Böses Erwachen | 3

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In der örtlichen FBI-Dienststelle ließ sich Vincent auf den Drehstuhl neben seinem Partner fallen.

Dean Nolan sah demonstrativ auf die Uhr und er hob abwehrend die Hände.

„Ich weiß, ich weiß. Ich bin spät dran."

Sein Vorgesetzter hasste Unpünktlichkeit, weshalb sein Partner schon einige Male bei ihm angeeckt war. Er hoffte, dass er es entweder noch gar nicht gemerkt hatte oder er mit viel Glück Gnade walten ließ, weil sie erst gestern erfolgreich einen Fall abgeschlossen hatten. Doch letzteres war mehr Wunschdenken.

„Was war denn los?", fragte Nolan und verkniff sich vermutlich einen dummen Kommentar. Es kam selten vor, dass Nash zu spät kam, was er selbst von sich nicht behaupten konnte.

Nash winkte lediglich ab und richtete seinen Blick auf die Kisten voller Akten, die auf seinem Tisch standen. „Was ist das?", wollte er wissen.

„Hausaufgaben", sagte Dean und klopfte auf den Deckel seiner eigenen Kiste. Die einzige Beschriftung war ein einzelnes J. So, als würde jeder sofort wissen müssen, was damit gemeint war. Doch Nash war zu abgelenkt, um den Namen zu erraten.

„Apropos", äußerte sein bester Freund möglichst beiläufig und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, „Du hast da noch etwas Lippenstift an deinem Kragen."

„Was?" Erschrocken zog Vincent an seinem Hemdkragen und untersuchte ihn hektisch nach Spuren der letzten Nacht. Zu spät fiel ihm ein, dass er das Hemd heute Morgen frisch angezogen hatte, denn Dean grinste ihn bereits breit an. Manchmal hasste er ihn für seine gute Menschenkenntnis.

„Verdammt. Wenn du zu spät kommst, muss es ja eine heiße Nacht gewesen sein. Wer ist sie?"

„Seit wann interessiert dich mein Liebesleben?", entgegnete Vincent.

„Seit du eins hast. Und seit du mit deinen Gedanken Welten entfernt bist."

Er verdrehte die Augen.

„Wer ist sie?", bohrte Nolan weiter.

„Ich weiß es nicht, okay?", fuhr er ihn an, „Als ich duschen war, ist sie gegangen. Sie hat nicht mal eine Nachricht hinterlassen."

Dean schmunzelte. „Dann muss sie gestern Abend ja echt dicht gewesen sein. Wahrscheinlich ist sie erschrocken, als sie dich heute morgen gesehen hat."

Ein weiteres Mal rollte Vincent mit den Augen. Er fand das alles andere als witzig. Diese Frau hatte ihn dazu gebracht, seine ganzen Prinzipien einfach über den Haufen zu werfen und sie mit in seine Wohnung zu nehmen. Und am nächsten Tag verschwand sie ohne ein weiteres Wort? Er konnte sich das beim besten Willen nicht erklären. Auch er konnte eine ganz gute Menschenkenntnis vorweisen und sie war niemand, die nur auf ein bisschen Spaß aus war... oder? Oder lag es an ihm? War sie gestern tatsächlich zu betrunken gewesen, um nicht zu wissen, was sie tat? Sie war ihm nicht so vorgekommen. Was es auch gewesen war, er war sich sicher, dass sie einen guten Grund gehabt hatte.

Er wollte sie wiedersehen, aber er hatte nicht mal ihre Nummer, geschweige denn ihren Nachnamen. Und da Ever nur ein Spitzname war, würde er mit diesem Namen nicht weiterkommen. Aber das durfte er Dean gegenüber nicht zugeben. Nolan würde das nicht verstehen. Er bezweifelte sogar, dass er selbst das vor gestern Nacht verstanden hätte.

„Und was ist hier los?", wollte er ablenken, „Der Typ, über den die vielen Akten sind, muss ja echt ein großer Fisch sein."

Nolan ging auf den fadenscheinigen Themenwechsel nicht ein. Er sah ihn weiterhin an und würdigte die Kisten auf dem Tisch keines Blickes. „Cinderella hat nicht mal ihren Schuh dagelassen?"

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt