Krieg der Schatten | 4

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Wir fuhren zu Vincents Apartment. Während der ganzen Fahrt schwieg ich und lehnte meinen schweren Kopf an das kühle Glas. Meine Gedanken waren bei Evan. Und bei Mom. Ich konnte es nicht verhindern, dass sie sich immer wieder in meinen Kopf drängte. Sie war der Grund, dass ich das alles tat und jetzt hatte Evan deshalb daran glauben müssen. Ich wusste, dass sie das nicht gewollt hätte, aber sie war schließlich nicht hier. Genauso wenig wie Evan. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass er weg war. Und dass er mich als nächste Angehörige und als Kontaktperson für Notfälle angegeben und es mir nicht mal erzählt hatte. Andererseits war er nie ein Mann großer Worte gewesen und gefühlsbetont schon gar nicht. Wahrscheinlich war es ihm einfach nicht wichtig vorgekommen.
 
„Wir sind da", riss mich Vincent aus meinen Gedanken.
 
Ich sah auf. Tatsächlich hatten wir gehalten. Etwas schwerfällig hievte ich mich aus dem Auto und wir stiegen in den alten Lastenaufzug, der uns hoch in die oberste Etage brachte. Vincents Apartment war das einzige auf diesem Stockwerk, was daran lag, dass es ziemlich klein war.
 
Ein seltsames Kribbeln überkam mich als ich an das letzte Mal dachte, dass ich hier gewesen war. Die Hitze, die schon damals in mir aufgestiegen war, wallte auch jetzt in mir hoch, doch ich ignorierte sie. Dieser Mann schaffte es immer wieder, dass ich all meine Vorsätze über den Haufen zu werfen drohte. Aber nicht dieses Mal. Gerade war wirklich der falsche Zeitpunkt. Es war schon schlimm genug, dass ich mit ihm mitgegangen war. Vor allem weil ich das Gefühl hatte, Evan damit zu hintergehen. Er hatte Vincent nicht leiden können und gewollt, dass ich den Kontakt abbrach. Ich konnte ihn verstehen. Immer wenn ich mit Vincent zusammen war, bewegte ich mich auf hauchdünnem Eis und es war nur eine Frage der Zeit bis ich einbrach. Trotzdem betrat ich es wieder und wieder.
 
Vincent starrte stur das Gitter des Aufzugs vor uns an. Falls ihm das Knistern zwischen uns auffiel, zeigte er es nicht. Allerdings entging mir nicht, dass er – vermutlich unbewusst – nervös seine Finger knetete. Als die Kabine oben angekommen war, schob er das Gitter zur Seite und schloss anschließend seine Tür auf.
 
Das Kribbeln verstärkte sich. Mir wurde klar, dass Vincent der einzige war, der mich von Evans Tod ablenken konnte. Und umgekehrt war Evans Tod das einzige, was mich von Vincent ablenken konnte. Aber im Moment siegten meine Schuldgefühle Evan gegenüber und die Traurigkeit übernahm wieder die Überhand. Es hörte sich zwar seltsam an, aber ich war froh darüber. Die Trauer hinderte mich daran irgendwelche Fehler zu begehen.
 
Der FBI-Agent hatte in der Zwischenzeit seinen Schlüssel auf seinem Wohnzimmertisch abgelegt. Er zog seine Waffe aus dem Holster, nahm seine Marke und legte beides dazu. „Falls dich meine Waffe beunruhigt, kann ich sie auch wegtun", meinte er als er sah, dass ich ihn beobachtet hatte.
 
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, kein Problem." Ich war mir nicht sicher, ob ich es als Vertrauen ansehen konnte, dass er seine Heckler&Koch offen herumliegen ließ. Ich persönlich würde niemanden auch nur in die Nähe meiner Waffe kommen lassen. Vor allem keinen, den ich erst seit ein paar Monaten kannte.
 
Doch er ließ sie dort liegen und zog seine Jacke und Schuhe aus. „Willst du etwas essen?", fragte er währenddessen.
 
„Nein, danke. Keinen Hunger."
 
„Durst? Willst du ein Glas Wasser? Falls es ganz schlimm ist, habe ich auch noch eine Flasche Schnaps da", versuchte er sich mit einem kleinen Scherz.
 
Ich lächelte schwach und schüttelte den Kopf. Womöglich war es genau das, was ich gerade wollte. Meinen Kummer ertränken. Doch ich wusste, dass es das nicht besser machte und ich nur noch zusätzliche Kopfschmerzen haben würde. Außerdem war ich mir nicht sicher was passieren würde, wenn ich betrunken war.
 
Als ich mich immer noch nicht vom Fleck bewegte, blieb Vincent stehen und musterte mich mit schief gelegtem Kopf. Irgendwie sah er süß dabei aus wie ihm einige Haarsträhnen ins Gesicht fielen. Schnell verscheuchte ich den kitschigen Gedanken wieder. Ich musste mich wirklich zusammenreißen.

„Dir geht es gut, was?", meinte er dann ironisch.
 
Wieder zwang ich mich zu einem leichten Lächeln und zuckte mit den Schulten. Sein Blick wurde noch weicher als ohnehin schon und auf einmal kam er auf mich zu. Ich widerstand dem Drang meines Gehirns zurückzuweichen, als er seine Arme um mich legte.
 
Die Umarmung war sanft und so leicht, dass ich mich jederzeit daraus befreien könnte. Doch das tat ich nicht. Stattdessen gab ich dem anderen Drang nach, legte meine Hände auf sein starkes Kreuz und drückte mich vollständig an ihn. Ich vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge und plötzlich überkamen mich die gesamten Gefühle des Tages, sodass ich ein Schluchzen unterdrücken musste. Ich kniff meine Augen zusammen, um ein paar Tränen, die drohten sich einen Weg auf meine Wangen zu bahnen, zurückzuhalten. Gleichzeitig spürte ich wie sich seine Arme etwas fester um mich schlangen und mich zu ihm zogen.
 
So viel dazu, dass mich die Trauer von Fehlern abhielt.
 
Ich hatte keine Ahnung wie lange wir so dastanden. Wir sprachen kein Wort und das war auch gut so. Es war genau das, was ich gerade nötig hatte und langsam hatte ich das Gefühl, dass er besser wusste, was ich brauchte, als ich selbst.
 
Als ich mich wieder beruhigt hatte, ließ er mich los und nahm wieder etwas Abstand. „Geht es wieder?"
 
Ich nickte und wischte mir die Reste der Tränen aus den Augen. Ich war völlig erschöpft. Der Tag war lange gewesen und die vielen Emotionen, die auf mich einprasselten, erschöpften mich. Es war anstrengend sie die ganze Zeit unter Kontrolle zu halten, aber ich hatte vor allem in dem Verhörraum einen kühlen Kopf bewahren müssen. Doch das schlimmste von allem waren die widersprüchlichen Gefühle Vincent gegenüber. Sie raubten mir die letzten Kräfte und am liebsten würde ich einfach vor all dem weglaufen. Leider war ich selbst dafür zu müde.
 
Das schien auch er zu bemerken und ging zu seinem Schrank. „Du kannst mein Bett haben. Ich übernachte auf dem Sofa." Er zog eine Decke und ein Kissen aus einem Fach und warf es auf sein heutiges Nachtlager.
 
„Es macht mir nichts aus auf der Couch zu schlafen", entgegnete ich und zog auch endlich meine Schuhe und meine Jacke aus. Meinen Hut legte ich auf dem Esstisch ab.
 
„Mir auch nicht. Wie gesagt. Ich diskutiere heute nicht mit dir." Er warf mir einen seiner Kapuzenpullover zu. „Das Bad ist dort drüben." Er zeigte auf die einzige Tür im Raum außer seiner Haustüre.
 
Ich gab endgültig nach und ging in das Badezimmer. Ich war ihm wirklich unglaublich dankbar, dass er mir meinen Freiraum ließ und vor allem nichts von mir erwartete. Und das galt nicht nur für heute. Ich wusste, dass er mich niemals zu etwas zwingen würde und dass er akzeptierte, dass ich meinen eigenen Kopf hatte, den ich meistens auch durchsetzte. Ich wünschte nur, dass ich das auch mit Sicherheit von ihm behaupten könnte, wenn er mein kleines Geheimnis kennen würde. Schließlich log ich ihn immer noch an und diese Tatsache wurde schwerwiegender je besser wir uns kennenlernten.
 
Im Bad zog ich mich um und schlüpfte in seinen Pullover. Meine Hose behielt ich einfach an. Zum Glück hatte ich mich heute Morgen für eine bequeme Jeans entschieden. Es kam mir vor als wäre eine Ewigkeit vergangen, dass ich heute Morgen aufgestanden und noch alles in Ordnung gewesen war. Der Tag hatte Spuren hinterlassen. Auch bei mir. Im Spiegel sah mir ein völlig erschöpftes Gesicht entgegen, bei dem ich kaum glauben konnte, dass es es vorhin tatsächlich geschafft hatte sich zu einem Lächeln zu zwingen. Es kam mir auf einmal sehr schwer vor zu lächeln.
 
Ich wandte mich ab und ging zurück in das Apartment. Vincent hatte sich in der Zwischenzeit ebenfalls umgezogen und sich das Sofa gerichtet. Ich steuerte schnurstracks auf das Palettenbett zu und legte meine Sachen daneben ab.
 
„Ich weiß, du bist müde, aber gestatte mir eine einzige Frage", sagte Vincent plötzlich, „Warum hast du mir deinen Vornamen verschwiegen, Jordan?"
 
Ein leichtes Beben ging durch meinen Körper als er mich mit meinem richtigen Vornamen ansprach. Jetzt wusste ich auch, warum Ross Kingston mir gegenüber im Verhörraum so misstrauisch gewesen war. Selbstverständlich hatten sie mich überprüft und waren dabei auch auf meinen Vornamen gestoßen. Da hatten bei ihnen die Alarmglocken geklingelt.
 
„Wegen dem Blick, mit dem du mich angesehen hättest, wenn ich ihn dir gesagt hätte. Es ist schwer mit diesem Namen in dieser Stadt ernst genommen zu werden. Die erste Reaktion der Leute ist ein seltsamer Blick und ich war es leid mit diesem irren Verbrecher in Verbindung gebracht zu werden."
 
„Du weißt, ich hätte dich nicht mit ihm verglichen."
 
„Ja, jetzt weiß ich es. Außerdem ist es zur Gewohnheit geworden meinen Vornamen nur zu nennen, wenn es unbedingt nötig ist. Tut mir leid."
 
Ich zuckte mit den Schultern und Vincent nickte.
 
„Und wie soll ich dich jetzt nennen? Jordan oder Ever?"
 
„Jordan", sagte ich. Ich wollte mich nicht länger verstellen müssen und dass er mich bei meinem richtigen Namen nannte, war zumindest ein Anfang.
 
„Es muss dir übrigens nicht leid tun", erwiderte er, „Bluffen gehört zum Spiel, nicht?"
 
Ein letztes Mal zwang ich mich zu lächeln. Doch dieses Mal sah es gequält aus. Ich wünschte es wäre wahr, was er sagte. Denn seit heute verschwieg ich ihm meine wahre Identität nicht mehr, sondern log ihn an.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt