überlegte Dean laut.
 
Nash zuckte mit den Schultern. „Wir arbeiten erst seit zwei Wochen an dem Fall und haben noch nichts gefunden. Was können wir denn bisher falsch gemacht haben?"
 
„Vielleicht gerade weil wir bisher noch nichts neues gefunden haben", schlug Barron vor.
 
Dean schüttelte den Kopf. „Andere Teams haben viel länger nichts gefunden. Das kann der uns nicht vorhalten."
 
„Wer weiß", murmelte Nash. Webb war nicht gerade dafür bekannt, glimpflich mit seinen Agenten umzugehen.
 
„Vielleicht haben die dir vorgestern ja auch Falschgeld angedreht oder so." Nolan warf einen Seitenblick auf Nash. Er versuchte schon den ganzen Tag ihn über den Pokerabend auszuquetschen, doch Vincent zeigte sich seltsam bedeckt und konzentrierte sich lieber auf den Mord, der am gleichen Abend einige Straßen weiter passiert war. Nachdem sie ihn kontaktiert hatten, war Nash einer der ersten am Tatort gewesen. Vier Tote in der Nähe des Restaurants exakt an diesem Abend, kurz nachdem der Großteil der Spieler gegangen war, konnten kaum ein Zufall sein.
 
„Klar", tat es Vincent ironisch ab und ging nicht auf Nolans Provokation ein. Stattdessen beobachtete er, wie sich King in Webbs Büro erhob. Barron war mit wenigen Schritten an ihrem Platz und auch Nolan drückte sich von der Tischkante ab und ging mit schnellen Schritten zu seinem eigenen Schreibtisch, als King aus dem Büro kam.
 
Nash machte sich nicht die Mühe, sich mit seinem Drehstuhl wieder zu seiner Arbeitsplatte zu drehen, da King direkt auf ihre Tischgruppe zukam. Er war sich sicher, dass er sie längst aus dem Goldfischglas gesehen hatte und wusste, dass sie ihn beobachtet hatten. Sein Verdacht bestätigt sich, als King wortlos die Zeitung auf seinen Tisch fallen ließ.
 
Nash drehte sich um, doch Nolan war schneller gewesen und hatte über den winzigen Sichtschutz gegriffen. „Dekret zur Verstärkung an Grenzüberwachung geplatzt – Präsident ändert Meinung zu mehr Personal an Mexiko-Grenze", las er vor. Vincent hatte den Artikel bereits gelesen, doch er wusste nicht, was das mit ihrem Fall zu tun haben sollte.
 
„Webb denkt, dass Jordan dafür verantwortlich ist", erklärte King.
 
„Jordan?", fragte Holly Barron ungläubig, „Sie glauben, dass er so viel Einfluss hat?"
 
„Webb glaubt das. Er ist der Meinung, dass Jordan seine Finger da mit im Spiel hat und will, dass wir der Sache nachgehen." King ging zu seinem Schreibtisch, der einzeln in einer Ecke ein paar Meter entfernt stand. „Und das sollten wir schnell tun", fügte er noch hinzu, „Dieser Dreckskerl weitet seine Geschäfte nämlich langsam aber sicher auf die internationale Ebene aus, was heißt, dass sich Interpol ebenfalls für ihn interessiert. Aber das bedeutet nicht, dass wir uns ausruhen können. Es bleibt nach wie vor an uns hängen."
 
Interpol war keine Organisation, die eigene Ermittler besaß. Sie koordinierte lediglich die Zusammenarbeit zwischen den 190 Mitgliedstaaten. Es hieß also nur, dass in anderen Ländern ebenfalls nach Jordan gesucht wurde. Trotzdem durfte jedes Land entscheiden, ob es die Person, wenn sie sie schnappten, auch auslieferten. Und vor allem war es keine Garantie dafür, dass die anderen Länder Jordan, falls er in anderen Länder auffällig wurde, auch schnappten.
 
King blickte auf die Uhr und überlegte kurz. „Nolan, Sie bleiben hier und sehen sich den Dreifach-Mord an, an dem Nash bisher dran war. Vielleicht hilft eine zweite Meinung", äußerte er schließlich, „Und Sie, Nash, fahren zusammen mit Barron zu Jennings. Ich will wissen warum er so plötzlich und scheinbar ohne jeden Grund seine Meinung geändert hat. Hinterfragen Sie das, machen ihm aber keinen Druck."
 
Nash nickte. Es passte ihm zwar gar nicht, dass King ihnen indirekt den Befehl gegeben hatte Jennings mit Samthandschuhen anzufassen. Seiner Meinung nach sollte man jeden Menschen und vor allem jeden Verdächtigen gleich behandeln ungeachtet wie viel Macht und Geld er hatte, aber er würde sich trotzdem daran halten. Jennings war ein Mann, der mit einem einzigen Anruf all ihre Karrieren vernichten konnte. Und er würde gerne noch eine Weile Special Agent bleiben.
 
Vincent gab Nolan die Akten und Fotos vom Tatort. Ihm entging dabei nicht Deans leicht mitleidiger Blick. Zwar wäre er mit jedem lieber zu Jennings gefahren als mit Barron, aber er verstand Kingstons Wahl. Barron kannte sich von ihnen wohl am besten mit Politik aus und außerdem war Nolan ein zu großer Trampel um ihn auf einen so hochrangigen Politiker losgehen zu lassen.
 
King selbst glaubte nicht an eine Verbindung und wollte deshalb nicht seine Zeit mit dieser in seinen Augen unnötige Befragung verschwenden. Ihn hatte er vermutlich mitgeschickt, da er Barron die Befragung nicht alleine machen lassen wollte. Dabei zweifelte er nicht an ihrer Kompetenz, sondern an ihren Menschenkenntnissen, von denen Holly Barron ungefähr so viel besaß, wie ein Kleinkind, das in der Stadt auf einen Fremden zeigt und zu seiner Mutter „Guck mal, Mami, wie dick der Mann da ist!" sagt.
 
Wenig später waren Nash und Barron in ihrem Ford Taurus auf dem Weg zu Jennings. Dieser Wagen war das perfekte Gegenteil zu Nolans Ford und hätte Nash es nicht besser gewusst, hätte er gedacht, dass das Auto nagelneu war. Es roch sogar nach Neuwagen. Vorhin hatte er darauf bestanden zu fahren, weshalb er jetzt hinter dem Steuer saß, während Barron sich leicht beleidigt auf den Beifahrersitz verzogen hatte.
 
„Langsamer", sagte sie, „Die Geschwindigkeitsbegrenzung beträgt nur–"
 
„Ich weiß", unterbrach Nash sie, unterdrückte ein Augenrollen und trat stattdessen provokant noch ein wenig mehr auf das Gaspedal.
 
Barron sah ihn kurz böse an, aber dann beschloss sie darüber hinwegzugehen und begann stattdessen ungefragt über die Papiere auf ihrem Schoß zu erzählen: „Das sind die Verhaftungen der letzten drei Jahre, die irgendwie mit Jordans Geschäften zu tun haben könnten."
 
„Es wurden schon einige festgenommen, aber wie King sagte, sie sind wie Zahnräder. Jeder weiß nur so viel, damit er seine Aufgaben erfüllen kann."
 
„Ja, aber je höher man in der Befehlskette geht, desto größer werden die Zahnräder. Und die größeren müssen auch mehr wissen."
 
Nash musste ihr recht geben. Der Gedanke war nicht schlecht. „Und wie wollen Sie an die rankommen?"
 
„Das Problem ist nicht an sie ranzukommen, sondern sie zu erkennen. Wie Jordan wahrscheinlich auch verstecken sie sich vor aller Augen. Ich versuche anhand der Verhaftungen und allen Informationen, die wir haben, die Kandidaten zu finden, die am wahrscheinlichsten eine höhere Stelle in Jordans Imperium haben."
 
„Die Idee ist wirklich gut", gab Vincent zu und Barron strahlte. Doch ihr blieb keine Zeit die Anerkennung ihres Kollegen zu genießen, denn vor ihnen tauchte das Deluxe-Hotel auf. Ein Nobelhotel, in dessen Restaurant sie sich mit Jennings treffen wollten, da er, wie bereits zwei Wochen zuvor, geschäftlich in der Stadt war. Er aß dort zu Mittag.
 
Nash parkte und rückte im Rückspiegel noch seine Krawatte ein wenig zurecht. Barron hatte das nicht nötig. Ihr Kleidung war perfekt und langweilig wie immer.
 
Die Empfangsdame führte die zwei Agenten zu ihm, nachdem sie ihr ihre Marken gezeigt hatte. Der etwas blasse Politiker saß an einem der Tische mit den makellos weißen Tischdecken und eine Stoffserviette lag über seinem wohlgenährten Bauch, damit er beim Essen seinen Anzug nicht bekleckerte.
 
Als Nash und Barron auf ihn zukamen, schob er den Teller von sich weg, nahm die Serviette, wischte sich damit den Mund ab und legte sie auf den Tellerrand ab.Dann stand er auf und hielt den Bundesagenten die Hand hin. „Kenneth Jennings", stellte er sich unnötigerweise vor, „Alton Webb hat Sie angekündigt. Er sagte, Sie hätten einige Fragen an mich?"
 
„Special Agents Nash und Barron. Wir haben ein paar Fragen bezüglich des Dekrets."
 
„Bitte setzten Sie sich." Er deutete auf die zwei noch leeren Stühle am Tisch und ließ sich selbst wieder nieder. „Fragen Sie. Auch wenn ich nicht weiß, was es da zu fragen gibt und warum vor allem das FBI sich dafür interessiert." Sein Lächeln war höflich, aber distanziert. Nash glaubte trotzdem ihm etwas Nervosität anzusehen, doch falls das tatsächlich zutraf, wusste der Mann es gut zu überspielen.
 
„Ich bin mir sicher, Sie haben bereits etwas von „Jordan" gehört", eröffnete er die Befragung.
 
„Natürlich. Das soll doch dieses Verbrechergenie sein, den angeblich noch nie jemand gesehen hat. Ich muss zugeben, ich habe diese Legende stets belächelt."
 
„Oh, er ist real. Sehr real", sagte Vincent, „Und er hätte einen guten Grund das Dekret verhindern zu wollen, was letztendlich ja auch geschehen ist."
 
„Es scheint so als wären Sie massiv an der Entscheidung, das Dekret doch nicht zu unterzeichnen, beteiligt gewesen", fuhr Barron fort.
 
Jennigs richtete sich auf. „Ich will doch hoffen, dass Sie mir nicht vorwerfen mit diesem Jordan in irgendeiner Verbindung zu stehen."
 
„Wir wollen lediglich die Hintergründe Ihrer plötzlichen Meinungsänderung erfahren", sagte Nash ruhig.
 
Der Politiker lehnte sich wieder zurück, war aber lange nicht so entspannt wie vorher. Er löste seine gefalteten Hände, hob sie leicht an, um sie gleich darauf wieder zu verschränken. „Ich habe noch einmal einige Nächte darüber geschlafen und mich umentschieden. Ich weiß nicht, was daran verdächtig sein sollte."
 
„Sie waren einer der stärksten Befürworter des Dekrets", äußerte Barron.
 
„Das stimmt", bestätigte Kenneth Jennings, „Bis zu dem Abend, an dem ich eine Eingebung hatte."
 
„An dem Sie hier in der Stadt waren."
 
„Richtig. Ein wenig Abstand hilft einem zu denken, was?" Er lachte kurz auf, aber es klang schrill und falsch.
 
„War das dann alles?", fragte er schließlich, was ein diskreter Befehl war, das Gespräch zu beenden.
 
Nash und Barron erhoben sich. Sie wussten, sie würden nicht mehr Informationen bekommen und obwohl Nash sich nicht gerne vorschreiben ließ, wann seine Befragung zu ende war, bedankte er sich bei Jennings für dessen Zeit und verließ das Gebäude.
 
Als die beiden Agenten wieder im Auto saßen, lockerte Vincent als aller erstes seine Krawatte. Er hasste es, dass sich die oberen Zehntausend für etwas besseres hielten und ständig eine Sonderbehandlung bekamen, nur weil sie Geld im Überfluss hatten. Das war auch einer der Gründe, warum er Ever so voreilig vorgeworfen hatte ihn ausgenutzt zu haben, obwohl er es besser gewusst hatte.
 
„Was halten Sie von Jennings?", wollte Barron wissen, die schon wieder ihre Papiere auf dem Schoß hatte. Sie war die einzige aus dem Team, die noch alle siezte.
 
Nash sah zu dem Hotel. Er wusste nicht, ob Webb mit seiner Vermutung recht hatte, aber möglich wäre es. Sehr gut sogar.
 
„Er verschweigt uns etwas", sagte er, „Aber ich habe keine Ahnung wie wir ihm das nachweisen sollen."
 
Vermutlich gar nicht, fügte er in Gedanken hinzu.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt