Gangster's Paradise | 2

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Am nächsten Tag fuhr ich mit meinem Camaro in den Suicide District. Es war mutig mit einem Auto wie meinem hier herzukommen. Hier war man seine Wertsachen schneller los als es einem lieb war. Die Leute hatten keine Probleme damit einen am helllichten Tage zu überfallen. Die Polizei wagte sich schon lange nicht mehr hier her und kam nur, wenn es unbedingt nötig war. Die Stadt hatte dieses Viertel der Kriminalität überlassen, als sie damit überfordert waren es einzudämmen. Gangster's Paradise. Es war das Ghetto der Stadt und eine wahre Fundgrube an Informationen über illegale Machenschaften. Vorausgesetzt man kannte die richtigen Leute. Was bei mir der Fall war.
 
Doch kaum war ich in das Gelände eingedrungen, stellten sich eine Gruppe junger Männer mitten auf die Straße und zwangen mich, anzuhalten. „Na, Süße? Was macht ein nettes Mädchen wie du in einer Gegend wie dieser?", hörte ich ihn durch mein heruntergelassenes Fenster rufen. Seine Kumpels kamen näher und ich war mir nicht sicher ob ihre lüsternen Blicke meinem Auto oder mir galten.
 
„Wie wär's, wenn wir uns dein Auto mal ausleihen?" Er ließ ein Messer aufschnappen und ich verdrehte hinter meiner Sonnenbrille die Augen.
 
„Und dich gleich mit", fügte ein anderer hinzu und leckte sich über die Zähne.
 
Ich wusste, dass sie es ernst meinten. Diese Typen würden mich schon alleine wegen meiner Nike-Schuhe abstechen.
 
Doch soweit würde ich es nicht kommen lassen. Ich griff hinter mich, zog meine Beretta aus meinem Hosenbund und ließ meine Hand mit der Waffe lässig aus dem Fenster baumeln. Sofort machte jeder von ihnen einen Schritt zurück und die, die mir noch immer im Weg standen, machten Platz, während sie beinahe entschuldigend ihre Hände hoben. Ich beachtete sie nicht weiter und fuhr weiter.
 
Ich konnte mir vorstellen, dass sich die meisten dachten, dass ich mich hier wohlfühlen würde. Unter lauter Kriminellen. Der Punkt war, dass sie weder Niveau noch Talent hatten. Außerdem war ihr Horizont so schrecklich winzig. Die Wahrheit war, dass ich mich weder hier noch in der ach so feinen Stadt wirklich wohl fühlte. Es mochte zwar sein, dass ich hier gewissermaßen unter Meinesgleichen war, aber äußerlich passte ich nicht hier her. So wie ich aussah, würde ich hier niemals für voll genommen werden. Und in der Stadt... naja, ich würde verhaftet werden, wenn ich zeigte was – oder besser wer – ich wirklich war. Kurz gesagt, passte ich nirgendwo wirklich hin. Aber es gab schlimmeres.
 
Ich bog in eine der Straßen ein und kam vor einem der Häuser zum Stehen. Es war eines der typischen Gebäude und nicht weniger heruntergekommen oder verdreckt als die anderen. Eine Renovierung war mehr als nötig, doch dafür hatte hier niemand Geld. Und selbst wenn würden sie es für etwas anderes ausgegeben. Etwas, das einen die gesamte Welt vollkommen vergessen ließ.
 
Die Häuser waren trist und eintönig. Trotzdem war jedes auf seine Art einzigartig. Und damit meinte ich ihre mutwillige Zerstörung. Bei einem fehlte ein Fenster, bei dem anderen war der ehemals hellbraune Zaun mit orange und blau besprüht worden. Bei dem Haus, vor dem ich hielt, war die weiße Farbe der Hauswand bereits großzügig abgeblättert. Der Rasen hatte mehr braune als grüne Flecken und erinnerte mich an eine Steppe. In der Glasscheibe neben der verzogenen Haustür aus Holz war ein Sprung, der notdürftig mit Panzertape verklebt worden war und um den sich vermutlich nie wieder jemand kümmern würde.
 
Ich parkte auf dem Gehweg vor dem Haus und klingelte. In dieser Gegend des Suicide Districts kannte man mein Auto. Hier musste ich keine Angst darum haben. Hier traute sich keiner es anzuspucken geschweige denn auch nur einen Kratzer in meinen Lack zu machen.
 
Nach etwa zwei Minuten öffnete mir ein Mann mit schwarzen Haaren und gebräunter Haut. Jamal war hier geboren worden, doch sein Vater kam aus dem nahen Osten. Er war Moslem und vermutlich einer der wenigen Menschen im gesamten Distrikt, der nicht trank, rauchte oder irgendwelche Drogen nahm. Seine dunklen Augen weiteten sich, als er mich sah. „Kate DeLeón", lachte er, „Schön dich mal wieder zu sehen. Du scheinst eine vielbeschäftigte Frau zu sein."

„Hab immer viel zu tun, Jamal. Weißt du doch." Ich schob mich an ihm vorbei ins Innere, das nur ein wenig besser aussah als das Äußere des Hauses. Doch der Schein trog. In diesem Haus lebte einer der besten Dokumentenfälscher des Landes. Pässe, Ausweise oder Führerscheine waren für sie kein Problem.
 
„Ist sie da?", fragte ich Jamal.
 
Er schloss die Tür hinter mir. „Klar. Wohnzimmer."
 
Ich ging voraus. Ich kannte den Weg. Wir arbeiteten schon seit Jahren zusammen und ich vertraute ihnen so weit es nötig war. Aber Jamal und sie waren für mich etwas wie Freunde geworden, wobei das vielleicht nicht gerade das richtige Wort war. Eher gute Geschäftspartner, die man gerne mal besuchte und mit ihnen ein Bier trank.
 
Tatsächlich fand ich die Fälscherin im Wohnzimmer. Cherry saß in einer zu weiten Hose und einem zu engen Top auf dem Sofa und rauchte. Auf dem Sofatisch reihten sich leere Dosen von Bier und Softdrinks, dazu gesellte sich ein Aschenbecher.
 
Als sie mich sah, blies sie mir eine Schwade Rauch entgegen und sprang auf. „Kate!" Sie umarmte mich mit der Kippe zwischen den Fingern. Sie roch nach billigem Schnaps. Wie immer. „Schön dich zu sehen. Willst du was trinken?"
 
„Gerne."
 
Sie sah zu Jamal, der sich sofort auf den Weg in die Küche machte um mir eine Dose zu holen, dann zog sie mich nach draußen auf die kleine Terrasse und drückte mich in einen der Plastikstühle.
 
Ich musste zugeben, dass ich ihr die Präzision und Geschicklichkeit, die man beim Fälschen brauchte, nicht zugetraut hatte, als ich sie das erste Mal gesehen hatte. Damals hatte sie laut schmatzend einen Kaugummi gekaut und ihr Make-up war nach wie vor zu dick aufgetragen. Aber ich hatte wieder einmal gelernt, dass Vorurteile meistens nun mal nicht der Wahrheit entsprachen. Cherry war nicht dumm. Und noch weniger war sie untalentiert. Cats Pass war von ihr und bis heute wusste niemand außer mir, dass sie nicht legal im Land war. Selbst einige meiner eigenen Pässe ließ ich bei ihr machen und müsste ich nicht aufpassen, dass keine einzelne Person all meine Decknamen kannte, würde ich ihr diese Aufgabe ganz überlassen. Aber das Risiko, dass sie irgendwie geschnappt wurde und redete, war zu groß, weshalb ich noch andere Fälscher engagiert hatte.
 
Cherry war allerdings diejenige, mit der ich schon am längsten zusammenarbeitete. Jamal war sogar an meinem ersten großen Coup beteiligt gewesen. Er und sie waren in diesem Viertel aufgewachsen und leben noch immer hier. Es war schwer aus diesem Viertel zu entkommen, aber den beiden schien es nicht wirklich etwas auszumachen. Das Geld dafür hätten sie, dafür hatte ich gesorgt, doch sie blieben. Das hier war ihre Welt und warum sollten sie sie verlassen wenn auf den Straßen der großen Stadt andere Regeln herrschten, an die man sich zwangsläufig halten musste? Dafür gab es hier zu viele Freiheiten. Vor allem für die drogenabhängige Cherry.
 
Bis heute wusste ich nicht, wie sie und Jamal zueinander standen. Allerdings ging mich das auch nichts an. Auf jeden Fall bildete die chaotische Cherry den Gegenpol zu dem ordnungsliebenden Jamal, der mir gerade ein Dosenbier gab. Er setzte sich auf einen weiteren Stuhl.
 
„Hab den Ausweis fertig, den du wolltest", sagte Cherry und warf mir das kleine Plastikkärtchen zu.
 
Ich begutachtete es. Ein weiterer Name, eine weitere Identität. Ich aktualisierte immer wieder meine Ausweise, falls einer der Namen, die ich für alles mögliche benutzte, zu oft aufgetaucht war. Ich nannte es „verbraucht". Wie immer war die Qualität überragend und wenn man nicht wusste, dass er nicht echt war, würde es einem vermutlich niemals auffallen.
 
Ich zog einige Scheine aus meiner Tasche und gab sie ihr. Sie steckte sie in ihren neon-pinken BH, der durch ihr Top schimmerte. „Und?", fragte ich ungezwungen und nippte an dem Bier, „Gibt es was Neues?" Ich tat so als würde ich das Geschäftliche abhaken, obwohl der wahre Grund, weshalb ich hergekommen war, natürlich etwas mit meinem Geschäft zu tun hatte.
 
Cherry und Jamal wussten das. Sie hinterfragten meine Absichten und Hintergründe nicht, sondern taten nur das, was ich von ihnen verlangte. Oder besser das, wofür ich sie bezahlte. Meine Ziele verschwieg ich grundsätzlich. Bei allen meinen Mitarbeitern. Jeder wusste nur so viel um seine Arbeit erledigen zu können. Eine Strategie, die sich schon mehr als ein Mal bewährt hatte.
 
Seltsamerweise machte es niemanden etwas aus. Cherry wollte nicht wissen, wofür ich die Pässe benutze, die Hafenarbeiter wollten nicht wissen, was sie für mich ins Land schmuggelten und wofür es einmal benutzt werden würde, die Banken wollten nicht wissen, woher das viele Geld auf den ominösen Konten stammte und was damit einmal finanziert werden würde oder schon wurde. Wenn Geld im Spiel war, herrschte eine erschreckende Gleichgültigkeit. Keiner wollte sehen, dass er oder sie das Glied einer Kette war. Jeder wusste zwar, dass an ihrem Ende ein Anker hing, ignorierte aber die Tatsache, dass wenn er in die Tiefe glitt, sie mit sich zog. Keiner verschwendete Gedanken an die Konsequenzen. Schrecklich für die Gesellschaft, gut für mich.
 
Cherry und Jamal gehörten zu diesen Menschen. Auch wenn sie es vielleicht nicht offen zugeben würden. Vor allem der gläubige Jamal nicht. Und doch waren sie nicht anders.
 
„Nichts besonderes", sagte Jamal, „Vorausgesetzt noch ein toter Junkie und eine Schießerei sind etwas Neues für dich."
 
Das war es nicht. Nicht in dieser Gegend. Aber was hatte ich erwartet? Dass sie mir erzählten, dass sich der Herrscher hier schon vor einer Weile breit gemacht hatte und mir auch noch gleich sein Versteck zeigten? Wohl kaum.
 
„Von wegen nichts Neues", meinte plötzlich Cherry und drückte ihre Zigarette aus, an deren Filter ihr pinkfarbener Lippenstift hing, „Gestern war doch tatsächlich ein Selbstmordkommando hier."

Jamal runzelte die Stirn.
 
„Warst nicht da", fügte sie hinzu.
 
„Und warum hast du mir davon nichts erzählt?"
 
Sie zuckte mit den Schultern und wir wussten alle, dass sie gestern vermutlich wieder high gewesen war und es deshalb vergessen hatte. Sie behauptete immer, dass sie die Drogen brauchte, um zu arbeiten. Dass sie dadurch eine ruhigere Hand hatte und einen besseren Blick für die winzigen Details.
 
„Da waren Bullen", fuhr sie an mich gerichtet fort. „Nein, keine Bullen. Bundesagenten." Sie sagte das Wort, als wäre es eine Krankheit. „Die zwei Typen haben sich doch tatsächlich hier her getraut. Grenzt fast schon an ein Wunder."
 
„Sie waren hier?", fragte Jamal nach.
 
„Ja. Sie haben gestern geklingelt, haben ein paar Fragen gestellt. Nichts konkretes. Aber süß waren die beiden. Für Cops, meine ich. Hätten Brüder sein können." Sie warf ihre Haare zurück, die sie zu vielen kleine Zöpfe geflochten hatte. So wie sie es erzählte, schien es keine große Sache gewesen zu sein, aber das war es.
 
Auf Jamals Stirn bildeten sich Sorgenfalten, aber er sagte nichts. Immerhin hätte er es gemerkt, wenn sie die Fälscher-Werkstatt im Keller gefunden hätten. Allerdings waren meine Sorgen weniger leicht zu beseitigen. Wenn Cops hier ohne einen dringenden Notruf anrückten und an Türen klopften, suchten sie nach etwas bestimmten. Etwas wichtigem.
 
„Bundesagenten?", hakte ich nach, „Wie sahen sie aus?"
 
„Kate!" Sie schnalzte mit der Zunge. „Hast du etwa eine Schwäche für die guten Jungs?"
 
Ich hob eine Augenbraue. Ich hatte keine Zeit für so was. Ich hasste diese Teenager-Mädchen-Gespräche, in denen darüber diskutiert wurde, welcher Junge am besten aussah. Ich hatte sie immer gehasst.
 
Doch Cherry ließ sich davon nicht beirren. „Der größere, der im übrigen etwas besser aussah, war sehr gut gebaut, Muskeln zum Niederknien, braune Haare, von dem ihm ein paar niedliche Strähnen in die Stirn gefallen sind, Augen so braun wie flüssige Schokolade...", schmachtete sie und beobachtete aus dem Augenwinkel neugierig meine Reaktion.
 
„Dank deiner sehr anschaulichen Metaphern habe ich jetzt ein genaues Bild vor Augen", entgegnete ich sarkastisch und Jamal lachte angesichts meiner Desinteresse.
 
Cherry verdrehte die Augen. „Keinen Geschmack", murmelte sie und ich überhörte das geflissentlich. „Moment, ich habe ein Foto gemacht." Sie zog ihr Handy aus der Tasche, tippte kurz darauf rum und zeigte mir anschließend ein leicht verwackeltes Bild von zwei Männern in Anzügen. Es war von dem Fenster neben der Tür aus geschossen worden. Die Bundesagenten gingen gerade zu ihrem Auto und es war von jedem jeweils nur das halbe Gesicht zu sehen.
 
Ich erkannte sie trotzdem. Und fluchte innerlich.
 
„Könnten Brüder sein, was? Und so sind sie auch miteinander umgegangen. Wie Brüder." Sie seufzte. „Es müsste verboten werden solche Polizisten einzustellen."
 
Ich hörte ihr nicht zu. Mein Puls erhöhte sich bei Vincents Anblick, gleichzeitig rutschte mir das pochende Herz fast in die Hose. Was könnten er und Nolan hier gewollt haben? Und das nur einen Tag bevor ich hier aufgekreuzt war. Was wussten sie? Was wussten sie, was ich womöglich nicht wusste?
 
Doch die Frage, die mich im Moment am meisten quälte war, ob Vincent mein Geheimnis herausgefunden hatte. Wir hatten uns seit Samstag nicht mehr gesprochen und obwohl mich die Funkstille innerlich zerriss, hatte ich es so gewollt. Ich brauchte Zeit, um mir über das alles klar zu werden. Hatte ich zumindest gedacht. Eigentlich hatte ich in den letzten Tagen kaum einen klaren Gedanken fassen geschweige denn objektiv darüber nachdenken können. Nahm Vincent nur rührende Rücksicht oder hatte er es in der Zwischenzeit herausgefunden?
 
Ich widerstand dem Drang mir mit beiden Händen über das Gesicht zu fahren. Genau das hatte ich nicht gewollt. Diese Fragen. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell kommen würden. Immerhin hatten wir gerade erst zueinander gefunden. Sollte das Wir schon wieder vorbei sein, bevor es überhaupt angefangen hatte?
 
Unauffällig atmete ich durch und konzentrierte mich wieder. Zu spekulieren brachte mir rein gar nichts, außerdem machte es mich fast wahnsinnig.
 
„Was wollten sie von dir?", fragte ich schließlich Cherry.
 
Sie zuckte mit den Schultern. „Erst nur Standardfragen. Und dann haben sie mich über diesen Lorenzo Fiori befragt, den du mir damals als Anwalt besorgt hast. Woher ich ihn kannte, was damals genau vorgefallen ist, wie ich mir einen so teuren Anwalt leisten könne. So Zeugs halt. Ich hab ihnen irgendeine Geschichte erzählt und als sie damit zufrieden waren, haben sie gefragt ob sie sich hier noch ein wenig umsehen dürften. Sie haben nix gefunden."
 
Fiori. Natürlich. Irgendwann musste es ja mal jemanden auffallen, dass jemand wie Cherry niemals Fiori engagieren könnte. Oder die anderen, die ich an Fiori vermittelt hatte und die sich ihn ohne meine Finanzierung niemals hätten leisten können. Sie mochten vielleicht arm oder ansatzweise arm sein, waren aber unerlässlich für meine Organisation.
 
Nur warum ausgerechnet jetzt? Irgendetwas stimmte an der Sache nicht und wenn ich länger darüber nachdachte, dachte ich wieder daran, dass kein Polizist wegen so einer lächerlichen Befragung in den Suicide District kommen würde. Außer es ging gar nicht um Cherry an sich. Vielleicht ging es um jemand anderen.
 
Und dieser jemand war wie so oft ich. Oder besser Kate DeLeón. Es war kein Geheimnis, dass sie sich öfter hier blicken ließ. Möglicherweise hatte jemand eine Verbindung erkannt und Vincent und Nolan hatten deshalb hier herumgeschnüffelt. Ein unangenehmer Gedanke, aber wenn sie bei Cherry nichts gefunden hatten, bei wem sollten sie dann etwas finden? Auf einmal war ich froh darüber, dass ich gestern den Besuch auf heute verschoben hatte. Ein Zufall, der mir vermutlich den Hinter gerettet oder zumindest einige Erklärungen erspart hatte. Auf jeden Fall musste ich vorsichtiger werden. Und mit Fiori sprechen.
 
Ich schob das Auftauchen der beiden Bundesagenten, ohne zuzugeben, dass ich sie kannte, beiseite und wechselte das Thema. Beziehungsweise kehrte ich zurück zu dem Thema, weshalb ich eigentlich hier war. Es brachte nichts weiter um den heißen Brei herumzureden, weshalb ich es dieses Mal direkt ansprach. „Der Herrscher", warf ich geradewegs in die Runde, „Was wisst ihr über ihn?"
 
Cherry und Jamal sahen sich an. „Vermutlich noch weniger als du", meinte letzterer.
 
„Versucht es", forderte ich sie auf und kippte einen Teil des Biers herunter. Es schmeckte nicht und eigentlich brauchte ich gerade etwas stärkeres.
 
„Seit Zola wie vom Erdboden verschwunden ist, hat er sein Gebiet übernommen."
 
Er hatte recht. Das hatte ich bereits gewusst. Vor allem war ich vermutlich eine von nur einer Handvoll Personen, die tatsächlich wussten, was mit Tyrese Zola passiert war.
 
„Er vertickt Koks in dieser Gegend. Hab ich zumindest gehört...", erzählte Cherry und ignorierte unsere Blicke, indem sie sich hinter ihrer Dose versteckte.
 
„Und wo genau?", hakte ich nach.
 
„Woher soll ich das wissen?" Sie versuchte unschuldig zu blinzeln. Unmöglich mit ihren falschen Wimpern. „Ja, okay, ich weiß es. Die, bei denen ich kaufe, stehen immer Ecke Franklin und Lockwood. Zufrieden? Warum willst du das überhaupt wissen?"
 
„Weil Jordan es wissen will." Meine Lieblings-Antwort auf solche Fragen.
 
„Und warum will er das wissen?"
 
„Musst du ihn selbst fragen."
 
Ich stellte die Dose in meiner Hand auf dem Tisch ab. Es war so herrlich einfach sich ein wenig dumm zustellen. Die richtige Antwort wäre allerdings gewesen, dass ich es selbst nicht so genau wusste. Ich suchte nach Informationen, ohne zu wissen, was ich damit später anstellen sollte oder ob sie überhaupt nützlich waren. Ich sog sie alle auf wie ein Schwamm, selbst wenn sie einem völlig nutzlos erschienen.
 
„Und wer hat Zolas Platz eingenommen?", fragte ich weiter. Wenn jemand wie Zola von der Bildfläche verschwand, gab es zumindest Gerüchte. Man wusste, dass es nur zwei Möglichkeiten gab, was mit ihm passiert sein könnte. Die Erste war, dass er festgenommen wurde. Doch darüber hätten längst sämtliche Medien berichtet und die Polizei damit geprahlt. Oder er war umgelegt worden. Die einzige logische Erklärung. Vor allem über solche Dinge redeten die Leute.
 
„Gerüchte gibt es viele", bestätigte Jamal genau das, was ich mir schon gedacht hatte.
 
„Zum Beispiel?"
 
„Die wildesten Theorien." Cherry zündete sich eine weitere Zigarette an. Oder einen Joint. Ich konnte es nicht genau erkennen. „Ein paar sagen, einige alte Feinde hätten ihn aufgeschlitzt, andere behaupten seine eigenen Leute hätten ihn Gras fressen lassen. Keine Ahnung, was davon oder ob überhaupt was stimmt. Auf jeden Fall ist er tot. Denken zumindest die meisten." Sie zuckte mit den Schultern und blies Jamal eine Rauchschwade entgegen, die er versuchte, mit seiner Hand zu verscheuchen wie lästige Fliegen.
 
„Spielt auch keine Rolle", sprach sie weiter, „Hier schneit es noch und das ist die Hauptsache." Sie lachte und ich fand das überhaupt nicht zum lachen. Man musste nur in ihre Augen sehen. Sie waren trüb und müde, obwohl Cherry hellwach zu sein schien. Ihr Körper musste sie anbetteln endlich mit dem Alkohol und den Drogen, egal was, aufzuhören, doch sie ignorierte es geflissentlich. Wie jeder Süchtige. Aber ich sagte nichts. Es war ihre Sache und es würde mich erst etwas angehen, wenn es ihre Arbeit betraf. Was es nicht tat. Noch nicht.
 
„Was ist mit den Leuten des Herrschers? Kennt ihr jemanden davon?"
 
Jamal schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, wer alles zu ihm gehört. Die meisten von Zolas Anhängern müssen wohl geblieben sein. Ihnen ist es egal wer ganz oben sitzt, Hauptsache sie bekommen ihr Geld. Soweit ich weiß, hat er auch noch einige der hiesigen Gangs angeheuert, da bin ich mir allerdings nicht ganz sicher. Aber es gibt ein paar, die Zola gegenüber wirklich loyal gewesen sind. Angeblich zumindest. Sie sind, denke ich, ausgestiegen."
 
Sie waren tot. Ich hatte es in der Zeitung gelesen. Die öffentlichen Morde, die in der letzten Zeit im Suicide District passiert waren. Vermutlich waren es Zolas treusten Männer gewesen. Natürlich gab es hier jeden Tag Morde, aber meistens wurden die Leute heimlich in einer Gasse abgestochen, ausgeraubt oder kamen in einer Schießerei um, doch niemand machte ein großes Spektakel daraus. Bei den Morden, über die sie in der Zeitung berichtet hatten, war jedoch das Gegenteil der Fall gewesen. Jamal und Cherry wussten das. Sie konnten sich das genauso zusammenreimen wie ich, aber sie schwiegen darüber. Hier redete man nicht offen über das, was passiert war. Man wusste es auch so.
 
Ich dachte kurz nach. Langsam erkannte ich ein System in dem ganzen Chaos. Die Aktionen des Herrschers waren keineswegs willkürlich. Sie hatten ein Ziel und das hieß, wie konnte es auch anders sein, Machtausweitung. Ganz im Stil der guten, alten, italienischen Mafia-Familien. Er hatte den vorherigen Herrscher eiskalt umgelegt oder umlegen lassen und seinen Platz eingenommen. Die, die ihn nicht anerkennen wollten, hatte er aus dem Weg geräumt und das alles andere als heimlich. Er hatte an ihnen ein Exempel statuiert. Als Warnung dafür, was passierte, wenn man sich ihm widersetzte. Dann hatte er sein Gebiet ausgeweitet, indem er neue Leute angeheuert hatte. Doch bevor er Drogen verkaufen konnte, brauchte er etwas Startkapital, das er durch die Schutzgelderpressung bekommen hatte. Und als er genug zusammengehabt hatte, hatte er das Kokain gestreckt, das er sich von Alex Levly genommen hatte, nachdem er ihn getötet hatte, und es auf die Straßen gebracht. So schnell konnte man zum Drogenbaron werden.
 
Ob es klug war, so schnell vorzugehen? Vielleicht. Schnelligkeit war oftmals mit Schlampigkeit verbunden, aber so ungern ich das auch zugab: Der einzige schwerwiegende Fehler, den er bisher gemacht hatte, war sich an meinem Bruder zu vergreifen. Ob er damit durchkam? Bisher schon. Ob es effektiv war? Auf jeden Fall. Noch.
 
Doch am meisten ärgerte es mich, dass das Kokain auf den Straßen von meinen sechs Millionen bezahlt worden war. Geld, das mir gestohlen worden war und Drogen, die von mir verbrannt worden waren. Die nur noch Asche und Staub sein sollten. Aber Levly hatte ja unbedingt gierig werden müssen und einen Teil des Zeugs aus dem Feuer gerettet. Letztendlich hatte er für diese Dummheit immerhin mit dem Leben bezahlt. Das war Strafe genug. Trotzdem hatte der Herrscher sein Imperium auf meine Kosten aufgebaut und das war das Schlimmste an der Sache. Der Herrscher war meine Schuld und das war ein Grund mehr, mich selbst um ihn zu kümmern.
 
„Okay", sagte ich und erhob mich, „Ich will euch nicht länger belästigen." Ich hatte alles erfahren, was es zu erfahren gab.
 
Cherry nickte, Jamal winkte ab. „Hast du nicht." Er begleitete mich noch zur Tür, während die Fälscherin auf dem Plastikstuhl zurückblieb und ihre Zigarette Schrägstrich Joint zu Ende rauchte.
 
Er wollte gerade die Haustür öffnen, als plötzlich ein Knall ertönte. Und dann noch einer. Und noch einer. Ich kannte das Geräusch genau und wünschte mir, ich würde es nicht kennen. Schüsse. Jamal und ich zuckten zusammen und blieben wie angewurzelt stehen. Niemand würde sich jemals an dieses Geräusch gewöhnen können. Es zerfetzte die heile Welt, die man sich immer und immer wieder einbildete und erinnerte einen daran, dass die schlimmsten Dinge oft nur einige Türen oder Straßen weiter lauerten. Man musste nur ein einziges Mal zur falschen Zeit am falschen Ort sein...
 
Aber hier war es leider nichts außergewöhnliches. Die Leute im Suicide District machten nach solchen Dingen einfach weiter. Was sollten sie auch anderes tun? Sie konnten sich nicht den ganzen Tag in ihren Häusern und Wohnungen verstecken, obwohl oftmals nicht einmal die sicher waren. Sie gingen trotzdem weiterhin nach draußen und höchstens ihre Augen zuckten ein wenig öfter hin und her als sonst. Sie drehten sich möglicherweise ein, zwei Mal öfter um, aber das war auch schon alles.
 
Als Jamal die Tür öffnete, kam mir ein kaum spürbarer Luftzug entgegen und ich stellte mir vor, wie gerade jemand nur ein paar hundert Meter weiter mit einer Kugel im Körper auf der Erde lag und den letzten Atemzug seines Lebens tat. Zur gleichen Zeit ging ich zu meinem Auto, schloss es auf und stieg ein. Ich wollte hier schleunigst verschwinden. Ich würde nicht nachsehen oder helfen. Ich würde nichts tun. Niemand würde das. 
 
Der Suicide District trug seinen Namen nicht zu unrecht. Denn nicht nur für Polizisten war es Selbstmord hier herzukommen. Für alle anderen auch. Ich wusste nicht ob ich die Menschen, die hier lebten, bemitleidete, bewunderte, verachtete oder einfach für verrückt hielt.
 
Ich passte nicht hierher.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt