Ich fühlte mich betrunken. Durchgehend. Und das vollkommen ohne Alkohol. Ich hatte nie viel von der Bezeichnung „betrunken sein vor Glück" gehalten, doch das traf es am Besten. Ich wusste, was sich im Körper abspielte, wenn man verliebt war. Ich wusste, dass es eigentlich „nur" ein Zusammenspiel von Dopamin, Oxytocin, Cortisol und Adrenalin war, doch das schien im Moment absolut keine Rolle zu spielen. Meine sonst so rationale Denkweise war dahin und ich konnte rein gar nichts dagegen tun. Und das Schlimmste war, dass es mir nicht mal etwas ausmachte.
Ständig erwischte ich mich selbst dabei wie sich meine Lippen zu einem dämliches Grinsen verzogen. In jeder freien Sekunde, in der ich nicht gerade an etwas anderes dachte, schlich sich der gut aussehende FBI-Agent in meine Gedanken und ich konnte es kaum erwarten ihn wieder zu sehen. Unter anderen Umständen hätte ich mich darüber geärgert, aber im Moment sorgte es nur dafür, dass mein Herz grundsätzlich etwas schneller schlug und mein Puls etwas höher war als sonst. Und das war seltsamerweise ein unglaublich gutes Gefühl.
Es fiel mir schwer mich auf etwas anderes als Vincent zu konzentrieren, doch ich musste mich weiterhin um mein Geschäft und damit auch um weniger angenehme Angelegenheiten kümmern. Vor allem eine davon ging mir besonders auf die Nerven, weshalb ich beschloss mich darüber auf den neusten Stand bringen zu lassen.
„Guten Morgen, Agatha", begrüßte ich Chips Vermieterin freundlich.
Sie schenkte mir ein beinahe zahnloses Lächeln. „Schön Sie zu sehen, Miss Everton. Sie waren eine Weile nicht mehr da", bemerkte sie.
„Viel zu tun", meinte ich und ging an ihr vorbei.
Sie schloss die Tür und deutete auf den Boden. „Dürfte ich Sie vielleicht um einen Gefallen bitten? Könnten Sie mir das da aufheben? Mein Rücken..."
„Natürlich." Ich bückte mich, um den Briefumschlag aufzuheben, der im Flur auf dem Boden lag. „Die Briefträger werden immer fauler", schimpfte sie, während ich den gänzlich weißen Umschlag drehte, um den Empfänger festzustellen.
Es gab keinen. Schon bevor ich den Umschlag gegen das Licht hielt, wusste ich, dass sich darin nur eine einzelne Karte befand.
„Der ist für Seth", sagte ich und tat so als hätte ich den Adressaten gefunden.
Agatha hatte keine Brille auf und konnte demnach auch nicht sehen, dass rein gar nichts auf dem Umschlag stand. Außerdem gab es für sie keinen Grund mir nicht zu glauben, weshalb sie nur nickte.
„Ich bringe ihn ihm gleich hoch."
Sie lächelte mich an und wackelte wieder zurück in ihre Wohnung.
Zwei Stufen auf einmal nehmend stürzte ich die Treppe hinauf und riss die Tür zu Chips Wohnung auf. Es war wie immer dunkel und das Licht, das ich von draußen mit hereinbrachte, flutete den Flur. Zielsicher steuerte ich auf sein Aller Heiligstes zu und achtete nicht auf die Dinge, die auf dem Boden lagen. Seine Bildschirme waren ausgeschaltete, weshalb ich in das nächste Zimmer platzte.
Chips schreckte hoch und sah mich mit einem Ausdruck an, als hätte er gerade einen halben Herzinfarkt erlitten. In der Küche war es ausnahmsweise hell und der Hacker saß über seine Cornflakes-Schüssel gebeugt. Als sein erster Schock sich gelegt hatte, blinzelte er verschlafen. „Kannst du nicht wie ein normaler Mensch einfach anklopfen, Ever?"
Erleichtert atmete ich aus und musste angesichts seines Anblicks lächeln.
„Oder sich wenigstens ankündigen", schob er nach, als er meinen Blick deutete.
Ich sah demonstrativ auf die Uhr. „Wir haben halb drei Uhr nachmittags. Das ist dir bewusst, oder?"
Sein einziges Kommentar dazu war eine Mischung aus einem Schnauben und Grunzen, dann wandte er sich wieder seinen Cornflakes zu.
Ich setzte mich zu ihm an dem kleinen Tisch und ließ den Umschlag unauffällig unter meiner Jacke verschwinden. „Was gibt es denn so wichtiges?", fragte er und gähnte.
„Nichts. Ich wollte mich nur über meine Zahlen erkundigen."
„Deine Zahlen? Wohl eher Jordans Zahlen."
„Nein, meine Zahlen. Ich halte das Geschäft schließlich am Laufen."
Er lächelte. „Was würde er wohl dazu sagen?", überlegte er laut.
Ich schmunzelte, zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck aus der Milchtüte, die auf dem Tisch stand.
Chips stützte seinen Kopf mit seiner Hand ab. „Wie ist er eigentlich so? Jordan, meine ich."
Ich hob eine Augenbraue. „Wie stellst du ihn dir denn vor?"
„Ich weiß nicht. Vielleicht ein bisschen exzentrisch. Oder nein... er ist bestimmt der totale Frauenschwarm. Wie alt ist er überhaupt?"
Ich konnte mein breites Grinsen kaum unterdrücken. Unter anderen Umständen hätte ich so schnell wie möglich das Thema gewechselt, aber die Ironie dieses Gesprächs, die nur ich verstand, ließen mich mutig werden. „Jünger als du denkst", antwortete ich, „Und nicht halb so ausgefallen wie du glaubst. Sonst würde man inzwischen zumindest sein Gesicht kennen."
„Sicher? Vielleicht ist er so auffällig, dass man gar nicht auf die Idee kommt, dass er versucht nicht aufzufallen." Er grinste verschwörerisch und ich schüttelte den Kopf.
„Also? Was machen meine – oder seine – Zahlen?", wechselte ich schließlich doch das Thema.
Er zuckte mit den Schultern. „Alles läuft bestens. Das Geschäft in Europa blüht und ich bin mir sicher, dass wir demnächst mit größeren Einnahmen von dort rechnen dürfen."
Oh ja, das durften wir. Genau genommen hatte ich bereits ein Auge auf etwas ganz bestimmtes geworfen und war gerade dabei jemanden zu finden, der es mir beschaffte. Selbst machte ich mir schon lange nicht mehr die Hände schmutzig, wenn es nicht sein musste.
Zufrieden nickte ich, dann ging ich zu den weniger erfreulichen Dingen über. „Und was ist mit der anderen Sache?"
Auch Chips wurde ernst und setzte sich gerade hin. „Da gibt es weniger gute Nachrichten. Wenn das so weiter geht, dürfte der Herrscher Jordan noch ziemliche Probleme machen. Jetzt, da Tyrese Zola nicht mehr unter den Lebenden weilt, gibt es niemanden mehr, der sich ihm in den Weg stellt. Die gesamte Stadt war, was die Drogen anging, Zolas Revier. Er hat seine komplette Konkurrenz platt gemacht, weshalb sich ihm niemand groß in den Weg gestellt hat. Jetzt, da der Herrscher seinen Platz eingenommen hat, gilt für ihn das Gleiche."
Kurz gesagt: Er scheffelte einen Haufen Kohle mit dem Drogenverkauf und je mehr Geld man hatte, desto mehr Macht bekam man. Ohne Geld keine Macht und ohne Macht kein Geld. Im Grunde total einfach. Zu einfach.
„Und was will Jordan jetzt tun?", wollte Chips wissen.
„Das musst du ihn schon selbst fragen", antwortete ich. Um ehrlich zu sein hatte ich keine Ahnung. Mit ihm zu verhandeln kam nicht in Frage. Das Gleiche galt für tatenlos zusehen. Es musste etwas passieren.
„Was auf jeden Fall nicht schaden kann, ist seine Identität zu wissen", wies ich Chips schließlich an.
Doch der schüttelte den Kopf. „Vergiss es, Ever. Ich habe schon das halbe Internet nach ihm durchsucht, aber rein gar nichts gefunden."
„Dann durchsuche auch noch die andere Hälfte. Es muss irgendeine Anomalie geben. Um heutzutage so ein Unternehmen zu führen, brauchst du Computer. Ob du willst oder nicht. Und wenn du nichts findest, suche stattdessen mal danach, was nicht da ist."
„Selbst wenn du recht haben solltest, hat der Herrscher sicher erfahrene Leute, die seine Spuren verwischen", jammerte er weiter.
Ich stand auf. „Chips, ich werde dir jetzt nicht sagen, dass es keinen besseren als dich gibt. Das weißt du längst. Also fang an zu suchen."
Chips seufzte und resignierte. „Ja, Sir." Er schob sich den Löffel in den Mund, allerdings hielt er kurz darauf plötzlich inne.
„Was?", wollte ich wissen.
Er schluckte das Essen herunter, zögerte aber noch kurz. „Es gibt zwar etwas, das ich dir anbieten könnte, aber ich bin mir nicht sicher, was das zu bedeuten hat oder ob es überhaupt wichtig ist."
„Spuck's aus, Chips."
„Na schön. Durch ein paar Berechnungen und ein Computermodell habe ich herausgefunden, wo das Aufkommen der neuen Drogen am höchsten ist. Wie gesagt, ich habe keine Ahnung, was das heißt. Es könnte auch nichts bedeuten, weil es dort vermutlich schlichtweg am einfachsten ist das Zeugs zu verticken, aber..."
„Wo?"
„Suicide District."
Das wunderte mich nicht. Der Suicide District war das schlimmste Viertel der Stadt und wurde so genannt, weil es fast schon an Selbstmord grenzte, freiwillig dorthin zu gehen. Die Kriminalitätsrate schoss durch die Decke. Ich wusste, warum Chips dachte, dass es nur die einfachste Variante für den Herrscher war, dort zu beginnen die Drogen zu Geld zu machen. Trotzdem konnte es gut sein, dass ich dort weitere Informationen finden würde, denn mit kriminellen Machenschaften begann man grundsätzlich dort, wo man sich auskannte. Und im Suicide District konnte man sich ziemlich sicher sein, dass nicht plötzlich irgendein Cop auftauchte und Fragen stellte.
„Das reicht mir." Ich stand auf. „Fürs Erste", fügte ich augenzwinkernd hinzu, „Danke, Chips."
Als ich wieder in meinem Auto saß, zog ich den Umschlag unter meiner Jacke hervor. Da Chips noch nicht tot war, würde ihm vermutlich auch nichts passieren. Warum sollte ich ihn also beunruhigen? Wie ich erwartet hatte, war eine einzelne Tarot-Karte mit einem Mann, der direkt auf eine Klippe zulief. Sein Blick war nach oben gerichtet, in seiner linken Hand hielt er eine weiße Blume und in seiner rechten einen Stab mit einem Rucksack an dessen Ende. Neben ihm sprang ein weißer Hund herum. Die Karte hatte die Zahl Null und hieß Der Narr. Nicht gerade sehr schmeichelhaft, aber irgendwie zutreffend.
Ich seufzte und warf sie auf den Beifahrersitz. Langsam hatte ich genug. Diese Karten setzten mich regelrecht unter Druck.
Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es erst mal die letzte Karte sein würde.
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Criminal - Krieg der Schatten
AksiOne-Night-Stand mit Folgen: Als sich Ever und Vincent in einer Bar treffen, funkt es sofort zwischen ihnen. Nach einer gemeinsamen Nacht flüchtet sie jedoch überstürzt aus seiner Wohnung und versucht in den nächsten Tagen verzweifelt, sich den charm...