Psychopathen und Soziopathen | 1

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Die Fotos der Toten hingen an der Wand und erinnerten Vincent jeden Tag an die Opfer, deren Mörder sie noch nicht gefunden hatten. Die Leichen waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und auf den ersten Blick konnte man nicht einmal sagen, ob sie männlich oder weiblich waren. Das schwarz verkohlte Fleisch war mit den Klamotten verschmolzen und lediglich an einige Stellen leuchteten einem noch etwas Rot entgegen.
 
Noch immer konnte Vincent den widerlichen Geruch von verbrannten Fleisch riechen, den auch die Seeluft nicht hatte überdecken können. Dass man sie vorher erschossen hatte, war die einzige Gnade, die man ihnen gewährt hatte. Vor drei Wochen waren sie im Corrad-Hafen gefunden worden; dem gleichen Hafen, bei dem Nolan noch einen Tag zuvor gewesen und überwältigt worden war. Für ihn bestanden keine Zweifel daran, dass Jordan für diesen Mord verantwortlich war und sein Partner stimmte ihm zu.
 
Es hatte kaum eine Spur gegeben. Sogar die Kugeln aus den Leichen hatten sie mitgenommen, der Rest war verbrannt. Das waren Profis gewesen, weshalb Dean die zwei Personen verdächtigte, auf die er am Tag zuvor zufällig gestoßen war. Doch die waren unauffindbar.
 
Noch seltsamer jedoch war das weiße Pulver, von dem man Rückstände gefunden hatte. Das überraschende Ergebnis: Kokain. Die Spurensicherung schätzte den Wert davon auf rund 3 Millionen Dollar, wenn nicht noch mehr. Warum zum Teufel sollte jemand so viel Geld einfach verbrennen?
 
Nash hielt das nicht für einen Unfall. Man hatte ebenfalls Benzinrückstände gefunden, die darauf hinwiesen, dass das Feuer absichtlich gelegt worden war und außerdem machten Jordans Leute keine so großen Fehler. Und wenn doch, wäre es sicher der letzte Fehler ihres Lebens.
 
Langsam hatte Nash die Nase voll. Die Akten stapelten sich auf seinem Schreibtisch und da die Erfolge gegen Null tendierten, war seine Motivation vollkommen im Keller. Er war nicht der einzige, dem es so ging. King schien von Tag zu Tag schlechter gelaunt, Nolan war immer noch wegen dem Vorfall vor drei Wochen gekränkt und selbst Barron schien die Geduld zu verlieren.
 
Sie kamen keinen Schritt weiter, weshalb Vincent kurzerhand beschlossen hatte, anders an die Sache heranzugehen. Kurzerhand hatte er sich die Akte genommen, die die persönlichen Informationen über Jordan enthielt. Eine sehr dünne Akte. Aber Nash hatte verstanden, dass man der Schlange den Kopf abschlagen musste, um sie zu besiegen. Leider musste er die Schlange erst mal finden und dazu musste er alles über sie wissen.
 
Außerdem musste er zugeben, dass Jordan anfing ihn auf eine makabere Art und Weise zu faszinieren. Es war beinahe unmöglich sich ein Imperium aufzubauen ohne Spuren zu hinterlassen  und nie gesehen oder geschnappt zu werden. Trotzdem hatte es dieser Mann mit einer erstaunlichen Eleganz geschafft. Und Nash wollte wissen wer dieser Mann war.
 
Das erste Mal war er vor fünf Jahren aufgefallen. Damals war ein gestohlenes Bild bei einem privaten Sammler aufgetaucht, der es für einige Hunderttausend erworben hatte. Keiner hatte eine Ahnung, wo es hergekommen war, und selbst der Käufer war seinem Verkäufer niemals begegnet. Er hatte lediglich eine Summe Geld auf ein nicht zurückverfolgbares Konto überwiesen und das Bild an einem toten Briefkasten abgeholt. Nachdem er sich hatte bestätigen lassen, dass es tatsächlich das Original war, hatte er den Rest des Geldes überwiesen. Er hatte nie persönlichen Kontakt zu dem Hehler gehabt und alles war erstaunlich geschickt eingefädelt worden, weshalb der Fall im Sand verlaufen war. Kurz darauf jedoch waren weitere seltene Kunstgegenstände aufgetaucht, die alle zu der einen, geheimen Adresse führten: Jordan.
 
Seitdem war es für ihn nur noch bergauf gegangen. Jordan war sozusagen der aufsteigende Stern am Verbrecherhimmel. Innerhalb von wenigen Jahren war er die Karriereleiter steil nach oben geklettert und vom Schmuggler zum Hehler und schließlich zum Verbrechergenie aufgestiegen. Keiner wusste, welches Vermögen er inzwischen angehäuft hatte, aber es musste sich auf mehrere hundert Millionen, wenn nicht sogar Milliarden belaufen. Das gleiche galt für seinen Einfluss.
 
Doch die größere Kunst als an Macht zu kommen, war sie auch zu behalten. Vor allem wenn man ständig von Verbrechern umgeben war und durchgängig vom FBI gejagt wurde. Aber selbst das meisterte Jordan mit einer Präzision, die sogar Frank Underwood beeindruckt hätte.
 
Es schien einfach zu sein. Schon der Philosoph Niccolò Machiavelli hatte in »Il Principe« 1532 erkannt, dass ein Politiker, der an der Macht bleiben wollte, kein guter Mensch sein durfte. Er dürfe sein gegebenes Wort nicht all zu ernst nehmen und es brechen, falls es ihm schade. Er müsste gleichzeitig geliebt und gefürchtet werden, wobei letzteres jedoch minimal überwiegen sollte.
 
Jordan war zwar gefürchtet, aber nicht verhasst und er wurde „geliebt", da er bei der Bezahlung grundsätzlich sehr großzügig war. Das waren gleich zwei Gründe warum man ihn nicht verriet. Nash hätte nicht gedacht, dass das heute tatsächlich noch funktionierte, aber sein Fall und die heutigen Politiker waren das beste Beispiel dafür. Sie waren Meister darin zu lügen, zu täuschen und sich an die vorherrschende Situation anzupassen. Und vor allem ließen sie die Moral beim Herrschen völlig außen vor. Machiavellis Il Principe hatte sich sozusagen als Ratgeber für die Mächtigen herausgestellt hatte, der noch heute mehr als aktuell war. Ein Lehrbuch für Politiker. Und offensichtlich auch für Kriminelle.
 
Jordan vereinte den Löwen und den Fuchs, die Machiavelli als berühmtes Beispiel für die perfekte Mischung von Brutalität und Gerissenheit benutzte, perfekt in sich. Hinzu kam die Fähigkeit des Wolfes sich im Schatten aufzuhalten und dass man trotzdem eine Gänsehaut bekam, wenn man sein Heulen hörte.
 
Doch das alles war nur Fassade. Der größte Unterschied zwischen Machiavelli und Jordan - und vermutlich auch zu den meisten anderen Politikern - war, dass er aus purer Gier und aus purem Machthunger handelte. Machiavellis Botschaft wurde oft missverstanden. Er war der Meinung, dass es in Ordnung war, wenn man die falschen Dinge aus den richtigen Gründen tat. Der Teil mit den richtigen Gründen wurde nur gerne übersehen.
 
Trotzdem interessierte Vincent der Mensch hinter Jordans Fassade. Wie alt war er? Hatte er Familie? Noch einen anderen Job? War er die Art von Mensch, die man für freundlich und charmant hielt und die sich später als Serienkiller herausstellten? War er ein Psychopath? Ein Soziopath?
 
In den letzten beiden Wörtern steckte vermutlich Vincents gesamtes Vermögen, Verbrecher zu verstehen. Welcher Mensch fragte sich nicht wie die Mörder, Vergewaltiger und Verbrecher das tun konnten, was sie taten? Nash hatte nie nachvollziehen können, wie man keine Reue oder Schuldgefühle haben konnte. Wie es einen vollkommen kalt lassen konnte, jemandem das Leben zu nehmen oder ihn zu verletzten. Es war etwas anderes aus Selbstverteidigung oder wegen einem plötzlichen Wutausbruch zu töten. Was zwar noch lange nicht hieß, dass es akzeptabel sei, aber die meisten normalen Menschen wurden danach von ihren Schuldgefühlen zerfressen, während die schlimmsten Verbrecher es meistens ohne zu zögern wieder tun würden.
 
Aber genau da lag der Unterschied zu kaltblütigen Mördern, die auch noch geplant hatten ihre Opfer umzubringen: Das Wort „normal". Doch was war schon normal? Es war ein weitreichender Begriff, vor allem wenn es sich auf Menschen bezog. Das Entscheidende jedoch war, dass diese Leute nicht normal waren.
 
Vincent war irgendwann klar geworden, dass er es nicht nachvollziehen konnte. Die meisten Verbrecher hatten eine Persönlichkeitsstörung. Einige hatten sogar überhaupt keine Empathie, was soviel hieß, dass sie nicht fühlen konnten. Sie hatten weder Moral noch irgendein emotionales Verständnis für das, was sie taten oder getan hatten. Für einen normalen Menschen war es unmöglich das nachzuvollziehen und Nash hatte inzwischen aufgehört es zu versuchen. Er hatte einigen Psychopathen und Soziopathen begegnen müssen um das zu begreifen.
 
Trotz allem war Jordan eine Person, der er gerne einmal begegnet wäre. Er unterschied sich von den restlichen Kleinkriminellen mit dem begrenzten Horizont, auf die er sonst traf, und das machte ihn interessant. Er würde nur zu gerne wissen, wie ein Mann mit solch einem Intellekt tickte. Doch das war etwas, was ihm die Akten nicht verraten konnten.
 
Barron riss ihn schließlich zurück in die Realität. „Ich hab's", sagte sie. Es war nicht laut, aber wenn sie geschrien hätte, hätte der Effekt nicht größer sein können.
 
Erfolge waren in der letzten Zeit so rar, dass Nolan fast von seinem Stuhl gefallen wäre, als er aufsprang.
 
„Was?", wollte Nash wissen. Die Agentin drückte die Enter-Taste auf ihrer Tastatur und der Kopierer begann ein Blatt auszuspucken.
 
Aber bevor sie auch nur danach greifen konnte, hatte Dean es sich schon geschnappt. Sein Gesichtsausdruck zeigte jedoch, dass es nicht das war, was er erwartet hatte. „Was ist das?"
 
Barron hielt die Hand auf und er gab ihr das Papier. „Das sind die Namen derer, die für eine hohe Position in Jordans Organisation in Frage kommen."
 
„Aufgrund welcher Tatsachen?", fragte Ross Kingston, der gerade hinzukam.
 
„Aufgrund von Zahlen und Wahrscheinlichkeiten, die sehr zuverlässig sind. Ich habe sie aus hunderten Verdächtigen oder schon Verhafteten herausgefiltert. Sie sind wegen ihrer Vergehen und Verbindungen als Kandidaten für eine höhere Stelle geeignet. Außerdem habe ich–"
 
„Ja, schon gut", unterbrach ihn Nolan, „Wir verstehen davon sowieso nichts. Also ersparen Sie uns die Peinlichkeit und überspringen Sie das."
 
„Es ist sehr unhöflich jemanden zu unterbrechen", versuchte Barron ihn zurechtzuweisen.
 
„Vergessen Sie's. Bei Nolan ist in Sachen Höflichkeit Hopfen und Malz verloren", tat es Nash beiläufig ab. Er sah aus dem Augenwinkel wie Dean anhob zu sprechen, doch Vincent ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Das sind über hundert Namen, richtig?"
 
Holly Barron nickte. „Dann teilen wir die Liste auf", warf King ein und deutete auf das Papier, „Das da ist im Moment unsere beste Spur. Falls irgendwelche Namen auf dieser Liste irgendwie mit unseren Morden in Verbindung auftauchen, sehen Sie näher hin." Es war zwar kein konkreter Name, was jedem im Raum wahrscheinlich lieber gewesen wäre, aber so hatten sie zumindest etwas, woran sie sich ansatzweise orientieren konnten. Immerhin besser als gar nichts.
 
Barron machte sich daran die Liste auszudrucken und Nolan kehrte wieder zu seinem Schreibtisch zurück, wo er sich hinter den Akten verschanzte, während Nash auf King zutrat. „Was sollen wir mit Jennings machen?", wollte er wissen, „Wir kommen nicht an ihn ran und haben lediglich eine Vermutung." Sie waren in der Angelegenheit kein Stück weitergekommen und stießen nach wie vor auf Granit, wenn sie versuchten tiefer zu graben. Kenneth Jennings leugnete den Einfluss eines anderen auf seine Entscheidung und sie hatten nichts gegen ihn in der Hand, was ihn dazu bringen konnte zu reden. Außerdem wurde es langsam gefährlich, da sie so einem hohen Tier wie Jennings nicht zu viel Druck machen durften und das FBI ihm inzwischen ziemlich auf die Nerven ging.
 
Ross nickte. „Ich weiß. Und vermutlich werden wir nie erfahren ob er lügt oder nicht." Dann warf er einen Blick zu dem Goldfischglas-Büro von Alton Webb. Vincent wusste, dass der Auftrag, der Sache nachzugehen, von ihm gekommen war. „Lassen Sie es gut sein. Wir werden nichts erreichen und es wäre Verschwendung von Zeit und Ressourcen. Ich rede mit Webb. Kümmern Sie sich weiter um den Hafen-Mord. Der hat gerade höchste Priorität", meinte er schließlich.
 
Nash nickte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. King hatte recht. Der Hafen-Mord war zurzeit am vielversprechendsten.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt