Krieg der Schatten | 2

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Ein Zittern ging durchfuhr mich. Noch immer war ich unfähig mich zu bewegen. Ich wollte wegsehen, aber ich konnte nicht. Ich stand einfach da und starrte die Leiche an, während die Zeit still zu stehen schien. Mein Kopf war völlig leer und es war schwer das in Worte zu fassen, was in mir vorging. Das einzige, was ich spürte, war Taubheit. Der Schock saß tief und ich konnte zu Beginn einfach nicht begreifen, was ich sah.

Schließlich bemerkte ich, dass meine Knie begannen weich zu werden, aber ich konnte rein gar nichts dagegen tun. Leicht taumelte ich, bis sich plötzlich ein Arm um meine Taille legte, mich an einen Körper zogen und mich so stützten. Die Person zog mich von der Skulptur und Evan weg, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwanden.

Erst jetzt nahm ich meine Umgebung wieder einigermaßen wahr. Ich hob meinen Kopf und erkannte nach einer gefühlten Ewigkeit Vincent, der mich vorsichtig auf einer Parkbank absetzte, nachdem er mich von der Menschentraube weg hinter die Autos zu einer Bank geführt hatte. Dabei hatte er mich eher getragen als gestützt.

„Alles in Ordnung?", fragte er besorgt und seine Stimme schien das erste zu sein, das wieder an mein Ohr drang.

Geistesabwesend nickte ich, mein Blick verlief ins Leere. Ich merkte, wie sich langsam aber sicher meine Gedanken wieder klärten. Ich wollte mich dagegen wehren, aber es wurde mir immer klarer, dass Evan tot war. Diese Erkenntnis vertrieb auch den letzten Nebel aus meinem Gehirn und stattdessen schwirrte jetzt dieser eine Gedanke wie eine Flipperkugel darin herum und machte es mir unmöglich an etwas anderes zu denken.

Evan war tot. Ermordet. Aufgespießt und in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt um ihn auch im Tode noch zu demütigen.

Auf einmal fielen mir die ganzen Handys wieder ein, die die Leute hochgehalten hatten und mit denen sie Fotos und Videos gemacht hatten. Eine unglaubliche Wut breitete sich in mir aus und befreite mich endlich von der Lähmung. Hatten diese Menschen denn kein Schamgefühl oder irgendeine Weise von Respekt?

Ich sprang auf. „Die machen Fotos! Die Leute sollen verdammt noch mal aufhören zu gaffen!"

Ich wollte losstürmen, doch Vincent hielt mich zurück und drückte mich sanft wieder zurück auf die Bank. „Unsere Leute kümmern sich darum. Die sind bald weg", meinte er beschwichtigend.

Ich gab auf. Ich war ohnehin kaum in der Lage mich auf den Beinen zu halten, also ließ ich mich gegen die Rückenlehne sinken und sackte in mich zusammen. Mit beiden Händen fuhr ich mir über das Gesicht. Das durfte alles nicht wahr sein. Evan konnte nicht tot sein. Gestern erst hatte ich noch mit ihm gesprochen, ihn gesehen. Und das sollte es gewesen sein? Ich würde ihn nie wieder reden hören? Ihn nie wieder lebendig sehen? Kein stoisch gelassener Evan mehr? Keine Tadeleien, dass ich vorsichtiger sein sollte? Keine „Ausflüge" mehr, die in einer Katastrophe endeten?

Ich wollte aus diesem Albtraum aufwachen, aber ich wusste, dass es traurige Realität war. Ich konnte nichts mehr daran ändern, so sehr ich es auch wollte. Also atmete ich tief durch und wischte schnell den Anflug einer Träne aus meinem Augenwinkel. Als ich aufsah, saß Vincent noch immer neben mir. Es war seltsam ihn in Anzug und mit Waffe zu sehen, stand ihm aber gut. Jetzt wurde mir auch klar, warum er hier war. Das FBI war wahrscheinlich für die Aufklärung des Mordes zuständig.

„Geht's wieder?", wollte er wissen.

Ich nickte. „Ja", meinte ich und konnte nicht verhindern, dass mein Blick in Richtung Skulptur wanderte, die zum Glück von den Autos verdeckt wurde.

„Standet ihr euch sehr nah?"

Ich konnte mir vorstellen, dass er mich das schon seit dem Pokerabend fragen wollte. Doch jetzt hatte die Frage an Bedeutung verloren. „Ich kenne ihn bald seit 4 Jahren." Ich zuckte mit den Schultern. „Er war einfach immer da." Besser konnte ich unser Verhältnis nicht beschreiben.

Wir mochten zwar Freunde gewesen sein, aber er hatte auch für mich gearbeitet. Evan war derjenige gewesen, auf den ich mich von Anfang an immer verlassen konnte und der mir immer Rückendeckung gegeben hatte. Und das nicht nur im Kreuzfeuer. Zu mehr war es nie gekommen. Wir waren gute Freunde, ja, aber die Art von Freunde, denen man es nicht gleich ansah.

„Fällt dir jemand ein, der ihm das angetan haben könnte?"

Ich schüttelte den Kopf. „Nein", log ich. Auf Anhieb würden mir vermutlich hunderte Namen einfallen.

„Okay." Vincent hob den Kopf und sah zu einem Mann, der gerade hinter dem Auto erschienen war und ihn fragend ansah. Aufgrund seiner Haltung und Vincents Reaktion würde ich sagen sein Vorgesetzter.

„Es tut mir wirklich leid, Ever, aber ich fürchte wir müssen dich mit zu der FBI-Dienststelle nehmen und dir noch einige Fragen stellen."

Ich nickte. Was sollte ich schon sagen? Begeistert war ich auf jeden Fall nicht. Aber wenn ich mich wehren würde, wäre es zu auffällig.

Vincent berührte mich kurz an der Schultern und stand auf. „Könntest du hier warten? Ich komme gleich wieder."

Ich nickte wieder. Er stand auf und ging zu dem Mann am Auto. Doch kaum war er dahinter verschwunden, holte ich mein iPhone hervor und verschickte eine SMS mit einem siebenstelligen Code.

Dann lehnte ich mich zurück und stellte mich auf einen anstrengenden restlichen Tag ein. Mitten im Herzen derer, die mich jagten.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt