Der leere Stuhl | 1

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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, verspürte ich keine sonderlich große Lust aufzustehen, weshalb ich einfach liegen blieb. Zumindest fürs Erste. Wir hatten Samstag und mein Wecker sagte mir, dass es kurz vor halb elf war. Ich schloss noch einmal die Augen und döste vor mich hin, bis ich vollständig wach war.
 
Ich blinzelte gegen die Sonne an, die durch die bodentiefen Fenster herein schien. Draußen war wunderschönes Wetter und die Sonnenstrahlen tauchten die Skyline der Stadt in warmes Licht.
 
Ich gähnte und griff nach meinem iPhone, das auf meinem Nachttisch lag. Kurz dachte ich darüber nach, Vincent anzurufen, um mich bei ihm für mein arrogantes Verhalten bei unseren letzten beiden Treffen zu entschuldigen, aber ich ließ es sein. Was sollte es auch bringen? Ich wusste genau, dass es das beste war, wenn ich ihn nie wieder sah, trotzdem erwischte ich mich selbst immer wieder bei solchen dummen Überlegungen. Er ging mir nicht mehr aus dem Kopf, aber ich wusste, es war besser, wenn er mich hasste. Auch wenn ich den Gedanken daran nur schwer ertragen konnte.
 
Doch wie so oft rettete mich Cat. Ich nahm ihren Anruf an, der gerade auf meinem Handy einging. „Morgen."
 
„Bist du gerade erst aufgestanden?", kam prompt die Gegenfrage, „Du hörst dich so verschlafen an."
 
„Genau genommen liege ich noch im Bett."
 
Lachen ertönte am anderen Ende der Leitung. „Alleine?", fragte sie schelmisch.
 
„Natürlich", entgegnete ich mit gespielter Empörung.
 
Ich setzte mich auf und sie wechselte das Thema: „Shaw hat mich angerufen und mir erzählt, was gestern passiert ist. Geht es dir gut?"
 
„Alles bestens", meinte ich mit einem Blick auf meine Schulter, auf der mir ein wunderschöner, blauer Fleck entgegen lachte, „Was wollte er?"
 
„Ich soll dir ausrichten, dass er noch keine näheren Informationen wegen den Männern gestern hat, aber er kümmert sich darum." Hätte mich gewundert, wenn er schon etwas herausgefunden hätte. Respekt, dass er sich heute schon so früh aus dem Bett gequält hatte.
 
„Tyrese Zola hat ihn übrigens um ein Treffen gebeten. Heute Mittag irgendwann. Er ruft dich dann an und sagt dir Bescheid, was dabei herausgekommen ist."
 
Ich seufzte innerlich. Eigentlich hätte ich heute gerne meine Ruhe gehabt. Mein Vater hatte zu unserem wöchentlichen Familienessen eingeladen und ich hasste es, auch nur an meine Geschäfte zu denken, wenn ich bei meiner Familie war. Außerdem hatten sie keine Ahnung, womit ich in Wahrheit mein Geld verdiente.
 
Aber ich ließ mir davon nichts anmerken. „Okay. Weiter?" Ich schwang meine Beine über die Bettkante, ging in die Küche und machte meine Kaffeemaschine an.
 
„Ähmm... Der Käufer der letzten antiken Statue ist sicher zuhause angekommen und das Geld ist überwiesen. Das war's eigentlich."
 
„Gut. Könntest du bitte noch das Abteil in dem Lagerhaus für den Bellini verlängern?"
 
„Wie lange?"
 
„Einen Monat. Es wäre zu auffällig, wenn wir das Abteil an dem Tag der Auktion kündigen."
 
„Alles klar."
 
„Danke, Cat. Und nimm dir den Rest des Tages frei, ja?"
 
„Klar. Sobald ich die Namen der Toten gestern Abend habe."
 
Ich lächelte. Ich hatte sie nicht mal darum bitten müssen. Wenn ich eins schätzte, war es Vorausdenken. Eine Eigenschaft, die Cat nur allzu gut beherrschte. „Was würde ich nur ohne dich machen?"
 
„Wahrscheinlich alles alleine. Mach dir einen schönen Tag, Jordan. Bye." Und schon hatte sie aufgelegt.
 
Ich lächelte. Cat konnte einem fast immer irgendwie den Tag versüßen.
 
Ich trank meinen Kaffee und machte mich fertig, sodass ich pünktlich um kurz vor Zwölf auf dem Weg zu dem Haus meiner Eltern war. Ich liebte die Familienessen, auf die mein Vater nahezu jede Woche bestand. Ich wurde ein Stück weit wieder in meine Kindheit zurückversetzt, in der alles so einfach und leicht gewesen war. Auch wenn man damals anderer Meinung gewesen war.
 
Das Haus, in dem ich aufgewachsen war, lag einige Kilometer außerhalb der Stadt, in einer kleinen, ruhigen Vorstadt. Nicht so klischeehaft wie das von Agatha, aber dennoch ein typisches Haus der Mittelklasse mit gepflegtem Rasen, grauer Holzfassade und Veranda. Nur der weiße Gartenzaun fehlte.
 
Ich mochte das Haus. In all den Jahren schien es sich kein bisschen verändert zu haben und ich fühlte mich immer als würde ich von der Highschool nach Hause kommen. Die Vertrautheit war beruhigend und man konnte sich in der Sicherheit schwelgen, dass sich zumindest hier nie etwas ändern würde. Doch der Schein trog.
 
Ich parkte mein Auto vor der Garage neben denen meiner Brüder. Ich war die Jüngste von drei Kindern. Wir waren längst zuhause ausgezogen und hatten unsere eigenen Leben. Die Essen waren eine der wenigen Gelegenheiten wieder alle zusammen zu sein.
 
Ich stieg aus und gerade als ich meinen Schlüssel aus der Tasche ziehen wollte, wurde bereits die Tür aufgerissen und mein zwei Jahre älterer Bruder Chase lehnte im Rahmen. „Du bist die Letzte. Wie immer", zog er mich auf.
 
Unbeeindruckt schob ich ihn zur Seite. „Im Gegensatz zu dir habe ich ein erfolgreiches Geschäft zu leiten."
 
Er überging meinen Konter. „Wir haben Samstag."
 
„Na und?"
 
„Normale Menschen nehmen sich zumindest samstags frei."
 
Ich hatte keine Lust zu diskutieren, denn genau darauf war er aus. Er zog mich nur zu gerne auf, das hatte er schon als Kind getan. Ich konnte ihm sein innerliches Grinsen ansehen.
 
„Seit wann bin ich normal?", entgegnete ich und hängte meine Jacke und meinen Hut an den Haken, „Wie wäre es mit „Schön, dass du es geschafft hast, Jordan"?"
 
„Schön, dass du es geschafft hast, Jordan", sagte plötzlich eine Stimme hinter mir.
 
Lächelnd drehte ich mich um. „Siehst du. Will hat es verstanden."
 
Ich umarmte meine zweiten und mit 32 fünf Jahre älteren Bruder William. Im Gegensatz zu Chase merkte man ihm an, dass er reifer war. Will und ich hatten uns schon immer bestens verstanden und mein großer Bruder hatte eine Art Beschützer-Instinkt gegenüber seiner kleinen Schwester entwickelt. Nicht, dass ich das gebraucht hätte.
 
Ich konnte mir vorstellen, dass das für Chase nicht immer einfach gewesen war, aber falls es ihm etwas ausmachte oder ausgemacht hatte, hatte er sich das nie anmerken lassen. Er war immer der mit den meisten Freunden gewesen und dementsprechend kaum zu Hause gewesen. Wenn er nicht gerade auf einer Party gewesen war, hatte er sich nur zu gerne in Schwierigkeiten gebracht. Vor allem als Teenager. Zwar hatte ich ab und zu auch etwas angestellt, aber der Unterschied zwischen mir und Chase war, dass ich mich dabei nicht hatte erwischen lassen. Inzwischen hatte er seine Jugendsünden zum größten Teil hinter sich gelassen und besaß inzwischen eine eigene Bar, die nicht mal schlecht lief.
 
Will und ich lösten uns wieder voneinander. „Wo ist Dad?"
 
„In der Küche. Wo sonst?"
 
Ich ging in den nächsten Raum und erblickte das vertraute Bild meines Vaters vor dem Herd. Er war ein leidenschaftlicher Koch, was meine Mutter sehr an ihm geschätzt hatte. Kochen war ihre gemeinsame Passion gewesen.
 
„Hallo, Dad", sagte ich und er sah von seinem Topf auf.
 
„Ah, meine Lieblingstochter", meinte er und breitete die Arme aus.
 
„Dad, ich bin deine einzige Tochter."
 
„Ich weiß." Er lächelte breit und seine großen Hände ruhten auf meinen Schultern, während er mich ansah. „Und genau deshalb bist du etwas ganz besonderes. Aber verrate das bloß nicht deinen Brüdern." Er zwinkerte mir zu und ich lachte.
 
Als die Jungs in die Küche kamen, deutete er auf die Teller. „Könntet ihr bitte schon mal den Tisch decken? Das Essen ist gleich fertig."
 
Wir schnappten uns das Geschirr und wenig später saßen wir am Tisch und ich schaufelte mir etwas von der Lasagne auf den Teller, die meiner Meinung nach jedes Fünf-Sterne-Restaurant in den Schatten stellte.
 
„Wie läuft deine Bar, Chase?", wollte mein Vater wissen. Die übliche Samstags-Konversation. Vielleicht ein wenig trivial, aber ich genoss die meist unbedeutenden Themen. Der Angesprochene zuckte mit den Schultern.
 
„Kann mich nicht beklagen", erzählte er mit vollem Mund, „Hab gestern wieder einen Säufer rausschmeißen müssen, aber sonst nichts aufregendes." Während er seine Bar eröffnet hatte, war William Arzt geworden. Ihre Jobs passten perfekt zu ihnen und ich könnte mir keine passenderen Berufe für die beiden vorstellen.
 
„Keine neue Freundin?", fragte Will mit einem Grinsen. Chase hatte die Angewohnheit seine Freundinnen wie seine Unterwäsche zu wechseln. Er war nun mal ein Genussmensch.
 
„Ich lebe wenigsten nicht in Abstinenz wie unsere liebe Schwester", erwiderte Chase.
 
Ich schluckte hart meine Lasagne herunter. Wie ich dieses Thema hasste. „Hey. Warum zieht ihr mich da rein?"
 
„Keine Ahnung. Vielleicht weil du seit Jahren keinen Freund mehr hattest?"
 
„Ich habe keine Zeit für so einen Schwachsinn."
 
Mein Vater schüttelte stumm den Kopf, Will setzte den gleichen besorgten Blick auf, den er immer bei diesem Thema hatte, und Chase schmunzelte amüsiert. Alle kannten hier meine Meinung zu Beziehungen. Das mit Vincent war ein dummes Versehen gewesen, aber ich hatte nicht vor, das hier zur Debatte zu stellen.
 
„Du arbeitest zu viel", äußerte mein Vater, „Du solltest dir mehr Zeit für die wichtigen Dinge des Lebens nehmen."
 
Ich hatte mir Zeit dafür genommen. Schließlich saß ich hier am Tisch. Aber ich wusste, dass sie das nicht meinten.
 
„Bitte verschont mich damit, ja? Lasst uns einfach essen." Ich schob mir noch einen Bissen in den Mund und erklärte diese Diskussion für beendet.
 
Zum Glück wechselte Will das Thema, indem er das letzte Basketballspiel ansprach. Ich hielt mich zurück. Die drei liebten Basketball; mein Dad sogar so sehr, dass er seine einzige Tochter nach dem größten Spieler aller Zeiten benannt hatte. Mich hingegen interessierte Sport herzlich wenig, sofern es nicht irgendwie mit meinen Geschäften zu tun hatte.
 
Stattdessen fiel mein Blick auf den leeren Stuhl. Einsam stand er zwischen Dad und Chase und riss ein klaffendes Loch in die Runde. Ich persönlich hasste ihn. Im Grund war es die symbolische Veranschaulichung, dass Mom nicht mehr hier war. An Dads Stelle hätte ich ihn schon längst weggeräumt, einfach um nicht ständig daran erinnert zu werden, dass jemand an diesem Tisch fehlte. Doch er hing irgendwie daran, selbst wenn er ihm selbst den größten Schmerz bereitete.
 
Noch gut konnte ich mich an den Tag erinnern, an dem er aus Versehen für fünf statt vier Personen gedeckt hatte und weinend zusammengebrochen war, als er seinen Fehler bemerkt hatte. Es war schwer zu begreifen, dass der Mensch, der einen aufgezogen hatte und dem man am meisten und am uneingeschränktesten vertraut hatte, nicht mehr da war. Und für meinen Vater war seine zweite Hälfte gestorben. Die Frau, mit der er sein restliches Leben hatte verbringen wollen und die ihn besser kannte als jeder andere. Ein Teil eines jeden von uns war mit ihr gegangen.
 
Seitdem die Polizisten vor vier Jahren vor der Haustür gestanden hatten, war nichts mehr wie vorher. Alleine die Erinnerung daran brannte ein Loch in meine Brust und dazu kam das quälende Wissen, dass ihr Mörder noch immer frei herumlief. Wie ein dunkler Schatten lauerte er in meinem Hinterkopf; jederzeit bereit, mich zu überfallen und erneut in das Loch zu ziehen, in das ich nach ihrem Tod gefallen war. Blind vor Wut, weil die ganze Welt uns im Stich gelassen hatte und bereit, sie restlos niederzubrennen.
 
Wenn ich eines durch den Tod meiner Mom gelernt hatte, dann, dass sich keiner um einen scherte. Man war anderen vollkommen egal. Die einzigen, um die sie sich kümmerten, waren sie selbst. Für die Stadt und den Staat galt das gleiche. Nach nur wenigen Wochen hatte die Polizei den Fall meiner Mutter als Cold Case abgetan und seitdem verstaubte er auf irgendeiner Festplatte. Der anderer Mord, der am selben Abend geschehen war, war wohl interessanter gewesen.
 
Mein Imperium aufzubauen war meine Art gewesen, damit umzugehen. Anstatt es der Polizei zu überlassen, ihren Mörder zu finden, hatte ich das selbst in die Hand genommen und mich genau unter die Leute gemischt, die ich verdächtigt hatte. Natürlich war es ein Widerspruch in sich, ausgerechnet das Leid auszulösen, über das man versucht hinweg zu kommen, aber die Leute, die ich tötete, waren nicht wie meine Mom. Sie waren alles andere als unschuldig und selbstlos. Außerdem war es eine schreckliche Notwendigkeit. Töten oder getötet werden.
 
Bis heute hatte ich nicht die Antworten, nach denen ich gesucht hatte, aber ich hatte es geschafft, meine Wut in den Griff zu bekommen. Und irgendwie war ich zu einem Teil dieser Welt geworden. Verdammt, ich hatte sogar gelernt, sie zu lieben. Die Freiheit, die die Gesetzlosigkeit bedeutete, die Herausforderung, die Selbstständigkeit. Keiner sagte mir, was ich zu tun hatte. Nicht mal das Gesetz. Die einzige, der ich Rechenschaft schuldete, war ich selbst. Die meisten Menschen würden das vermutlich nicht verstehen, aber sie hatten keine Ahnung, wie es war vollkommen frei zu sein. 
 
„Jordan?", riss mich Will aus meinen Gedanken und ich schreckte hoch.
 
„Was?"
 
„Dad wollte wissen, ob du die restliche Lasagne mitnehmen willst?"
 
Ich blinzelte und brauchte noch einen Moment, bis ich seine Worte verstand, dann nickte ich. „Ja, gerne." So musste ich mich morgen zumindest nicht um mein Mittagessen kümmern. Wer noch nie angebratene Lasagne gegessen hatte, hatte nicht gelebt.
 
Mein Teller war inzwischen fast leer und schob die letzten Bissen vom einem Rand zum anderen. Alle anderen waren längst fertig und hatten bereits das nächste Thema angeschnitten. Eines, auf das ich gerne verzichtet hätte.
 
„Heute morgen war schon wieder ein Bericht über diesen Jordan im Radio", versetzte mein Vater, „Erst vor zwei Wochen war ein Artikel über ihn auf der Titelseite der Zeitung."
 
„Erstaunlich, dass die immer noch nicht wissen, wer er ist." Will begann die Teller zu stapeln und nahm mir die Gabel aus der Hand, mit der ich lustlos in meinem Rest herumgestochert hatte.
 
„Der hat's halt drauf", meinte Chase, „Kontrolliert die halbe Stadt, aber gesehen hat ihn noch keiner."
 
„Jup. Ein gefundenes Fressen für die Medien", warf ich ein, um wenigstens etwas zu der Konversation beizutragen, um nicht so offensichtlich zu machen, dass ich mich grundsätzlich bei diesem Thema zurückhielt.

Was sollte ich dazu auch sonst sagen? Ich war es zwar gewöhnt, über mich selbst in der dritten Person zu sprechen, aber lieber schwieg ich als das Risiko einzugehen, dass mir irgendetwas rausrutschte, das ich besser für mich behalten hätte.
 
„Wem sagst du das", seufzte mein Vater, dem meine Schweigsamkeit zum Glück nie aufzufallen schien, „Wir hätten dich anders nennen sollen..."
 
Ich lachte. „Hättet ihr wohl." Geändert hätte das trotzdem nichts.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt