Der Herrscher | 1

405 37 12
                                    

Der Wind zerrte an meinen Haaren und die Sonne, die ab und zu hinter den Wolken hervor blitzte, schien völlig fehl am Platz. Doch sie kämpfte und tauchte den Friedhof immer länger in gleißendes Sonnenlicht.
 
Tränen rannen heiß über meine Wangen und der Wind ließ mich ihre Spuren noch deutlicher spüren. Ich stand neben Cat und sah auf Evans frischen Grabstein. Die Beerdigung war erst zehn Minuten her und in der Luft lag noch der Geruch der frischen Erde. Außer uns beiden und Cole waren wir die einzigen. Obwohl ich ihn nicht mochte und mir sicher war, dass er wegen Cat und nicht wegen Evan hier war, rechnete ihm das hoch an.
 
Ich hatte gewusst, dass Shaw niemanden hatte, aber zu sehen, dass es tatsächlich nur Cat und ich waren, die ihm augenscheinlich nahe gestanden hatten, war doch traurig. Trotzdem hatten wir unser bestes gegeben ihm seine letzte Ehre zu erweisen. Die Beerdigung, die wir organisiert hatte, war schlicht, einfach und vor allem ohne große Worte gewesen. Genau wie Evan. Auch auf seinem Grabstein waren lediglich sein Name und das Jahr seiner Geburt und das seines Todes eingraviert. Er hätte es nicht anders gewollt.
 
Es war eine nervenzehrende Woche gewesen, die sich jetzt auch bei mir bemerkbar machte. Cat hatte bereits all ihre Tränen vergossen und so stand sie jetzt ebenfalls schweigend neben mir. Ich hatte sie erst über Evans Tod informiert als sie von ihrer Reise zurückgekommen war. Ich hatte ihr nicht ihren Urlaub verderben wollen, auch wenn sie es mir jetzt vorwarf sie nicht gleich angerufen zu haben.
 
Noch immer rannen meine Tränen still unter meiner Sonnenbrille hervor. Ich schluchzte nicht, sodass Cat es erst bemerkte als sie mich das erste Mal seit einer Viertel Stunde ansah. Ich beobachtete aus dem Augenwinkel wie sie erschrak. Es war ungewöhnlich für mich und sie wusste, dass viel dahinterstecken musste, wenn ich einmal weinte. Vor allem bei den vielen grausamen Dingen, die mir jeden Tag begegneten. Ich hatte ihr verschwiegen wie genau Evan gestorben war und sie hatte auch nicht gefragt. Es war als würde sie wissen, dass es sie schwer treffen würde und sie vertraute auf meine Entscheidung, sie über die genauen Umstände im Dunkeln zu lassen. Sie wusste nur, dass er ermordet worden war und alleine diese Tatsache war schon schlimm genug.
 
„Cole? Würdest du vielleicht im Auto warten?", fragte sie und die Sanftheit in ihrer Stimme ließ einen winzigen Funken Wärme in meinem Inneren aufglühen, doch er erlosch sofort wieder, da ich immer noch auf den kahlen Grabstein starrte.
 
Ich war froh, dass Cole ging. Ich wollte nicht, dass mich irgendjemand so sah. Es war schon ein Wunder, dass ich es bei Cat zuließ. Als er weg war, drehte sie sich ohne Worte zu mir um und umarmte mich. Es heißt immer Umarmungen könnten Wunder wirken und es würde einem danach zumindest ein wenig besser gehen. Ich merkte davon nichts. Und so sehr ich mir auch wünschte, dass es anders wäre, sie ließ mich völlig kalt. Trotzdem zwang ich mich zu einem halbherzigen Lächeln, nachdem sie mich wieder losgelassen hatte und mich ansah.
 
Der Schmerz saß tief. Es war ein seltsamer Druck in meinem Brustkorb, der immer wieder brennend heiß aufflammte, wenn ich auch nur in der kleinsten Weise daran erinnert wurde. „Du findest den, der ihm das angetan hat", flüsterte Cat heiser und war schon wieder kurz davor in Tränen auszubrechen. Sie nahm meine Hand in ihre und drückte sie. Ich spürte wie sich ihre eiskalten Finger um meine Hand schlossen und hatte das Gefühl, dass sie noch kälter als sonst waren. Cat scherzte darüber immer mit dem Spruch „Kalte Hände, warmes Herz." Ich hatte immer warme Hände.
 
Der Wind wurde weniger und ich bemerkte die blassrosa Blütenblätter, die sich in meinen Haaren verfangen hatten. Sie waren von dem Kirschbaum herüber geweht worden, der mir nur allzu bekannt war. Er stand in voller Blüte und die Blütenblätter hoben sich durch meine pechschwarzen Haaren und ebenso schwarzen Kleidern noch mehr ab. Sie verstärkten das beklemmende Gefühl in meiner Brust und ich hatte auf einmal ein Bedürfnis, das ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr verspürt hatte.
 
„Würde es dir etwas ausmachen mich alleine zu lassen?"
 
Cat sah mich besorgt an. Genau wie Vincent ließ sie mich in solch einer Situation ungern alleine. Aber sie sah meinen festen Blick durch die Sonnenbrille hindurch und nickte. „Sollen wir auf dich warten?"
 
Ich schüttelte den Kopf. „Geht nach Hause. Ich weiß nicht wie lange ich brauche."
 
Ihr Blick folgte meinem zu dem Kirschbaum und sie verstand. Cat konnte mein Bedürfnis am besten nachvollziehen. Sie hatte nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihren Vater verloren. Sie drückte ein letztes Mal meine Hand und ging.
 
Ich wartete bis ich vollkommen alleine war und ging dann zu dem Kirschbaum unter dessen Ästen zwei Grabsteine standen. Es war Platz für ein weiteres Grab gelassen worden. Durch die Blüten schien die Sonne hindurch und warf bewegte Schatten auf den Boden. Ich blieb kurz vor dem Grabstein stehen und fühlte wie eine alte Wunde wieder aufriss. Wie jedes Mal, wenn ich meine Erinnerungen an sie wachrief.
 
Schließlich setzte ich mich im Schneidersitz vor das Grab. Der Stein war ebenfalls schlicht und auf seine eigene Art elegant und freundlich. Filigrane Rosenranken zogen sich um den Stein und hoben den Namen der Verstorbenen nur noch mehr hervor: Vivian van Hayden. Ich dachte nicht gerne an den Tod meiner Mutter. Es war meine Art mit dem Tod umzugehen. Ich wollte vergessen und ging deshalb allem aus dem Weg, das mich daran erinnern könnte. Meine Familie fand das zwar nicht gut, aber es war meine Art zu trauern.
 
Ich nahm meine Sonnenbrille ab und starrte den Grabstein meiner Mutter an. Es war der Nachname meines Großvaters, ihr Mädchenname. Mein Vater und sie hatten nie geheiratet, aber das war auch nicht nötig gewesen. Sie waren immer der Meinung gewesen, dass es keine Heirat brauchte um ewig zusammenzubleiben. Für sie war jeder Tag, an dem sie frei waren und doch beieinander bleiben, der Beweis für ihre Liebe. Mein Großvater lag auf der anderen Seite des Baumes und neben dem Grab meiner Mutter war noch Platz für das meines Vaters.
 
Eine Zeit lang saß ich einfach da. Inzwischen war der Wind völlig still geworden und auch die Wolken waren verschwunden und hatten der Sonne bereitwillig Platz gemacht. Die gleiche Frage, die immer in mir aufkam wenn ich an meine Mutter dachte, schlich sich wieder in meine Gedanken.
 
Warum war sie getötet worden?
 
Meine Mutter war eine gute, freundliche Frau gewesen. Sie war noch nie mit dem Gesetzt in Konflikt geraten, hatte nie einen Strafzettel bekommen. Sie war das komplette Gegenteil von mir und meinem Großvater gewesen. Gesetzestreu, offen und freundlich.
 
Ich spürte wie sich meine Beretta Px4 Storm, die von meinem Oberteil verdeckt in meinem Hosenbund steckte, in meinen Rücken drückte und bekam ein schlechtes Gewissen. Ich wusste, dass sie das nicht gewollt hätte. Vor allem nicht, dass ich es wegen ihr tat. Aber ich konnte nicht anders. Ich wollte nicht, dass sich jedes Mal diese Frage in meine Gedanken drängte, wenn ich an sie dachte. Ich wollte meine schönen Erinnerungen mit ihr vor Augen haben und nicht das schreckliche Bild ihrer Leiche auf den Tatortfotos, die sich in mein Gedächtnis gebrannt hatten. Doch das ging nur, wenn ich das Wer und das Warum kannte.
 
Nachdem wir damals den ersten Schock über den Tod meiner Mutter verdaut hatten, waren die Fragen aufgekommen. Wir hatten Antworten gewollt, aber die hatte die Polizei uns nicht geben können. Sie hatten sich einen feuchten Dreck um den Fall meiner Mutter gekümmert und das schlimmste war gewesen, dass sie sich stattdessen um Donald Pittson gekümmert hatten, dessen Blut am selben Abend in der Gasse hinter einer Bar gefunden war, an dem auch meine Mom verschwunden war. Obwohl man ihm nie hatte etwas nachweisen können, hatte jeder gewusst, dass er ein Menschenhändler der aller übelsten Sorte gewesen war. Nachgetrauert hatte ihm sicher niemand, trotzdem hatte die Polizei sich damals mehr für die Suche seiner Leiche interessiert und nach kurzer Zeit den Fall „Vivian van Hayden" als Cold Case abgelegt. Das Desinteresse, mit dem sie eine unschuldige, herzensgute Frau und Mutter abgetan hatten, war etwas, was ich ihnen nie verzeihen konnte.
 
Ich hingegen hatte nie aufgehört nach dem Mörder zu suchen und nutzte dafür auch meine Kontakte und meinen Einfluss, den ich mir mit der Zeit erarbeitet hatte. Ich hatte mir die Akten beschafft. Kopien davon lagen in meinem Safe und in der Hoffnung irgendetwas zu entdecken, das übersehen worden war und mich zumindest einen Schritt weiter brachte, ging ich sie immer wieder durch.
 
Leider hatte es das nicht. Noch immer trat ich auf der Stelle und wusste genauso viel wie vorher. Das Schlimmste jedoch war, dass ich nicht viel weiter als die Polizei damals kam, denen der Fall völlig egal war, obwohl ich alles dafür tat die Wahrheit herauszufinden. Aber im Gegensatz zu ihnen würde ich nicht aufgeben.
 
Das gleiche galt für Evan. Sein Tod hatte mich hart getroffen, obwohl ich mir bewusst war, dass jeder, der in dieser Welt lebte, jeden Tag sterben konnte. Vor allem die Schuldgefühle quälten mich. Evan hatte mir immer den Rücken freigehalten, mich beschützt und das eine Mal, als er mich gebraucht hätte, als ich hätte da sein müssen, war ich es nicht gewesen. Cat hatte mir zwar oft genug gesagt, dass ich rein gar nichts hätte tun können, trotzdem machte ich mir weiter Vorwürfe.
 
Gedankenverloren zupfte ich mir einige Blütenblätter aus den Haaren, als ich es plötzlich nicht mehr aushielt. Ich wollte nicht weiter an die Lasten, die auf meinen Schultern ruhten, erinnert werden, auch wenn ich wusste, dass ich mir die meisten davon selbst auferlegt hatte. Ich stemmte mich auf die Füße, strich ein letztes Mal über den kühlen Grabstein und wollte zurück zu meinem Wagen gehen, blieb aber bei dem Grab neben dem meiner Mutter stehen. Der Name meines Großvaters war in einfachen, aber eleganten Buchstaben geschrieben. Ich lächelte traurig. Selbst Legenden landeten früher oder später hier, so wie er es getan hatte.
 
Er hatte nie Angst vor dem Tod gehabt und stets beteuert, dass er alles in seinem Leben erreicht hatte, was er wollte. Das einzige, was er bereut hatte, war seine Tochter überlebt zu haben. Er war ein großer Mann gewesen, dem sein Charisma, mit dem er aufgetreten war, etwas edles und anmutiges verliehen hatte. Ich hatte ihn bewundert und er war der einzige gewesen, der mich verstanden hatte. Und ich hatte ihn verstanden. Das war etwas gewesen, was meine Mutter nie gekonnt hatte.
 
Es war seltsam gewesen wie sehr sich Vater und Tochter in ihren Ansichten unterscheiden konnten und ich wusste, dass es für keinen der beiden einfach gewesen war. Genauso wenig wie es für mich einfach war. Doch trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten hatten sie einander geliebt und lagen jetzt friedlich unter dem selben Kirschbaum.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt