Die Liebenden | 1

382 33 19
                                    

Die letzten drei Tage hatte ich gearbeitet. Ich hatte einige Dinge aufzuholen und mein Versprechen, nicht auf eigene Faust zu suchen, gehalten. Vielleicht war es gar nicht schlecht etwas Gras über die Sache wachsen zu lassen. Die Tarot-Karte lag noch immer auf dem Esstisch und war unter einem Papierberg begraben, vor dem ich gerade saß. Vincent hatte ich nichts davon erzählt. Ich wollte nicht, dass er sich unnötig Sorgen machte. Ich glaubte zwar nicht, dass derjenige so dumm war, nachts hier aufzutauchen und zu versuchen mich umzubringen, trotzdem schlief ich neuerdings mit meiner Waffe in der Hand.
 
Ich hatte mich in die Arbeit gestürzt. Es war und würde immer die beste Ablenkung sein, die es gab. In der letzten Zeit hatte ich sie ein wenig vernachlässigt. Ein kriminelles Imperium leitete sich nicht von alleine. Vor allem jetzt, wo Evan weg war, musste ich mich um noch mehr Dinge kümmern. Trotzdem schaffte ich es einiges aufzuholen und bald war ich wieder auf dem neusten Stand. Viel neues gab es nicht, allerdings war der Drogenhandel ein wenig angestiegen. Der Herrscher leistete ganze Arbeit und seine Macht festigte sich Tag für Tag mehr, was mir gar nicht passte. Das Problem war nur, dass ich keine Ahnung hatte wie ich an ihn herankommen sollte. Ich wusste, dass ich mich so schnell wie möglich um ihn kümmern musste, aber ich hatte im Moment andere Dinge zu erledigen, die zuerst meiner Aufmerksamkeit bedurften.
 
Letztendlich war es jedoch weniger als ich dachte. Meine Geschäfte waren fast ein Selbstläufer, Cat erledigte den Rest und die einzigen Dinge, um die ich mich wirklich kümmern musste, waren die großen Coups. Ich hatte inzwischen in Europa Fuß gefasst und schon das nächste Objekt meiner Begierde ausgewählt. Es würde sicher nicht einfach werden, aber ich liebte Herausforderungen.
 
Ich war gerade mit den Telefonaten fertig, als Wally anrief. „Ihr Bruder ist hier, Miss Everton."
 
Na klasse. Voll erwischt. Ich war nur froh, dass ich einen Portier hatte, denn wenn mein Bruderherz einfach hier rein geschneit wäre, wäre ich in Erklärungsnot gekommen.
 
Ich klemmte mir das Telefon zwischen Kinn und Schulter und begann die ganzen Dokumente und die restlichen Spuren von meinen nicht ganz legalen Geschäften zu beseitigen. „Schicken Sie ihn einfach hoch. Danke, Wally."
 
Glücklicherweise hatte ich ein wenig Übung darin Dinge verschwinden zu lassen, weshalb nichts mehr davon übrig geblieben war, als es an der Tür klopfte.
 
Noch bevor ich sie geöffnet hatte, wusste ich welcher meiner beiden großen Brüder davor stand. „Was verschafft mir die Ehre deines unangemeldeten Besuchs?", fragte ich Will und machte einen Schritt beiseite, damit er hereinkommen konnte.
 
„Hab ich dich etwa bei etwas gestört?", stellte er eine Gegenfrage und sah sich neugierig in meinem Apartment um ob ich – vielleicht sogar männlichen – Besuch hatte.
 
„Ich bin alleine, falls du das meinst", sagte ich und machte die Tür zu, „Mach dir keine Hoffnungen."
 
„Schade. Ich dachte, du hättest eine gute Ausrede, weshalb du gestern nicht beim Familienessen warst."
 
„Verdammt." Ich fasste mir an die Stirn. Gestern war Samstag gewesen und ich hatte es völlig vergessen. „Tut mir leid."
 
Er lachte, als er meinen Blick sah. „Schau mich nicht an wie ein Welpe, der ein Kissen zerfetzt hat. Ist jetzt nicht der Weltuntergang, aber wir haben uns gewundert, dass du nicht mal Bescheid gegeben hast. Ist sonst nicht deine Art so was einfach zu vergessen."
 
Ich seufzte. „Ja, ich weiß. Ich habe im Moment nur so viel zu tun."
 
„Das hast du immer und du hast das Essen noch nie vergessen. Also, was ist los?" „
 
Ach, du machst dir Sorgen um mich?", entgegnete ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich verstand endlich, was sein Besuch sollte.
 
„Wir", verbesserte mein Bruder mich, „Und ja, so in der Art."
 
„Mir geht es gut, Will. Alles in Ordnung. Es ist nichts aufregendes passiert und ich war schlichtweg in meiner Arbeit versunken", versuchte ich ihn zu beruhigen und bemühte mich dabei zu klingen als hätte ich ihm das nicht schon hunderte Male vorgelogen.
 
Er nickte zwar, aber ich sah ihm an, dass er dachte, dass da noch mehr war. Womit er nicht mal unrecht hatte. Er kannte mich einfach zu gut, trotzdem würde er niemals auch nur annähernd darauf kommen was es war.
 
„Ich soll dir übrigens noch etwas von Chase geben", wechselte er das Thema, weil er wusste, dass ich dicht machte, wenn er mich direkt auf meine Probleme ansprach. Also versuchte er es hinten rum, aber ich durchschaute ihn. Er zog sein Geldbeutel aus seiner Hosentasche, zog einige Scheine heraus und gab sie mir. „Das Darlehen, das du ihm gegeben hast."
 
Ich blätterte sie kurz durch. Es waren exakt tausend Dollar. Ich steckte sie ein. „Hat er dir erzählt was passiert ist?"
 
„Hat er." Natürlich hatte er das. „Und? Wo ist die Pistole?"
 
„Sicher verwahrt. Damit sie nicht in falsche Hände gerät."
 
„So wie in deine?", entgegnete er.
 
„Ich kann sehr gut damit umgehen, falls du das fragen willst."
 
„Eigentlich wollte ich wissen woher du das Ding hast, seit wann und vor allem warum?"
 
Entnervt stöhnte ich auf. „Ich habe sie gekauft. Legal. Und frag Chase nach dem Warum. Er hat den Grund gesehen. Will, ich muss mich vor euch weder rechtfertigen noch um Erlaubnis fragen."
 
Er hob die Arme und setzte sich an den Tisch, wo kurz zuvor noch der Stapel Papier gelegen hatte. „Schon gut. Ich wollte dir keinen Vorwurf machen. Es hat uns nur gewundert."
 
„Uns?", fragte ich erschrocken, „Habt ihr etwa Dad davon erzählt?" Mein Vater war... nunmal mein Vater. Und ich war seine einzige Tochter.
 
Glücklicherweise schienen sich meine Brüder drüber genauso bewusst zu sein wie ich, denn Will hob beschwichtigend die Hände. „Nein. Glaub mir, ist besser wenn er es nicht weiß. Ich spreche von Chase und mir. Du hast das vor uns geheim gehalten und ich dachte immer wir hätten keine Geheimnisse voreinander. Vor allem wir zwei nicht."
 
Wenn er wüsste. Jedes Mal wenn er etwas in der Art sagte, tat es mir in der Seele weh ihn anzulügen und sein Vertrauen zu missbrauchen, aber ich redete mir ein, dass es nur zu seinem besten war.
 
„Ich habe es euch nicht verheimlicht, ich habe euch nur nichts von der Waffe erzählt. Und was ist schon ein Geheimnis? Jeder von uns hat ein eigenes Leben und jeder hat Dinge, die er dem anderen nicht erzählt. Das ist vollkommen normal."
 
„Aber nicht normal ist, dass wir eigentlich gar keine Ahnung haben, was in deinem Leben los ist. Geschweige denn weshalb du in letzter Zeit so durch den Wind bist."
 
Will blieb die ganze Zeit über erstaunlich ruhig. Es war das schöne an den Gesprächen mit meinem größten Bruder. Er hätte auch schreien können, aber äußerlich blieb er sogar bei so heiklen Themen angenehm gelassen. Meistens zumindest. Vermutlich kam das von seinem Beruf. Als Arzt musste man schließlich auch in den stressigsten Situationen einen kühlen Kopf bewahren.
 
„Ein Freund ist gestorben und das wühlt mich eben ein wenig auf. Das ist alles."
 
Ich musste zugeben, dass mir das nicht leicht über die Lippen kam. Ich hatte mich so daran gewöhnt zu lügen, dass es mich einiges an Überwindung kostet die Wahrheit zu sagen. Aber was hätte ich auch sonst sagen sollen? Dass ich eine gesuchte Kriminelle war, die ein ganzes Imperium zu leiten hatte und dass ein Freund, der gleichzeitig die rechte Hand war, ermordet worden war? Dass ich einen Konkurrenten im Auge behalten musste, während ich nach dem Mörder suchte? Dass ich einen Mann kennengelernt hatte, von dem ich mich einfach nicht fern halten konnte, obwohl er ein FBI-Agent war, der mich vermutlich irgendwann einbuchten würde? Wenn ich ihm das alles sagen würde, bezweifelte ich stark, dass er dann immer noch so ruhig bleiben würde.
  Doch Will nickte und schien sich mit dieser Antwort endlich zufrieden zu geben. Fürs Erste. „Das tut mir leid", meinte er und verzog mitfühlend das Gesicht, „Chase hat mir auch das erzählt."
 
„Aber du wolltest es noch mal von mir hören, was?"
 
Schuldbewusst zuckte er mit den Schultern. „Kanntest du ihn gut?"
 
„Ja, ich habe ihn vor Jahren kennengelernt und seitdem haben wir zusammengearbeitet. Sein Tod war... plötzlich", murmelte ich.
 
„Tut mir leid."
 
Ich nickte als Zeichen, dass ich es zur Kenntnis genommen hatte.
 
„Und... das ist das Einzige?"
 
Ich hob eine Augenbraue. „Reicht das denn nicht?"
 
„So meinte ich das nicht. Chase hat dich nur letztens in der Stadt gesehen. Mit einem Mann."
 
Oh, nein. Bitte nicht.
 
„Na und? Vermutlich ein Kunde." Ich bemühte mich einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten, obwohl ich am liebsten davongelaufen wäre.
 
„Mit dem du Eis isst?", hakte er nach.
 
Na toll. Er hatte mich mit Vincent gesehen. Ich hatte keine Luft auf dieses Thema. „Achso, der. Er ist ein Freund."
 
Auf Wills Gesicht entstand ein breites Grinsen. „Klar", meinte er ironisch.
 
Übertrieben empört stemmte ich die Hände in die Hüften. „William Everton, willst du mir etwa unterstellen, dass ich einen Geliebten habe, von dem ich dir nicht sofort erzählt habe?"
 
Sein Grinsen wurde breiter. „Er ist also dein Geliebter."
 
„Nein, ganz sicher nicht. Er..."
 
Zum Glück rettete mich in diesem Moment mein Handy, das klingelte. Cats Name stand auf dem Display. „Ich muss da ran", wand ich mich aus der unangenehmen Situation.
 
„Du Glückspilz." Will lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
 
Ich streckte ihm die Zunge raus und nahm den Anruf entgegen. „Was gibt's, Cat?"
 
Doch am anderen Ende hörte ich nur Schluchzen. Schlagartig wurde ich ernst. „Catalina? Alles in Ordnung?", fragte ich besorgt.
 
„Sie haben ihn niedergestochen, Jordan", weinte sie.
 
„Was? Wen?"
 
„Cole. Da war so viel Blut und..." Ihre Stimme versagte.
 
Ich stand einfach da und brauchte einige Sekunden um zu begreifen. Cole? Niedergestochen? Meine Gedanken rasten und ich stützte mich am Tisch ab. Will war aufgestanden und sah mich besorgt an.
 
Cats Schluchzen holte mich zurück in die Realität. „Wo bist du gerade?", fragte ich sie und zwang mich ruhig zu blieben, wobei ich mir ein Beispiel an Will nahm.
 
„Im Krankenhaus."
 
Gut, dann war er zumindest nicht tot. Kurz atmete ich durch. „Cat, halte durch. Ich komme sofort." Ich legte auf und sah zu Will. „Ich muss los."
 
Er hinderte mich daran sofort aus meiner Wohnung zu stürmen, indem er mein Handgelenk packte. „Was ist denn passiert?"
 
Ich hob an zu sprechen, aber ich wusste nicht was ich ihm erzählen sollte. „Ich weiß es nicht", gab ich schließlich zu, „Ich muss sofort ins Krankenhaus."
 
„Ist alles in Ordnung?"
 
Ich seufzte. Langsam aber sicher geriet meine ganze Welt aus den Fugen. „Nein. Aber mir geht es gut, falls du das meinst. Es geht um..." Ich suchte nach dem passenden Wort um Cole zu beschreiben. Ich mochte ihn zwar nicht sonderlich, aber das spielte im Moment keine Rolle. „Es geht um den Freund einer Freundin."
 
Will nickte und ließ mich los. „Dann geh. Rufst du mich später an?"
 
„Ja", meinte ich und hatte es im selben Augenblick schon wieder vergessen. Ich knallte die Tür hinter mir zu und machte mich auf den Weg ins Krankenhaus.
 
Der Eingang war überfüllt. Doch ich beachtete die Menschen um mich herum kaum und ging stattdessen sofort zu dem Empfangstresen um nach Cole zu fragen. Die Frau schickte mich den Gang hinunter. Auf den Weg dorthin zwang ich mich ein wenig runterzukommen. Ich holte tief Luft und schmeckte das Desinfektionsmittel, nachdem es überall roch, fast auf der Zunge. Ich hasste den Geruch. Für mich roch er nach Angst, Traurigkeit und auch ein wenig nach Tod.
 
Schließlich entdeckte ich Cat, wie sie in sich zusammengesunken auf einem Plastikstuhl vor dem Operationssaal saß. Als ich ihren Namen rief, blickte sie auf und ich erschrak. Sie hatte völlig verquollene Augen und ihre Hände waren voll mit Blut, von dem auch etwas in ihrem Gesicht hing, weil sie versucht hatte sich die Tränen von den Wangen zu streichen. Sie stand auf und ich nahm sie einfach in den Arm.
 
„Hey. Was ist denn passiert?", fragte ich, nachdem sie sich nach zehn Minuten einigermaßen beruhigt hatte.
 
„Ich kam nach Hause", begann sie mit zitternder Stimme zu erzählen, „Ich habe nach Cole gerufen, aber er hat nicht geantwortet. Und als ich dann ins Wohnzimmer kam..." Ihre Unterlippe begann wieder zu zittern. „Er lag da in einer Lache aus Blut und... alles war rot und ich..." Sie schlug sie die Hand vor den Mund.
 
Ich zog sie wieder an mich und strich ihr über den Kopf. „Schon okay."
 
Den Rest konnte ich mir denken. Sie hatte den Notruf gewählt und war mit ihm hier her gefahren. Vermutlich wurde Cole gerade operiert.
 
Ich führte Cat zu dem Stuhl und sie ließ sich kraftlos darauf fallen. Ich setzte mich neben sie. Es war schrecklich sie so aufgelöst zu sehen und ich hätte gerne mehr getan, aber genau wie ihr waren mir die Hände gebunden. Das einzige was wir tun konnte, war abwarten.
 
Nach einer halben Stunde hatte sie den Schock fürs Erste verdaut. „Willst du dich waschen?", fragte ich.
 
Sie sah herunter auf ihre mit Blut verschmierten Hände und ihr Shirt und es schien ihr erst jetzt aufzufallen. „Ich will hier sein, wenn der Arzt mit Neuigkeiten kommt."
 
„Ich bleibe hier solange du auf der Toilette bist und wenn er herauskommt, rufe ich dich sofort. Versprochen."
 
Sie zögerte, stimmte aber dann zu und verschwand in der nächsten Toilette.
 
Als sie weg war, atmete ich tief durch. Was war nur los? Warum Cole? Oder war der Angriff ursprünglich gegen Cat gedacht? Letzteres schloss ich relativ schnell wieder aus, da der Täter dann nur hätte warten und sie überraschen müssen. Es machte einfach keinen Sinn. Das war kein schiefgegangener Einbruch oder etwas ähnliches gewesen. Ich kannte Cole nicht besonders gut, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er in etwas verwickelt war, das einen Angriff auf ihn in seiner und Cats Wohnung zur Folge haben könnte. Also blieb nur noch eine Möglichkeit, aber die gefiel mir ganz und gar nicht.
 
Cat brauchte eine ganze Weile auf der Toilette, was aber nicht verwunderlich war. Ich wusste wie schwer man Blut abwaschen konnte. Doch als sie zurückkam, hatte sie zumindest wieder etwas Farbe bekommen. Ihr Timing war perfekt, denn gerade als sie sich wieder hingesetzt hatte, kam ein Arzt aus den OP-Saal und auf uns zu. Ich sah die Hoffnung, die in Cats Miene aufblitzte, doch als ich die Körpersprache des Mannes las, schloss ich gequält die Augen.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt