Roter Samt | 2

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„Hatte ich nicht gesagt, dass du dich zurückhalten solltest?", fragte Vincent sich an mich wendend.
 
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Hast du das?"
 
Er schüttelte den Kopf. „Aber eins muss man dir lassen. Sie haben dir die FBI-Agentin sogar ohne Marke sofort abgekauft. Und das mit den Schuhen."
 
Ich sah an mir runter. Er hatte recht. Vermutlich waren Elf-Zentimeter-Absätze beim FBI nicht gerade üblich. Ich zuckte mit den Schultern. Alles eine Frage des Auftritts.
 
„Glaubst du ihm?", wollte Vincent schließlich wissen und kehrte damit zu dem Mord zurück. Ich nickte. „Am Ende wirkte er aufrichtig. Ich traue ihm keinen Mord zu. Nicht mal Beihilfe."
 
„Geht mir genauso. Damit sind wir aber leider kein Stück weitergekommen."
 
„Und jetzt?"
 
Er sah auf seine Uhr. „Jetzt muss ich weiterarbeiten. Wir haben noch mehr Spuren, aber das hier war die vielversprechendste. Ich werde im Büro auf jeden Fall noch die Kameras checken, aber weil der Typ wirklich keinen einzigen Fingerabdruck oder DNA hinterlassen hat, erwarte ich nicht so viel. Tut mir leid. Ich weiß, du hast dir etwas anderes erwartet, aber so ist die Ermittlungsarbeit nun mal. Das geht nicht so reibungslos wie im Fernsehen." Zum ersten Mal wünschte ich mir es wäre so.
 
„Ich weiß. Wäre auch zu schön gewesen. Trotzdem danke." Zumindest konnte ich mit den Informationen eigene Nachforschungen anstellen.
 
„Wir verabschieden uns noch schnell von Mr. Hastings, dann fahren wir zurück." Er hielt inne und kratzte sich am Hinterkopf. „Könntest du mich dann eventuell nach Hause fahren? Ich hatte vergessen, dass ich gar kein Auto habe..."
 
Ich lachte. „Klar."
 
Als wir in Mr. Hastings Büro traten, kam mir sofort der starke Geruch von gefühlten hundert Duftbäumchen entgegen. Zwei davon hingen an seiner Schreibtischlampe, aber ich könnte wetten, dass in seinen Schubladen versteckt noch unzählige mehr herumlagen. Aber irgendwie musste man ja den Geruch des Todes loswerden.
 
Hastings Senior telefonierte gerade mit einem Kunden und zeigte auf die Stühle vor seinem Schreibtisch. Wir blieben stehen um ihm zu signalisieren, dass wir nicht mehr lange blieben wollten. Nachdem er aufgelegt hatte, wandte er sich uns zu. „Und? Was hat mein Sohn dieses Mal angestellt?" Es kam mir vor als hätte er diese Frage schon tausend Mal gestellt, weshalb ihm Vincents Antwort umso mehr freute.
 
„Gar nichts. Er ist nur Zeuge im Zusammenhang mit einem Verbrechen gewesen. Sie können ihn ja selbst fragen. Von unserer Seite wäre das dann alles. Wir wollten Ihnen nur noch einen schönen Tag wünschen."
 
Er reichte dem Teilzeit-Hippie die Hand und schüttelte sie. Ich tat das Gleiche, doch bevor wir gehen konnte, nahm er eine seiner Visitenkarten und gab uns jeweils eine davon. „Falls Sie mal einen Bestatter Ihres Vertrauens brauchen. Bei Ihrem Job..." Er brach ab, aber nicht weil er merkte wie unangebracht sein Satz war, sondern weil er es für selbstredend hielt.
 
Vincent lächelte gezwungen. „Danke", meinte er und steckte die Karte ein.
 
Ich tat das Gleiche, war aber entschlossen sie bei der erstbesten Möglichkeit zu entsorgen. Sie stank nach den Duftbäumen.
 
Wir wollten uns gerade umdrehen um zu gehen, als wie aus dem nichts das Glas eines Bilderrahmens explodierte.
 
Wir zuckten alle gleichzeitig zusammen. Im nächsten Moment wurde die Schreibtischlampe umgerissen und etwas ließ das Holz des Tisches splittern. Hinzu kam ein ohrenbetäubender Lärm.
 
Noch bevor wir verstanden hatten, dass auf uns geschossen wurde, hatten wir uns auf den Boden fallen lassen. Hastings hatte hinter seinem Schreibtisch noch die sicherste Position, aber Vincent und ich waren genau in der Schussbahn. Ich kroch ein wenig nach rechts, als eine weitere Kugel wenige Zentimeter über meinem Kopf vorbei zischte. Mit einem halben Hechtsprung brachte ich mich aus der Schusslinie und verschanzte mich hinter einem Aktenschrank. Nicht gerade der sicherste Platz, da er gerade so breit war wie meine Schultern, aber besser als direkt vor der Doppeltür zu sein, die in Hastings Büro führte und durch die die Kugeln flogen.
 
Mein Herzschlag war mal wieder innerhalb von einer Sekunde auf hundertachtzig und ich war alleine durch den Schock völlig außer Atem. Während ich tief durchatmete und begriff, dass ich nicht nur noch lebte, sondern auch noch unverletzt war, griff ich instinktmäßig nach meiner Beretta in meinem Hosenbund. Dummerweise hatte ich sie Zuhause gelassen.
 
„Jordan!", hörte ich auf einmal meinen Name über den Lärm hinweg und drehte den Kopf. Vincent hatte schneller reagiert und deshalb auch eine bessere Position erwischt. Es war ihm gelungen sich hinter den Schreibtisch zu werfen und neben Hastings zu kauern. Der arme Bestatter war völlig überfordert und die nackte Angst war ihm ins Gesicht geschrieben, doch Vincents besorgter Blick galt nur mir.
 
„Mir geht es gut!", rief ich zu ihm rüber.
 
Er nickte und lud seine Waffe durch, die er bereits gezogen hatte. „Bleib dort und beweg dich nicht", gab er mir mit einer Geste zu verstehen und ich nickte. Ich hatte nicht vor mich unbewaffnet vom Fleck zu bewegen.
 
Er wandte sich an Hastings, der mit ihm einige kurze Worte wechselte und dann auf etwas in meiner Richtung zeigte. Ich hob den Blick und erst jetzt fiel mir eine Tür in der Wand direkt neben mir auf. Ich sah wieder zu Vincent und nickte. Ich hatte verstanden. Wir mussten hier raus, da wir hier auf dem Präsentierteller saßen. Wenn die Doppeltür der einzige Zugang gewesen wäre, wären wir verloren gewesen. Aber das war er nicht und wir hatten noch eine Chance. Auch wenn sie gering war.
 
Der oder die Angreifer rückten immer weiter vor und kurz darauf hörte der Lärm von abfeuernden Schüssen und Kugeln, die um uns herum einschlugen, endlich auf. Stille kehrte ein. Allerdings nur für einen winzigen Augenblick, denn Vincent nutzte ihn, kniete sich hin, schaute über die Schreibtischplatte und schoss. Gleichzeitig scheuchte er Hastings irgendwie in meine Richtung, der schließlich seinen ganzen Mut zusammennahm und aus seiner Deckung hechtete.
 
Währenddessen sprang ich ebenfalls aus meinem Versteck und riss die Tür auf. Hastings riss mich fast um als er durch die Tür stolperte und mich mit in den Gang drückte. Im gleichen Moment hörte Vincent auf zu schießen und die anderen, bei denen ich mir inzwischen sicher war, dass es mehrere waren, feuerten wieder zurück. Aber kaum hatte ich mich umgedreht um ihm irgendwie zu helfen, sprang er schon über die Türschwelle und knallte die Tür hinter sich zu.
 
Zum Glück schloss dieser Gang nicht an den an, durch den wir hergekommen waren, sodass wir erst mal in Sicherheit waren. Das dauerte allerdings nicht lange an, da ich bereits Schritte hinter der verschlossenen Tür hörte. „Gibt es hier einen Hinterausgang?", fragte Vincent Hastings. Er nickte bloß und zeigte auf eine weitere Tür ganz in der Nähe. „Dann los!", rief er.
 
Der Bestatter ließ sich das nicht zweimal sagen und rannte voraus, aber als er an der Tür angekommen war, hielt er inne. „Mein Sohn!" Aber seine Sorge wurde ihm gleich darauf genommen, da von draußen Hendrick nach seinem Vater rief. Wahrscheinlich war er gleich, als er die ersten Schüsse gehört hatte, abgehauen. Jetzt hielt Hastings nichts mehr zurück und er verschwand durch die Tür, die hinter ihm zuschlug.
 
Wir wollten hinterher, doch dann hörten wir wie die Bürotür hinter uns aufflog und sofort wurden wir wieder beschossen. Dieses Mal gab es aber noch weniger Möglichkeiten uns zu verschanzen, da wir uns in einer Art Hinterzimmer befanden, das nur dazu da war Hastings Büro mit dem Hinterausgang und der Werkhalle zu verbinden, aus der sein Sohn vorhin gekommen war und in der die Särge herumstanden. Der Fluchtweg rückte auf einmal in unerreichbare Ferne und uns blieb nichts anderes übrig als in die Werkhalle zu fliehen.
 
Vincent knallte die Tür hinter uns zu und warf ein Regal mit Werkzeugen um, das verhinderte, dass man sie aufstemmen konnte. Zumindest fürs Erste. Ich sah wie von außen dagegen gedrückt wurde, aber das Regal samt Inhalt war glücklicherweise sehr schwer, sodass sie es nicht schafften sie aufzudrücken.
 
Doch Vincent hielt sich nicht damit auf sich sein Werk anzusehen, sondern war gleich bei mir und zog mich ohne ein Wort von der Tür weg. Leider war sie aus relativ dünnem Holz und so kam es, dass uns gleich wieder die Kugeln um die Ohren flogen. Wieder reagierte Vincent schneller als ich, warf sich zu Boden und riss mich mit sich.
 
Wir landeten auf dem Bauch. Er lag dicht neben mir und drückte mit seiner freien Hand sachte meinen Kopf auf den Boden. „Kopf runter und nicht bewegen", sagte er.
 
So warteten wir, bis die Schüsse weniger wurden und schließlich ganz aufhörten. „Sie müssen nachladen. Los, hinter die Särge!" Er sprang schon wieder auf und zog mich hinter sich her.
 
Wir warfen uns hinter eine Reihe von Holzkisten und hatten das erste Mal Zeit Luft zu holen. Die Männer hinter der Tür fluchten und immer wieder versuchten sie sie einzutreten, aber es gelang ihnen nicht. Jedoch gab es einen zweiten Eingang zu der Halle, aus dem wir aber auch nicht entkommen konnten, da unsere Angreifer vermutlich schneller dort waren als wir abhauen könnten.
 
„Es gibt keinen anderen Ausgang", bemerkte auch Vincent und sah sich um. Sein erster Blick hatte ihn aber nicht getäuscht. Er wollte es zwar nicht laut aussprechen, aber wir waren gefangen und unsere einzige Hoffnung war, dass Hastings die Polizei rief und sie rechtzeitig hier eintraf.
 
Schließlich sah Vincent mich an. In seiner Aufregung fiel ihm nicht auf, dass ich nicht halb so verängstigt war wie er annahm und begann beruhigend auf mich einzureden, während er sich gleichzeitig weiter nach einem Ausgang umsah. „Ich weiß es ist schwer, aber du musst jetzt ruhig bleiben. Bleib einfach hier und zieh den Kopf ein."
 
„Ich weiß", meinte ich mit fester Stimme, aber er nahm mich kaum wahr.
 
Also nahm ich die Sache selbst in die Hand. Ich hatte keine Lust die ganze Zeit unbewaffnet von ihm durch den Raum geschleift zu werden und zu hoffen, dass ich nicht erschossen wurde. Deshalb griff ich an seinen rechen Knöchel, schob seine Hose hoch und zog die Glock, die dort als Zweitwaffe in seinem Knöchelholster steckte, heraus. Mit einer flüssigen Bewegung, die zeigte, dass ich davon Ahnung hatte, checkte ich das Magazin, entsicherte sie und lud sie durch.
 
Als Vincent das bemerkte, sah er mich entgeistert an. „Kannst du damit umgehen?" Er fragte gar nicht erst woher ich von seiner Zweitwaffe wusste.
 
„Kann ich", versicherte ich ihm, „Ich habe selbst eine Beretta. Und ja, ich habe einen Waffenschein und auch die Erlaubnis sie verdeckt zu tragen. Und falls ich jemanden erschießen sollte, ist das hier eindeutig Selbstverteidigung. Also alles völlig legal."
 
Er sah mich an. „Hast du eigentliche eine Ahnung wie scheißegal mir gerade ist, ob es legal ist, was du tust? Solange wir überleben, könntest du sogar eine Panzerfaust aus deinem Hut zaubern."
 
Ich grinste und er schüttelte angesichts der Situation und meiner Reaktion darauf den Kopf.
 
„Okay, pass auf. Wir kommen hier nicht raus ohne an denen vorbeizukommen. Die werden gleich durch die Tür da vorne hier reinkommen und ich habe nur noch etwa neun Schuss. Schieß nur wenn es nötig ist und lauf, wenn du kannst. Klar?"
 
„Klar", meinte ich und streifte mir die Schuhe von den Füßen.
 
„Was soll denn das jetzt?"
 
„Bist du schon mal in solchen Schuhen gerannt?" Es hatte einen Grund, warum FBI-Agentinnen im Außeneinsatz flache Schuhe trugen.
 
Er fuhr sich über die Stirn und winkte ab. Er konnte nicht fassen wie ruhig ich war und musste sich erst mal an die neue Situation gewöhnen. Vermutlich klammerten die Leute, die mit ihm in so eine Situation geraten, sich sonst heulend, schreiend und völlig aufgelöst an ihn.
 
Dass ich meine Angst gut verbergen konnte, hieß allerdings nicht, dass ich keine hatte. Mit der Waffe in der Hand fühlte ich mich schon wesentlich sicherer, trotzdem spielte mein Puls noch verrückt. Das Schlimmste waren die Momente, in denen man nicht in Bewegung war und abwarten musste, bis der Gegner seinen Zug gemacht hatte. Unsere ließen nicht lange auf sich warten.
 
Kurz darauf wurde die Tür aufgestoßen und unsere Angreifer kamen mit den Waffen im Anschlag herein. Ich hielt die Luft an und schielte auf Vincents Handzeichen, die sagten, dass ich noch warten sollte. Mir juckte es in den Fingern, aber ich beherrschte mich. Ich kämpfte damit meine Angst unter Kontrolle zu halten und als ich zu Vincent sah, stellte ich fest, dass es ihm genauso zu gehen schien. Ich war erleichtert, dass ich nicht die einzige war und sogar ein FBI-Agent damit Probleme hatte. Die Kunst war sich davon nicht überwältigen zu lassen.
 
Ich hörte wie die Schritte unserer Angreifer immer näher kamen. So weit ich es gesehen hatte, waren es drei Männer gewesen. Sie sprachen kein Wort miteinander und gingen durch die Reihen von Särgen, jederzeit bereit zu schießen. Irgendwie ironisch, dass wir hier, in einem Bestattungsunternehmen zwischen haufenweise Särgen, vermutlich sterben würden.
 
Dann war die Ruhe wieder so plötzlich vorbei wie sie eingetreten war. Aus Zufall hatte ich nach links gesehen und sah so den Kopf, der über dem Stapel aus nicht fertigen Särgen auftauchte. Die Waffe des Mannes war auf Vincent gerichtet, der ihn noch nicht entdeckt hatte. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich ließ mich nach hinten fallen, damit der Winkel nicht mehr zu spitz war, riss die Glock hoch und schoss.
 
Der FBI-Agent zuckte zusammen, drehte sich zu mir um und brauchte eine weitere Sekunde bis er verstand, was los war. Er richtete seine Waffe ebenfalls auf die Stelle, aber der Kopf war verschwunden. Ich hatte ihn an der Stirn erwischt, wusste aber nicht ob es nur ein Streifschuss war. Auf jeden Fall hatte er nichts fallen lassen und war aus meinem Schussfeld. Das Problem war, dass ich mit dem Schuss unsere Position verraten hatte.
 
Deshalb sprangen wir auf und liefen geduckt Zickzack durch die Reihen aus Särgen, aber es wurde immer klarer, dass wir gefangen waren. Es gab nur einen Ausgang, da wir den anderen selbst versperrt hatten, und wenn wir versuchten dorthin zu kommen, müssten wir an den Angreifern vorbei. Keiner von uns legte es gerade darauf an ihnen noch einmal zu direkt begegnen, zumal sie einer mehr waren und wir in einer direkten Konfrontation den Kürzeren ziehen würden. So hatten sie uns eingekreist und trieben uns immer weiter in die Ecke.
 
Als mir das endgültig bewusst wurde, wurde ich unruhig. Ich wollte nicht sterben, vor allem nicht wie ein gejagtes Kaninchen, denn genau so fühlte ich mich gerade. Und das war kein schönes Gefühl.
 
Etwas hilflos sah ich zu Vincent, der aussah, als würde er sich genau wie ich das Hirn darüber zermartern wie wir hier rauskamen. Aber im Gegensatz zu mir schien er Erfolg zu haben. Von der einen auf die andere Sekunde packte er mich am Arm. „Da rein", flüsterte er und riss den Deckel eines Sarges auf und zog mich in die Richtung.
 
Ich war ein wenig überrumpelt und trotz meiner Angst sträubte sich etwas in mir freiwillig in einen Sarg zu steigen. Doch die Schritte, die ganz in der Nähe waren und direkt auf uns zukamen, ließen mir keine Wahl. Vincent hatte sich bereits in die Kiste fallen lassen, die innen mit rotem Samt tapeziert war. Ich ärgerte mich innerlich über meine Feigheit, immerhin war das hier hundert mal besser als erschossen zu werden. Also gab ich mir einen Ruck und kletterte ebenfalls in den Sarg. Da Särge grundsätzlich aber nur für einen Menschen ausgestattet waren, blieb mir nichts anderes übrig als mich direkt auf den FBI-Agenten zu legen, der mich mit drängendem Blick angesehen hatte.

Ich schloss die Kiste über mir und es wurde dunkel.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt