Roter Samt | 4

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Als ich Zuhause ankam, war ich erschöpft. Auf der Fahrt hatte ich mich einigermaßen entspannt und das erste Mal, seit mich Vincent angeschrieben hatte, wieder zum Nachdenken gekommen. Es war alles so schnell gegangen und mir wurde erst langsam bewusst, was er damit riskiert hatte mich mitzunehmen. Was er noch immer riskierte, wenn er meine Anwesenheit und Beteiligung an der Schießerei verschwieg und seine Vorgesetzten anlog, um mich zu schützen.

Ich war ein Magnet für Verbrechen. Das war ich schon immer gewesen und heute hatte sich das wieder ein mal bestätigt. Es hätte nicht schlimmer ausgehen können. Moment... doch, das hätte es. Ich oder – noch viel schlimmer – Vincent hätte tot sein können. Aber das waren wir nicht und so kam die Frage auf, warum unsere Angreifer ausgerechnet zu dem Zeitpunkt dort gewesen waren als wir ebenfalls anwesend waren und vor allem warum sie überhaupt gekommen waren. Wegen Hendrick Hastings? Wegen seinem Vater? Bezweifelte ich. Wenn sie ihre Ziele gewesen wären, wären sie ihnen durch die Hintertür gefolgt, doch das waren sie nicht. Diese Männer waren nicht wegen ihnen dort gewesen, sondern wegen uns. Nur wegen wem von uns beiden? Vincent hatte mindestens genauso viele Feinde wie ich, wir könnten beide das Ziel gewesen sein. Das Problem war, dass ich es vermutlich niemals erfahren würde.

Ich wollte, ich hätte den Mann erwischt, als ich die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Ich war mir noch immer nicht sicher, aber ich glaubte inzwischen, dass ich ihn nicht getroffen hatte. Und wenn war es höchstens ein Streifschuss gewesen. Wenn ich ihn erschossen hätte, hätten wir mit dem Toten jetzt zumindest einen Anhaltspunkt. Eine Spur, der wir nachgehen könnten. So hatten wir nichts. Keine Chance die Männer zu finden oder den Grund für ihren Angriff zu erfahren. Doch das Schlimmste war, dass sie noch da draußen waren und ich hielt sie nicht für Männer, die schnell aufgaben.

Als ich die Tür hinter mir schloss, atmete ich erst mal tief durch. Hier fühlte ich mich sicher, trotzdem ging ich sofort an meinen Safe und holte meine Beretta heraus. Sie war einfach eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme. Ich steckte sie in meinen Hosenbund und ging in meine Küche, wo ich den Kühlschrank öffnete. Kalte Luft strömte mir entgegen und ich schloss kurz die Augen. Sie kühlte meinen überhitzten Kopf.

Es war eine Nachwirkung von den Augenblicken, in denen man dem Tod ins Auge geblickt hatte. Man nahm alles anders wahr. Der Straßenlärm war lauter, die Farben knalliger, die Luft reiner, Süßigkeiten süßer. Berührungen, Gerüche, Geräusche, einfach alles war intensiver. Man fühlte sich lebendig. Lebendiger als zuvor. Und man genoss es.

Ich hatte zwar keine Erfahrung damit, aber so stellte ich es mir vor auf Droge zu sein. Um mich so zu fühlen brauchte ich keine Pillen oder Spritzen. Ich konnte gut verstehen, dass man danach süchtig war, aber der Preis, den man zahlen musste, war hoch. Sogar für meinen Geschmack. Es gab begehrenswertere Dinge als das, aber ich leugnete nicht, dass ich dieses Gefühl genoss.

Ich nahm eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und schraubte sie auf. Sie zischte und Kondenswasser perlte auf meine Hand. Das eiskalte Wasser rann meine Kehle herunter, nachdem ich die Flasche an meine trockenen Lippen geführt hatte. Erst jetzt fiel die noch übrig gebliebene Anspannung von mir ab und der Stress forderte seinen Tribut. Meine Augenlider wurden schwer und ich stellte die Flasche zurück in den Kühlschrank.

Dann schleppte ich mich auf meine Couch und ließ mich auf die Polster fallen. Ich umarmte eines der Kissen und schloss die Augen. Mit meiner Waffe in der Hand schlief ich ein.

———}§{———

Das Problem an dem Adrenalin-Rausch war, dass er nicht so schnell wieder verschwand. Vermutlich schreckte ich deshalb wegen dem leisen Kratzen aus dem Schlaf und war sofort wieder hellwach, obwohl mein Körper mich anschrie, dass ich mich wieder hinlegen und weiterschlafen sollte. Aber mein Verstand lief schon wieder auf Hochtouren und die Angst, die mir noch in den Knochen saß, brachte mich dazu aufzuspringen.

Draußen war es inzwischen dunkel geworden und ein kurzer Blick auf meine Uhr verriet mir, dass wir kurz nach zwölf hatten. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb und mein Atem ging schnell. Panisch suchte ich nach dem Grund, wegen dem ich aufgewacht war und entdeckte schließlich etwas weißes, das im Mondlicht leuchtete. Ich glaubte nicht an Geister, musste aber zugeben, dass mir der Gedanke kurz kam. Doch dann begriff ich, dass es lediglich Papier war. Papier, das sich bewegte... Genauer gesagt war es ein Umschlag, der langsam unter meiner Tür durchgeschoben wurde, damit er so wenig Geräusche wie möglich machte.

Da der Eingangsbereich genau in meinem Blickwinkel war, sah ich anfangs einfach dabei zu wie immer mehr des weißen Briefumschlags unter der Ritze meiner Türschwelle auftauchte, dann reagierte ich endlich. Ich riss mich aus meiner Starre, spurtete zur Tür und ohne nachzudenken öffnete ich sie, noch während der Umschlag sich bewegte.

Der Junge, der vor meiner Tür kniete, bekam einen halben Herzinfarkt. Er zuckte zurück, ließ den Umschlag los und landete auf dem Hintern. Ich sah für einen Augenblick in seine vor Schreck geweiteten Augen, dann wollte er aufspringen und wegrennen, doch ich hinderte ihn daran, indem ich ihm kurzerhand meine Beretta vor die Nase hielt, die ich noch immer in der Hand gehalten hatte. Er erstarrte.

Ich war die erste, die ihre Stimme wiederfand. „Was soll das?", fragte ich und er schluckte. Er war höchstens neunzehn.

„Nichts", stammelte er. Sein Blick war durchgehend auf den Lauf meiner Waffe gerichtet und es schien das erste Mal zu sein, dass er eine aus der Nähe sah. „Ich wollte nur–"

„Was?", schnitt ich ihm das Wort ab, da ich wusste, dass er lügen würde, „Mitten in der Nacht einen Umschlag unter meiner Tür durchschieben?"

Ein weiteres Mal schluckte er und senkte den Blick. „Ein Mann hat mir hundert Dollar gegeben, dass ich mich hereinschleiche und einen Umschlag unter der Tür des Penthouses durch schiebe. Ich habe keine Ahnung warum oder was drin ist! Ehrlich! Ich wollte Sie nicht stören..."

...aber es war leicht verdientes Geld, beendete ich seinen Satz in meinen Gedanken.

Der Teenager wand sich unter meinem Blick und verfluchte sich selbst dafür nicht abgelehnt zu heben. Er wusste, dass es dumm gewesen war, doch Geld lockte nun mal.

„Wer hat dir den Auftrag gegeben?", fragte ich, „Kanntest du den Mann?"

Er schüttelte den Kopf. „Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Es war dunkel und er trug eine Kapuze. Er hat mich gerade auf der Straße angesprochen."

Es war die gleiche Geschichte, die ich heute Mittag gehört hatte. Von Hendrick Hastings. Ich glaubte dem Jungen vor meiner Tür genauso wie ich Hastings geglaubt hatte.

Langsam ließ ich meine Waffe sinken. Kurz verspürte ich das Verlangen nach draußen zu rennen und nach dem Mann zu suchen, besann mich dann aber eines besseren. Es wäre unnötig. Der Mann war längst über alle Berge.

Ich sah wieder zu dem verängstigten Teenager zu meinen Füßen. Dann steckte ich meine Beretta endgültig weg. „Verschwinde hier", meinte ich. Es war nicht mal ein Befehl, eher ein gut gemeinter Rat.

Überrascht runzelte er die Stirn. „Sie rufen nicht die Polizei?", hakte er vorsichtig nach.

„Nein. Ich frage nicht mal nach deinem Namen. Tu mir nur einen Gefallen und lass dich nicht mehr auf so dumme Sachen ein. Du hast keine Ahnung in was du rein geraten könntest."

Er nickte schnell und ging zögerlich einige Schritte rückwärts, um zu testen ob ich es ernst meinte. Als ich mich weder bewegte noch etwas sagte, drehte er sich um und machte, dass er hier weg kam, bevor ich mir es anders überlegte. Das tat ich nicht. Ich war schließlich auch mal jung und dumm gewesen und war es mit meinen zarten 27 Jahren noch. Es war noch gar nicht so lange her, dass ich selbst in seinem Alter gewesen war.

Ich hob den Umschlag auf und schloss die Tür hinter mir. Ich hatte Vincent nie gefragt, was in seinem gewesen war, weshalb ich jetzt noch neugieriger war. Der Briefumschlag war vollkommen blank. Ich ging zu meinem Tisch, schaltete das Licht an und betrachtete ihn. Für etwas gefährliches war er zu dünn. Ich öffnete ihn. Und war ein wenig enttäuscht. In dem Umschlag war nichts, bis auf eine Spielkarte. Aber es war keine gewöhnliche Spielkarte, sondern eine Tarot-Karte. Ich hatte schon vom Kartenlegen gehört, hielt aber nicht viel davon. Auf dieser war ein Mann mit rotem Mantel und weißem Leinengewand abgebildet. Er hielt eine Art Stab in der Hand und stand vor einem Tisch, auf dem ein Schwert, ein Kelch, ein hölzerner Stab und eine Münze lagen. Um das Bild herum rankten sich Blumen und über dem Kopf des Mannes war das Unendlichkeitszeichen abgebildet. Darüber wiederum war eine eins und unter der Abbildung stand »Der Magier«.

Ich runzelte die Stirn. Ich hatte keine Ahnung was das bedeuten sollte und warum mir jemand eine Tarot-Karte zukommen lassen sollte. Oder Vincent. War überhaupt eine Karte in seinem gewesen? Wenn ja, die Gleiche? Oder hatte er eine andere bekommen? Er war sich sicher gewesen, dass sein Umschlag etwas mit Evans Mord zu tun gehabt hatte. Ich vertraute seinem Urteilsvermögen und war deshalb automatisch davon ausgegangen, dass für meinen Umschlag das Gleiche galt. Doch der Inhalt war nutzlos. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was das mit seinem Tod zu tun haben könnte.

Frustriert ließ ich die Karte auf dem Tisch liegen und schaltete das Licht aus. Die Müdigkeit kehrte wieder zurück und ich hatte keine Lust weiter zu grübeln. Trotz der Enttäuschung wusste ich, dass da noch mehr war und ich würde so lange graben, bis ich herausfand was es war. Aber nicht jetzt. Nicht heute.

———}§{———

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, rieb ich mir verschlafen die Augen. Wir hatten kurz vor elf und ich blieb träge liegen. Wie ich es meistens tat, wenn am Tag vorher auf mich geschossen worden war. Ich schloss noch einmal die Augen und umarmte eines meiner Kissen.

So döste ich noch eine Weile vor mich hin, bis mein Handy zu klingeln begann, das neben mir auf meinem Nachttisch lag. Ich griff danach und als ich Vincents Namen auf dem Display sah, nahm ich ab.

„Guten Morgen", sagte seine Stimme, „Gut geschlafen?"

Ich lächelte und ließ mich wieder in die Kissen sinken. „Kann mich nicht beklagen. Und du?"

„Ich wünschte, ich könnte das Gleiche von mir behaupten, aber ich habe kaum ein Auge zugetan", seufzte er.

„Wieso?"

„Weil ich mir Sorgen mache. Immerhin laufen diese Leute da draußen noch frei herum."

Eine Pause entstand, in der ich überlegte, ob ich ihm von dem nächtlichen Erlebnis erzählen sollte. Letztendlich entschied ich mich jedoch dagegen, da ich nicht wollte, dass er sich noch mehr Sorgen machte oder auf die Idee kommen könnte, dass diese Männer nicht wegen ihm da gewesen waren.

„Wie geht es dir?", fragte er schließlich.

„Gut."

„Jordan, es muss dir nicht peinlich sein, wenn dich die Sache mitgenommen hat. Ich war auch völlig durch den Wind, als das erste Mal auf mich geschossen wurde, beziehungsweise ich auf jemanden schießen musste."

„Ich habe den Typen also erwischt?", hakte ich nach.

„Erwischt, ja. Getötet, nein. Wir haben sein Blut gefunden. Es war vermutlich nur ein Streifschuss."

„Ich bin in Ordnung, Vince. Wirklich. Es war zwar keine schöne Sache, aber ich komme zurecht."

Am anderen Ende ertönte ein unsicheres Schnauben. „Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass..."

„Was? Dass ich dir nicht die Ohren voll heule?", schlug ich leicht amüsiert vor.

Er lachte auf. „Ja, so in der Art."

„Was machst du gerade?"

„Arbeiten. Kann ja nicht jeder wie du bis elf Uhr im Bett liegen."

„Woher willst du wissen, dass ich noch im Bett liege?"

Ich konnte sein Grinsen förmlich vor mir sehen. „Weil du dich völlig verschlafen anhörst. FBI-Agent, schon vergessen?"

Ich verdrehte die Augen. „Jetzt fängt das wieder an. Okay, du Allwissender, gibt's was neues? Hat dich dein Vorgesetzter dabei erwischt wie du ihn anlügst? Sitzt du etwa schon im Knast?"

„Würdest du mich dann besuchen?", fragte er herausfordernd.

„Würde ich. Und du?" Ich biss mir auf die Lippe. Ich konnte nicht anders als zu fragen.

„Auf jeden Fall", meinte er und lachte.

Ich glaubte ihm, obwohl er keine Ahnung hatte wie ernst die Frage gemeint war.

„Nein, er hat mich nicht erwischt. Ich bin ein besserer Lügner als du glaubst. Offiziell war ich alleine da und du nicht mal in der Nähe. Du bekommst also keine Probleme."

„Danke."

„Keine Ursache. Erspart vor allem mir eine Menge Erklärungen und Papierkram."

„Wie selbstlos", kommentierte ich.

„Da siehst du mal wie ich mich um meine Freunde kümmere", entgegnete er ironisch.

Ich lächelte.

„Und jetzt?"

„Gute Frage."

Die Frage und seine Antwort hörten sich irgendwie zweideutig an. Vielleicht war sie das auch, aber ich mochte es nicht, in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickelte.

„Ich meinte euren Fall...", verhinderte ich das Gespräch, indem ich es stoppte, bevor es überhaupt anfangen konnte.

Er zögerte. „Um ehrlich zu sein glaube ich, dass es besser für dich wäre, wenn du dich davon fern hältst."

Ich seufzte. Ich hatte es geahnt. Kaum wurde es gefährlich, versuchte er mich so weit wie möglich davon fern zu halten. „Ich dachte, ich hätte dir bewiesen, dass ich auf mich aufpassen kann."

„Das war Glück, Jordan! Das nächste Mal wirst du vielleicht nicht mehr so viel Glück haben und ich werde nicht zulassen, dass du wegen einer lächerlichen Racheaktion dein Leben verlierst."

„Du weißt, ich werde nicht aufgeben. Wenn nicht mit dir, dann eben ohne dich."

Gerade als ich auf legen wollte, hinderte er mich daran. „Eine Woche."

„Was?"

„Gibt mir eine Woche. Eine Woche, in der du versuchst nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Eine Woche, bis sich der Sturm gelegt hat. Dann sehen wir weiter."

Ich überlegte. Ich wollte ihn nicht weiter missbrauchen, aber tat ich das überhaupt wenn er mir seine Hilfe anbot? Fest stand, dass es ohne die Infos des FBIs wesentlich schwieriger werden würde. „Okay. Eine Woche."

„Und du versprichst mir in dieser Zeit nicht auf eigene Faust zu suchen und dich dadurch in Gefahr zu begeben."

„Ja, ich verspreche es", meinte ich etwas widerwillig.

„Dann bis in einer Woche."

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt