Knockin' at Heaven's Door | 2

341 34 6
                                    

Als er mich sah, hob Vincent eine Augenbraue. „Du siehst aus als hättest du seit Tagen nicht geschlafen", begrüßte er mich.
 
„Hab ich auch nicht", entgegnete ich, „Und du siehst aus als wärst du verprügelt worden."
 
„Wurde ich auch." Ich sah den Ansatz einer Platzwunde auf seiner Schläfe, die aber zwischen seinen Haaren verschwand. „Sind aber nur ein paar Kratzer", fügte er hinzu.
 
Ich trat einen Schritt zur Seite um ihn hereinzulassen. Doch kaum war er an mir vorbeigegangen, überkam mich Unsicherheit. Dieses Mal wusste ich allerdings warum. Es lag an meinem Apartment und daran wie er damals auf meine Rolex reagiert hatte, die ich im übrigen nur bei Terminen trug, bei denen ich Eindruck schinden musste. Ich hatte nie auch nur angedeutet wie reich ich tatsächlich war und es hatte auch keine Rolle gespielt. Ich wollte, dass das so blieb, doch ich war mir nicht sicher, ob es immer noch nichts daran ändern würde, wenn er erahnte wie viele Stellen mein Kontostand tatsächlich hatte. Plötzlich war mir mein Reichtum fast peinlich.
 
Ich schloss die Tür und drehte mich fast etwas schüchtern um, um ihn zu beobachten.
 
Er war hinter mir stehengeblieben und hatte den Eine-Millionen-Dollar-Ausblick auf sich wirken lassen. „Ich hätte Kunst-Händler werden sollen", sagte er, doch ich konnte keinen seltsamen Unterton aus seiner Stimme heraushören. Er sah mich an und ich lächelte leicht angespannt. Zu meiner Überraschung und vor allem meiner Erleichterung schien er sich jedoch nicht im geringsten darum zu kümmern, wie ich wohnte. Falls er beeindruckt oder gar eingeschüchtert war, zeigte er es nicht und gab mir das Gefühl, dass wir genauso gut in einer heruntergekommenen Hütte hätten stehen können. Ich mochte das.
 
„Hättest du wohl", meinte ich und entspannte mich wieder. Ich ging an ihm vorbei und steuerte auf die Küche zu.

„Willst du etwas trinken?" Ich deutete mit dem Kopf auf den Spirituosenschrank.
 
Er schüttelte den Kopf. „Danke, aber ich bin im Dienst."
 
„Wir haben Samstag."
 
„Okay, ich bin zwar nicht direkt im Dienst, aber wer weiß, wann der nächste Mord passiert. Verbrecher nehmen sich auch nicht frei."
 
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Heute schon", bestimmte ich, nahm die Flasche Bourbon und schenkte zwei Gläser ein.
 
Er konnte nicht widerstehen und schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich hoffe, du hast recht." Er nahm das Glas, das ich ihm hinhielt und nahm einen Schluck. Dann hob er eine Augenbraue. „Wie viel hat der..."
 
„Willst du nicht wissen."
 
Er lehnte sich mit dem Rücken an den Tresen und schien sich mein Apartment erst jetzt genau anzusehen. „Nett", meinte er und ließ seinen Blick über den Luxus gleiten.
 
„Sieh dich ruhig um, wenn du willst", sagte ich, als ich sah, dass sein Blick auf den Flügel gerichtet war. Er drückte sich ab, ging jedoch genau in die entgegengesetzte Richtung. Ich folgte ihm.
 
Vor meinem Bücherregal blieb er stehen. „Du liest gern", stellte er fest.
 
„Wenn ich Zeit dafür finde."
 
Er ließ seinen Blick über die Buchrücken streifen. An einer Holzschachtel, die in einer Ecke des Regals lag, blieb er hängen. „Darf ich?", fragte er und deutete auf den Deckel. Ich nickte, woraufhin er sie hochhob und vorsichtig öffnete. Im Inneren lag ein weiteres Buch. Es war in dunklem Leder eingebunden und mit goldenen Lettern stand der Titel auf dem Cover. Die Seiten waren ein wenig vergilbt, aber ansonsten war es in bestem Zustand.
 
„Der Graf von Monte Christo", las er.
 
„Eine französische Originalausgabe", erläuterte ich, „Mein Lieblingsbuch."
 
„Hast du es gelesen?"
 
„Natürlich."
 
Beeindruckt hob er eine Augenbraue. „Ich wusste nicht, dass du Französisch kannst."
 
„Es gibt so einiges, was du nicht von mir weißt", sagte ich herausfordernd.
 
Er lächelte schief und strich vorsichtig mit den Fingern über das alte Leder.
 
„Ich kenne die Geschichte. Der Graf rächt sich an all denen, die ihn hintergangen und zu Grunde gerichtet haben. Erstaunlicherweise hat sie sogar ein Happy End." Er sah mich aus dem Augenwinkel an und ich verstand. Monte Christo hatte am Ende alles, was er wollte.
 
„Ich weiß, dass das im echten Leben anders läuft", meinte ich und brach die Zweideutigkeit in unserem Gespräch.
 
„Evan ist tot, Jordan. Und wenn du ihn rächst, wird das nichts daran ändern", brachte er es auf den Punkt.

Meine Züge wurden unwillkürlich hart. „Darüber bin ich mir bewusst. Ich will nur, dass sein Mörder nicht ungestraft davonkommt." Okay, das war gelogen. Am liebsten würde ich ihn eigenhändig umbringen. Und Coles Mörder gleich mit.
 
Vincent mochte damit richtig liegen, dass ich das Buch so mochte, weil ich mich damit identifizieren konnte. Es war eine Geschichte über Rache, aber das hatte nichts mit Evan zu tun. Viel mehr mit meiner Mutter. Aber das konnte er nicht wissen.
 
„Versteh doch, Vince, ich will nicht dabei zusehen und nichts tun. Ich kann dir das nicht erklären, aber ich muss das einfach tun..." Ich wollte nicht wieder tatenlos dabei zusehen wie ein Mörder davonkommt. Die Gewissheit, dass ich schon damals bei Mom etwas hätte tun sollen, nein müssen, brannte noch immer in mir. Das schlechte Gewissen war manchmal so unerträglich, dass ich noch heute oft nach dem Täter suchte.
 
Er seufzte und etwas in der Art wie er das tat, verriet mir, dass er genau wusste, was ich meinte. Ich merkte, wie er mit sich rang. Ich hatte ihn in eine schwierige Situation gebracht. Auf der einen Seite wollte er mir helfen, aber auf der anderen Seite wollte er mich nicht in Gefahr bringen.
 
„Okay, ich mache dir einen Vorschlag." Er klappte den Deckel der Schatulle wieder zu und stellte sie zurück in das Regal, wobei er den Kiefer ein wenig anspannte, als er den Arm hob. Ich bemerkte es, sagte aber nichts.
 
Er wandte sich mir vollständig zu. „Ich verrate dir sämtliche Details zu Evan Shaws Mord und du kannst so viele Nachforschungen betreiben wie du willst. Aber von hier aus. Du wirst mit niemanden darüber reden, niemanden fragen und dich vor allem nicht in Gefahr begeben. Wenn du etwas finden solltest, rufst du mich sofort an und ich halte dich dann auf dem Laufenden."
 
Ich hörte ihm an, dass er bezweifelte, dass ich irgendetwas herausfinden würde, das er nicht schon längst wusste. Doch das ließ ich mir nicht anmerken. „Deal", sagte ich und beherrschte mich, nicht zu enthusiastisch zu sein.
 
Wir gingen zu dem Esstisch und setzten uns. Er fuhr sich über das Gesicht. „Das werde ich noch bereuen", murmelte er, dann sah er mich an. „Also? Was willst du wissen?"
 
„Alles."
 
„Natürlich..." Er schüttelte ein letztes Mal den Kopf, da er wusste, dass das eine dumme Idee war, begann aber schließlich zu erzählen, „Der Gerichtsmediziner hat den Todeszeitpunkt auf die Zeit zwischen zehn und elf Uhr eingegrenzt. Er hat Abwehrverletzungen gefunden und wir konnten Beruhigungsmittel nachweisen."
 
Ich biss die Zähne zusammen. Das erklärte einiges und ich war mir sicher, dass sich Evan noch heftig gewehrt hatte, bevor seine Angreifer ihn so hinterhältig außer Gefecht gesetzt hatten.
 
„Höchstwahrscheinlich hat er trotzdem alles mitbekommen..." Vincent sah mich aufmerksam an um zu testen, ob ich mit so vielen Details zurechtkam.
 
Ich hielt seinem prüfenden Blick stand und er fuhr fort: „Wir haben Reifenspuren gefunden, die zu einem Pick-up gehören. Sie sind wahrscheinlich auf das Dach gestiegen und haben ihn von dort aus..." Er brach ab, da es offensichtlich war, was danach geschehen war. Ich zwang mich, mir den Ablauf nicht vorzustellen.
 
„Wir haben die Reifenspuren überprüft, aber das Auto, zu dem sie gehören, wurde am Tag davor als gestohlen gemeldet. Es gab keine Fingerabdrücke und die einzige DNA, die wir sicherstellen konnten, ist nicht in der Datenbank gespeichert. Und was mit seinem Handy passiert ist, weißt du ja. Unsere Techniker haben sich die Zähne ausgebissen, aber sie konnten nichts retten."
 
Er machte eine Pause.
 
„Das ist alles?", hakte ich nach. Das war alles andere als viel.
 
Er schien zu überlegen ob er weiterreden sollte, gab sich aber schließlich einen Ruck. „Und dann sind da noch die Tarot-Karten."
 
„Was?" Ich musste mich zwingen weiter zu atmen. „Welche Tarot-Karten?"
 
„Die erste wurde bei Shaws Leiche gefunden. Die Kraft. Sie war in seiner Tasche. Und in der Nacht darauf wurde der Umschlag von Hastings unter meiner Tür durchgeschoben. Darin war ebenfalls eine Karte, weshalb ich anfangs davon ausging, dass der Mörder das getan hat. Bei mir war es Die Gerechtigkeit. Wir haben keine Ahnung was sie zu bedeuten haben."
 
Jetzt begann alles einen Sinn zu machen. Alle Karten, alle Morde, hingen zusammen. Evans und Coles Mörder waren ein und derselbe. Oder dieselbe. Obwohl ich an meiner Theorie zu Coles Tod zu zweifeln begann. Eine Frau hätte Evan nie überwältigen können. Schließlich hatte er trotz dem Beruhigungsmittel Abwehrverletzungen gehabt.
 
„Und weiter?", fragte ich wissbegierig.
 
„Nichts weiter. Das ist alles. Weiter sind wir auch nicht. Und genau das ist das Problem."
 
Ich wusste nicht ob ich das gut oder schlecht finden sollte. Auf der einen Seite war ich froh, dass das FBI nicht mal annähernd genug Informationen hatte, um die Verbindungen herzustellen, auf der anderen Seite erhöhte das natürlich die Chance, dass der Mörder davonkam.
 
Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück. Die Tarot-Karten waren eine Botschaft. Sie waren der Schlüssel. Ich musste nur noch das Schloss finden.
 
„Und was willst du jetzt tun?", wollte Vincent wissen.
 
„Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung." Ich lächelte gezwungen. Ich hatte mir mehr erhofft. Aber was hatte ich erwartet? Dass mir die Lösung einfach so in den Schoß fiel, wenn ich alle Infos hatte? Trotzdem machte sich Enttäuschung in mir breit.
 
„Nimm es nicht so schwer, Jordan. Ich weiß, das ist nicht das, was du erwartet hattest", meinte der Agent, der mich zu durchschauen schien.
 
Ich stand auf und stellte mich an das Fenster, damit ich mit dem Rücken zu ihm stand. Ich wollte seinem aufmerksamen Blick entgehen und atmete unauffällig durch. Mein Problem war die Angst zu versagen, wie ich es bei meiner Mutter getan hatte.
 
„Es ist völlig in Ordnung, wenn–", sprach er weiter.
 
„Können wir bitte das Thema wechseln?", unterbrach ich ihn ein wenig barscher als beabsichtigt, aber ich sah in der Spiegelung des Fensterglases, dass er nickte.
 
„Von mir aus gerne." Er schwieg und überließ mir die Wahl des Themas, doch ich hatte das Gefühl, dass er in Wirklichkeit nur darauf wartete, dass ich ihn bat zu gehen. Aber das tat ich nicht, was mich selbst ein wenig überraschte.
 
Als ich ebenfalls keine Anstalten machte etwas zu sagen, deutete er schließlich mit dem Kopf auf den schwarzen Steinway-Flügel. „Spielst du?"
 
Ich drehte mich wieder zu ihm um, schüttelte aber den Kopf.
 
Furchen zogen sich durch seine Stirn. „Du hast einen Neunzigtausend-Dollar-Flügel, aber kannst nicht spielen?!" Er verstand die Welt nicht mehr.
 
„Eine Freundin spielt ab und zu. Für mich ist er mehr oder weniger Dekoration." Ich zuckte mit den Schultern. Wenn ich so darüber nachdachte, hatte Cat schon eine ganze Weile nicht mehr gespielt.
 
„Dekoration...", echote Vincent ungläubig und massierte sich die Schläfen.
 
Er stand auf, ging zu dem Flügel und strich über das glänzende Holz. Dann setzte er sich auf den Klavierschemel und sah mich an. „Darf ich?", frage er und zeigte auf die Tasten.
 
Ich machte eine ausladende Handbewegung. „Bitte."
 
Gespannt kam ich einige Schritte näher und sah ihm über die Schultern, wie er die Finger auf die Tasten legte. Die Töne, die er anschlug waren zögerlich, aber ich sah, dass er mit dem Instrument vertraut war.
 
„Der Klang ist unglaublich", meinte er.
 
„Wie lange spielst du schon?"
 
„Ich habe seit Jahren nicht am Klavier gesessen. Früher habe ich gespielt, aber dann kam der Job und..." Er verstummte und drückte stattdessen auf einige weiteren Tasten.
 
Ich sah ihm an wie sehr er es genoss. Er überraschte mich. Es war das Letzte, mit dem ich gerechnet hätte.
 
„Es gibt nicht viele, die davon wissen. Ich hänge es nicht gerade an die große Glocke." Er zuckte mit den Schultern.
 
Vincent hörte auf und sah mich an.
 
„Mach weiter", sagte ich fasziniert.
 
Ich sah wie ein leichtes Lächeln über seine Lippen huschte, doch ich nahm es kaum wahr. Meine Augen klebten an seinen Fingern, die er langsam wieder auf die Tasten legte. Weitere Töne drangen an mein Ohr und erfüllten das Apartment. Zuerst waren sie langsam, zaghaft und vielleicht auch ein bisschen falsch, doch je länger er spielte, desto sicherer wurde er.
 
Ich kannte „Knockin' on Heaven's Door", aber das Lied hatte mich noch nie so in seinen Bann gezogen wie jetzt. Ich konnte nicht genug von der Musik bekommen und bald stand ich neben ihm und sah ihm dabei zu, wie er einfache Tastenanschläge in etwas so schönes verwandelte, dass ich nicht anders konnte als einfach dazustehen und zuzuhören.
 
Erst als ich Vincents Blick auf mir spürte, bemerkte ich, dass er aufgehört hatte. Ich war froh, dass ich niemand war, der schnell rot anlief, aber ich spürte, wie etwas Wärme in meine Wangen stieg.
 
„Komm her", meinte er plötzlich und rutschte auf dem Schemel ein wenig nach rechts.
 
Ich schüttelte rein instinktiv den Kopf. „Ich kann nicht spielen", wiederholte ich.
 
„Jeder kann spielen", widersprach er, „Na los."
 
Unentschlossen setzte ich mich links neben ihn und sah ihn beinahe schüchtern von der Seite an. Er drückte erneut einige Tasten und ich erkannte die Liedstimme von „The Hanging Tree". Nach der ersten Strophe griff er auf meine Seite und drückte im gleichen Abstand eine Taste.
 
„Das bekommst du hin oder?"
 
Ich erwiderte nichts darauf und übernahm stattdessen die Taste.
 
„Hört sich gar nicht mal so schlecht an", lobte er mich nach einer weiteren Strophe und zeigte mir vier weitere Tastenanschläge, die sich immer wiederholten.
 
„Du bist ein Naturtalent", meinte er, als die letzten Töne verklangen.
 
„Also in meinen Ohren hat das ziemlich schief geklungen."
 
„Okay, vielleicht hast du ab und an deinen Einsatz verpasst, aber..."
 
Ich lachte.
 
„Für das erste Mal war das gar nicht schlecht", beendete er seinen Satz und auch seine Mundwinkel bogen sich nach oben.
 
Sein Lächeln war aus der Nähe noch atemberaubender als ohnehin schon und ich erwischte mich selbst dabei, wie ich auf seine Lippen starrte. Als mir das bewusst wurde, zog sich meine Brust zusammen. Was machte ich hier nur? Er war ein FBI-Agent und ich... Doch das Schlimmste war, dass das im Moment nicht die geringste Rolle zu spielen schien. Ich wollte mich bewegen, aber ich konnte nicht. Langsam wurde mir bewusst, dass ich nicht die geringste Chance hatte, dem hier zu entkommen. Das Einzige, das ich spürte, war die Hitze und das Kribbeln, die von den Stellen ausging, wo seine Haut ab und zu leicht die meine streifte.
 
Endlich schaffte ich es, mich von seinem Mund loszureißen und sah nach oben. Ich erschrak ein wenig über die Intensität, mit der sich sein Blick in mich bohrte. Ich fühlte mich irgendwie ausgeliefert, aber im Moment gab es kein schöneres Gefühl als das. Die Gewissheit, dass ich nicht länger davonlaufen konnte, erleichterte mich seltsamerweise und ließ mich ihm ein Stück näher kommen. Es waren nur wenige Millimeter, doch die reichten, dass er wusste, dass ich ihn gewähren ließ.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt