Der alltägliche Wahnsinn | 4

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„Du magst ihn", sagte Evan, als wir auf dem Weg zu seinem Wagen waren, den er zwei Blöcke weiter geparkt hatte. Wir gingen durch die dunklen Straßen und weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.
 
„Und du kannst ihn nicht leiden", stellte ich fest.
 
„Nein, das kann ich nicht. Männer wie er sind gefährlich. Kanntest du ihn?"
 
„Das geht dich absolut nichts an, Shaw."
 
Darauf erwiderte er nichts. Trotz allem war ich immer noch sein Boss, auch wenn ich es hasste, so mit ihm sprechen zu müssen.
 
„Was ist mit Zola?", fragte ich schließlich.

„Wechsel nicht das Thema, Jordan."
 
„Warum nicht? Das Gespräch davor ist immerhin beendet."
 
Evan schnaubte entnervt, gab aber nach. Er wusste, dass er gegen meinen Dickkopf nicht ankam. „Was soll mit ihm sein?"
 
„Er hat sich heute seltsam verhalten. Feindselig."
 
Shaw zuckte mit den Schultern. „Zola ist wie ein Pulverfass. Manchmal reicht bei dem Typen ein Funke, dass er explodiert, manchmal ist er regelrecht lammfromm. Was weiß ich, was dem heute über die Leber gelaufen ist."
 
Wieder einmal bewies meine rechte Hand, dass er ein psychologischer Panzer war. Er war ein Felsbrocken und jegliche Subtilitäten prallten einfach an ihm ab. Ihm fehlte schlichtweg das Feingefühl. Normalerweise war das einer der Hauptgründe, warum ich so gerne mit ihm zusammenarbeitete. Er nahm keine falsche Rücksicht darauf, dass ich eine Frau war und war nicht so verdammt emotional wie manche anderen Menschen. Aber manchmal konnte das einem auch tierisch auf die Nerven gehen.
 
„Außerdem", fuhr er fort, „ist das nichts ungewöhnliches. Zola war noch nie gut auf mich beziehungsweise Jordan zu sprechen."
 
Natürlich waren Zola und ich nie die besten Freunde gewesen. Er war der führende Drogenbaron der Gegend, während ich diejenige war, die die Stadt im Grunde kontrollierte. Und wenn ich eins hasste, waren es Drogen. Sie waren dreckig und mir zuwider. Getarntes Gift, hinterhältig und schleichend, das einen in ihre scheinbar süße Umarmung zog, nur um ihnen langsam und unerbittlich das Leben zu rauben. Wenn man einmal in ihrem Bann war, kam man nie wieder davon weg. Ich hatte Junkies gesehen, die verdreckt und mit trüben Augen auf der Straße gesessen hatten und verkümmert waren, doch das schlimmste war, dass sie sich das selbst angetan hatten. Sie hatten all ihr Geld für Drogen ausgegeben, zurückgegeben hatten sie ihnen nichts. Sie lösten keine Probleme, auch wenn sie einem das anfangs vorgaukelten. Sie verschlimmerten sie nur noch und erschufen neue.
 
Zola war das egal. Er wollte nur das Geld. Ich hatte andere Wege gefunden, an Reichtum und Macht zu kommen. Ohne Drogen. Im Gegensatz zu ihm hatte ich einen Kodex: Keinen Menschen-, Waffen- oder Drogenhandel und kein Verkauf von Informationen, die unschuldige Menschen in Gefahr brachten oder gar töteten. Und was sollte ich sagen? Es hatte funktioniert. Ich war wesentlich weiter gekommen als Zola mit seinen Drogen.
 
Doch trotz all dieser Differenzen hatten wir eigentlich nie große Probleme miteinander gehabt. Es gab ein einfaches Abkommen zwischen uns: Ich mischte mich nicht in seine Geschäfte ein und er sich nicht in meine. Das galt auch für unsere Territorien. Während er die drogenverseuchten Gegenden besetzte, wo die Nachfrage für seine Ware am höchsten war, hatte er mir den weniger lukrativen Rest gelassen. Ein gutes Geschäft. Zumindest ließ ich ihn in dem Glauben. In Wahrheit hatte ich damit den Handel in der Stadt auf die Gebiete eingedämmt, die ohnehin schon verloren waren. Vielleicht war er inzwischen dahinter gekommen, dass ich ihn gewissermaßen gelinkt hatte, aber inzwischen hatte ich zu viel Einfluss, als dass er sich mit mir anlegen würde.
 
„Irgendwas hat da nicht gestimmt", hakte ich noch einmal nach, „Zwischen euch ist nichts vorgefallen?" Ich war das Gefühl nicht losgeworden, dass er darauf gewartet hatte, dass Evan ihn angriff, indem er irgendeine Spitze setzte. Da er das nicht getan hatte, hatte er ihn förmlich dazu provoziert.
 
„Nein, nicht das ich wüsste."
 
Hatte ich mich geirrt? Hatte ich seine Worte nur falsch aufgefasst? Vielleicht, weil ich von einer anderen Spannung, einer anderen Person im Raum abgelenkt gewesen war? Das war schwachsinnig. Trotzdem begann ich, an meiner Wahrnehmung zu zweifeln.
 
„Mach dir über Zola nicht allzu viele Gedanken", meinte Evan, „Aber falls es dich beruhigt, höre ich mich morgen ein wenig um."
 
Ich nickte. Ich hatte ein mieses Gefühl bei der Sache. Ein Bauchgefühl, das ich nicht erklären konnte. Möglicherweise hatte mir aber auch etwas anderes auf den Magen geschlagen.
 
Ich seufzte, nahm meinen Hut ab, fuhr mir durch die Haare und setzte ihn wieder auf. Ich rechnete nicht damit. Ich war in diesem Moment so schockierend ahnungslos, dass mir das im Nachhinein noch mehr Angst machte als die Tatsache, dass wir angegriffen worden waren. Was, wenn Evan nicht da gewesen wäre? Was, wenn ich alleine gewesen wäre? Wäre es anders ausgegangen? Noch schlimmer?
 
Ich war jetzt etwas über sieben Jahre im Geschäft und die Paranoia, die einen anfangs verfolgte, hatte ihre Spuren hinterlassen. Irgendwann begann man auf seine Fähigkeiten zu vertrauen, doch bis dahin litt man unter regelrechtem Verfolgungswahn. Danach begann man langsam, sich wieder sicherer zu fühlen. Die Kunst war, nicht leichtsinnig zu werden, aber auch nicht in ständiger Angst leben zu müssen. Man musste immer das Unvorhersehbare vorhersehen.
 
Doch dieses Mal war ich abgelenkt. Ich war mit meinen Gedanken woanders und das war ein weiterer, verflucht guter Grund, Vincent nie wieder zu sehen.
 
Es war ein Opel. Ein einfaches Auto, das in die Straße einbog. So alltäglich, dass es so gut wie unsichtbar war. Ich bemerkte es erst, als es direkt hinter mir war und das letzte, was ich hörte, war das Klicken einer Waffe, die durchgeladen wurde. Dann ging alles in ohrenbetäubendem Lärm unter.
 
Evan packte mich grob am Arm und riss mich herunter, bevor er mich mit sich nach vorne zerrte. Ich war so überrumpelt, dass ich zwei Sekunden einfach hinter ihm her stolperte, erst danach setzte mein Instinkt ein. Normalerweise konnten diese zwei Sekunden über Leben und Tod entscheiden, doch dieses Mal hatte ich Glück, dass ich noch nicht tot war, als mein Verstand wieder einsetzte.
 
Ich riss mich von Shaw los und im gleichen Moment hatte ich ihn aus den Augen verloren. Doch mein Verstand ließ keinen anderen Gedanken zu als Weg!, weshalb ich einfach weiter rannte. Ich dachte nicht nach, sondern handelte einfach.
 
Meine Beine trugen mich nach links, wo ich ein parkendes Auto ausmachte und kurz darauf schlitterte ich schon über die Motorhaube. Hart schlug ich mit meiner Schulter auf dem Gehweg auf, doch ich kümmerte mich nicht um den dumpfen Schmerz. Er schien unbedeutend und war nicht so stark als dass man ihn nicht hätte ignorieren können. Ich drückte mich an die Autotür. Das kalte Metall vibrierte, als es tapfer versuchte, dem Kugelhagel zu trotzen, der die Karosserie auf der anderen Seite durchlöcherte.
 
Mein Herz hämmerte so hart gegen meinen Brustkorb, dass es beinahe wehtat. Ich schnappte nach Luft und versuchte, die übermächtige Panik zu bekämpfen, die in mir aufstieg und mich zu überwältigen drohte, sonst war ich so gut wie tot. Mein Verstand würde aussetzen und ich würde dem primitivsten meiner Instinkte nachgeben: Der Flucht. Und wenn ich das tat, würde ich wahrscheinlich mit einigen Kugeln im Rücken enden.
 
Deshalb zwang ich mich gewaltsam, mich zu beruhigen. Mit zitternden Fingern griff ich hinter meinen Rücken und zog meine Beretta Px4 Storm aus meinem Hosenbund. Adrenalin pumpte durch meine Adern und betäubte endgültig den Schmerz in meiner Schulter. Meine Waffe nahm mir ein wenig das Gefühl von Hilflosigkeit, war in dieser Situation aber nur ein schwacher Trost. Ich kniff die Augen zusammen, atmete noch einmal tief durch und bemühte mich anschließend, die Angst herunterzuschlucken.
 
Das Auto hatte sich inzwischen ein wenig entfernt und ich wagte es, für einen Moment meinen Kopf aus der Deckung zu strecken. Der Opel war einige Meter weiter zum Stehen gekommen und der Fahrer war gerade dabei, den Rückwärtsgang einzulegen. Ich zuckte zurück, entsicherte meine Beretta und lud sie durch. Ich würde sicher nicht hier herumsitzen und tatenlos darauf warten, dass sie mich umbrachten.
 
Dann sah ich mich um und entdeckte schließlich Evan keine zehn Meter von mir entfernt, wie er sich hinter einem Müllcontainer verschanzte. Ihm schien es gut zu gehen. Stumm fragte er mich, ob es mir gut ginge und ich nickte, woraufhin er mir einige Handzeichen gab. Wir mussten etwas unternehmen. Unsere Angreifer würden nicht so einfach aufgeben und hatten höchstwahrscheinlich wesentlich mehr Munition als wir. Weglaufen kam also nicht in Frage. Allerdings hatten sie einen entscheidenden Vorteil verloren: Das Überraschungsmoment. Wir waren jetzt mehr oder weniger auf sie vorbereitet.
 
Ein weiteres Mal schaute ich durch die Fenster des Wagens. Der Opel stand jetzt auf der anderen Straßenseite und die Schützen stiegen aus. Ich zählte drei plus Fahrer, bevor sie mich entdeckt hatten und das Feuer eröffneten. Ich zog den Kopf wieder ein, presste mich gegen das Wrack und die Scherben der Fensterscheiben prasselten auf mich herab. Ich hatte meine Position verraten. Sie wussten, wo ich war, und mussten mich nur noch holen kommen. Ich verließ mich voll und ganz auf Shaw. Ich vertraute ihm, außerdem hatte ich keine Wahl.
 
Ich sah ihn wieder an, während ich hörte, wie die Männer immer näher kamen. Er hatte etwas in der Hand, das er vermutlich aus dem Container geholt hatte, und zählte von fünf herunter. Ich hielt die Luft an. Meine Nerven waren zum Zerreißen angespannt und Sekunden zogen sich zu Minuten. Doch gerade als ich den Griff meiner Waffe fester umklammerte und mich darauf einstellte, gleich herauszufinden, wie sich ein Schweitzer Käse fühlte, klapperte es in der Nähe und die Köpfe der Männer fuhren herum. Ich nutzte diesen viel zu kurzen, aber kostbaren Augenblick, sprang auf und schoss.
 
Der erste ging zu Boden, allerdings waren sie zu dritt. Die übrigen zwei wirbelten wieder zu mir herum, doch bevor sie mich erledigen konnten, ertönten weitere zwei Schüsse und sie sackten in sich zusammen. Dahinter kam Evan zum Vorschein. Als ich über seine Schulter hinwegsah, entdeckte ich eine Dose und den Fahrer, der inzwischen ausgestiegen war. Noch bevor er seinen Finger um den Abzug legen konnte, hatte er bereits eine Kugel in der Brust und sackte in sich zusammen.
 
Evan zuckte zusammen und vergewisserte sich anschließend, dass jetzt wirklich keiner mehr übrig war, dann wandte er sich wieder mir zu. „Wir sind quitt", meinte ich und sicherte meine Beretta.

Auf seinem Gesicht zeichnete sich das ab, was man mit viel gutem Willen als Lächeln bezeichnen konnte. Und das war wesentlich mehr Gefühlsregung als er sonst zeigte. „Geht es dir gut?", wollte er wissen.
 
„Ja. Dir?"
 
„Dito." Er trat einen Schritt auf die Toten zu und jetzt konnte ich das sehen, was die Männer lange genug abgelenkt hatte, damit wir unsere Chance ergreifen konnten. Es war eine leere Blechdose, die Evan aus dem Müll gezogen und gegen die Wand geworfen hatte. Ich schnaubte. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas unbedeutendes wie eine weggeworfene Dose einmal mein Leben retten würde.
 
Mein Blick fiel auf die Toten, die um uns herumlagen.
 
Shaw hatte sich inzwischen hingekniet und überprüfte den Puls der am Boden liegenden. Ich bezweifelte, dass auch nur einer noch lebte. „Kennst du einen von denen?", wollte er wissen, während er seine Finger in eine der Schusswunden steckte und die Kugel herausholte.
 
Ich sah den Männern in die toten Augen. „Nein", meinte ich, „Zolas Männer?" Diese Sauerei würde zumindest erklären warum dieser Mistkerl sich heute so seltsam benommen hatte.
 
Evan schüttelte den Kopf. „Die sind nicht so gut organisiert."
 
Mir fiel auf, dass er den Angreifer immer noch ansah. „Was ist? Kennst du einen?"
 
Er zögerte. „Ich weiß nicht. Ich könnte den hier schon mal gesehen haben, aber ich bin mir nicht sicher. Gut möglich, dass ich mich irre."
 
Ich ging neben ihm in die Hocke und schob mit dem Lauf meiner Beretta die Hand des Toten beiseite, um das Gewehr vollständig sehen zu können. Ich schnaubte. Mich beschlich eine böse Ahnung.
 
„Das sind M16A4", erkannte ich. Gewehre mit Feuerstoßmodus, bei dem immer drei Schüsse auf einmal abgegeben wurde.
 
„Und?"
 
„Neben der Army gibt es nur sehr wenige, die ihre Leute damit ausrüsten."
 
„Und wer zum Beispiel?"
 
Ich sah ihn ernst an. „Ich, Evan. Ich rüste meine Leute damit aus."
 
Er brauchte einige Sekunden, um das zu begreifen. Sein Ausdruck verdüsterte sich. „Du meinst, das ist einer von uns?"
 
„Sag du es mir. Du hast mehr mit meinen Leuten zu tun als ich."
 
„Würde zumindest erklären, warum er mir bekannt vorkommt. Aber weißt du eigentlich wie viele Leute für dich arbeiten, Jordan?"
 
Ich hob an zu sprechen, doch er hob die Hände. „Vergiss die Frage." Er wusste, dass ich bestens über mein Unternehmen informiert war. Aber dieses Mal hatte ich offensichtlich etwas nicht mitbekommen.
 
Ich zog einen billigen Kugelschreiber aus meiner Jackentasche und begann ebenfalls die Kugeln aus den Toten zu pulen. Ohne Projektil würden die Cops nicht feststellen können, aus welcher Waffe die Männer erschossen worden waren. Die Mordwaffe nicht zu kennen, würde die Ermittlungen um einiges erschweren und sie konnten uns nicht mit den Toten in Verbindung bringen.
 
Ich warf die blutigen Kugeln in den Gully neben uns und richtete mich wieder auf. Sirenen ertönten in der Ferne, die rasch näher kamen. In einem Fenster bewegten sich die Vorhänge und eine dunkle Silhouette riskierte zögerlich einen Blick nach draußen.
 
„Lass uns verschwinden", sagte ich.
 
Er nickte. „Gehen wir."
 
Dann begannen wir zu rennen.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt