Psychopathen und Soziopathen | 2

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Ich war zu früh im Smith's. Nach dem Gespräch mit Cat hatte ich behauptet, los zu müssen, war gegangen und saß jetzt – eine halbe Stunde zu früh – in der Bar. Es war traurig, dass ausgerechnet eine Bar zu meinem Rückzugsort geworden war, aber ich fühlte mich hier wohl.
 
Als Vincent ankam, hatte ich bereits bestellt und starrte gedankenverloren vor mich hin. Er ließ sich auf den Hocker neben mir fallen. „Was ist dir denn über die Leber gelaufen?", waren seine ersten Worte.
 
Ich sah ihn an. „Wie kommst du denn da drauf?"
 
„Hey. Ich bin immerhin FBI-Agent."
 
Ich zog eine Augenbraue nach oben.
 
Er lächelte leicht. „Der Caipirinha hat dich verraten." Er deutete auf mein nur noch halb volles Glas. „Dein zweites?"
 
„Drittes", korrigierte ich ihn und nahm noch einen Schluck.
 
Er schüttelte den Kopf. „Also? Was ist los?"
 
Ich atmete lange aus und überlegte, ob ich ihm das erzählen sollte. Aber wenn ich mit ihm sprach, fühlte es sich an, als wäre es das normalste der Welt, weshalb es schließlich aus mir herausbrach: „Eine gute Freundin von mir hat mir vorhin vorgeworfen, dass ich zu verschlossen und zu kaltherzig sei."
 
„Ich habe dich nicht für jemanden gehalten, den es interessiert, was andere von ihm denken."
 
„Das tue ich meistens auch nicht." Ich senkte meinen Blick auf mein Glas und spielte an dem Röhrchen herum, um seinem auszuweichen. „Aber vielleicht ist genau das das Problem", gab ich etwas leiser zu bedenken und empfand meine eigene Unsicherheit als jämmerlich.
 
„Sie verlangt von dir dich zu ändern", entgegnete Nash ruhig, „Willst du das?"
 
Ich schwieg. Ich hatte mich immer für eine Frau gehalten, die wusste, was sie wollte, aber in letzter Zeit begann ich daran zu zweifeln.
 
„Dann lass es", meinte Vincent, der mein Schweigen als ein Nein aufgefasst hatte, „Du entscheidest, wer du bist. Selbst wenn das heißt, dass du kaltherzig und verschlossen bist."
 
„Ach, das ist dir auch schon aufgefallen?", entgegnete ich mit einem herausfordernden Unterton in der Stimme.
 
„Dass du verschlossen bist? Ist das denn ein Geheimnis?"
 
„Ich finde, dass ich in den letzten Wochen ziemlich viel von mir erzählt habe."
 
Er lächelte wissend. „Wir wissen beide, dass das nur oberflächliches war."
 
„Und was macht dich da so sicher?"
 
„Was? Glaubst du, ich merke nicht, dass du in deinen Erzählungen immer aufhörst, wenn du 20 bist?"
 
„Ja, ja. Schon klar. FBI-Agent."
 
Ein schiefes Lächeln bildete sich auf seinem Gesicht und ich wartete darauf, dass er fragte, was passiert war als ich so alt war. Doch das tat er nicht, was ich ihm hoch anrechnete. „Wenn ich ehrlich bin, weiß ich immer noch nicht wie es in dir drinnen aussieht", gab er zu.
 
Ich grinste. „Viel Glück dabei, es herauszufinden." Immerhin wusste ich das zur Zeit selbst nicht so genau. Aber ich musste zugeben, dass seine Worte mich berührten. Es gab nur wenige Menschen, die sich tatsächlich die Mühe machten, herauszufinden, was tatsächlich in mir vorging.
 
Vincent wurde wieder ernst. „Was ist überhaupt falsch daran, verschlossen zu sein?"
 
Überrascht sah ich ihn an. Auf diesen Gedankenansatz war ich noch gar nicht gekommen. Vielleicht, weil es mir immer vorkam als wäre es arrogant, überhaupt über diese Frage nachzudenken. Sie hörte sich an, als würde ich mich für etwas besseres halten, was ich nicht tat. Vincent brach dieses Tabu kurzerhand. „Ich meine, wer bestimmt das?", fuhr er ungerührt fort, „Wer sagt, dass das nicht gut für einen ist? Ich finde, dass das jeder für sich selbst entscheiden muss."
 
Er hatte recht. Wer entschied das? Die Antwort war niemand. Ich hatte schon früh gelernt, dass es in der Welt kein Gut und Schlecht gab. Eine Medaille hatte immer zwei Seite. Das Gleiche galt hier. Es war nichts falsch daran verschlossen zu sein. Außer, dass die anderen damit vielleicht nicht klar kamen, aber das war nicht mein Problem.
 
„Zweifle nicht an dir selbst, Ever, nur weil andere es tun. Gehe deinen Weg, wenn du der Meinung bist, dass es der richtige ist."
 
Ich lächelte. „Danke, Vince."
 
„Kein Problem."
 
„Das war übrigens erstaunlich tiefsinnig", sagte ich schließlich.
 
Er fasste sich gespielt dramatisch an die Stirn. „Ja, nicht? Ich glaube, unsere Treffen tun mir nicht gut. Langsam werde ich zum echten Softie."
 
„Und das wollen wir natürlich nicht. Ist bei einem Verhör sicher unvorteilhaft. Apropos." Ich wechselte das Thema. Es war für mich schon ungewöhnlich mich überhaupt mit jemanden über solche Themen zu unterhalten und ich musste es ja nicht gleich übertreiben. „Wie war dein Tag?"
 
Er winkte ab. „Wie immer. Nichts besonderes."
 
„Hört sich ja spannend an. Bist du gerade an einem bestimmten Fall?", fragte ich vorsichtig, „Oder darfst du mir das nicht erzählen?" Ich hatte bei der Frage keine Hintergedanken, es interessierte mich einfach. Ich konnte mir trotz meines „Jobs" nur schwer vorstellen wie der Alltag eines FBI-Agenten aussah. Ich war mir nur sicher, dass er anstrengend sein musste.
 
„Nicht wirklich. Ich darf keine Einzelheiten nennen, aber wir sind gerade an Jordan dran. Doch selbst das sollte unter uns bleiben."
 
Mein Herz setzte für einen Moment aus. Natürlich. Ich hatte nicht nur das Glück, mich mit einem Bundesagenten anzufreunden, sondern dem Bundesagenten, der hinter mir beziehungsweise meinem Alter Ego her war. Doch davon durfte ich mir nichts anmerken lassen.
 
Ich hob die Hände. „Glaub mir, ich kann schweigen wie ein Grab." Und ich hatte auch vor das zu tun. Es war schon gefährlich genug mich auf einen FBI-Agenten einzulassen. Um so schlimmer war es, dass er auch noch meinen Fall bearbeitete. Trotzdem änderte es seltsamerweise nichts an meiner Einstellung ihm gegenüber. Auf jeden Fall hatte ich nicht vor irgendjemandem von ihm zu erzählen. Vor allem Evan nicht. Auf der anderen Seite fand ich es irgendwie amüsant, dass derjenige, nach dem er suchte direkt neben ihm saß. Außerdem bewies es, dass er – und damit auch das FBI – nicht die leiseste Ahnung hatte, wer Jordan war. Gleichzeitig war es ein weiterer Grund, warum er niemals von meiner zweiten Identität erfahren durfte.
 
„Und? Wie läuft's?" Eigentlich hatte ich das nicht fragen wollen, aber ich konnte nicht anders. Zudem wäre es ein wenig verdächtig gewesen, wenn ich ein weiteres Mal hektisch das Thema gewechselt hätte. Zumindest redete ich mir das ein.
 
„Du hast bestimmt den einen oder anderen Zeitungsartikel über ihn gelesen, den sie manchmal bringen, oder?"
 
„Ja."
 
Er zuckte mit den Schultern. „Die Presse trifft es ziemlich gut. Er ist ein Schatten. Man weiß, dass er da ist, kann ihn aber nicht fassen."
 
Ich nickte und begann über etwas anderes zu reden, wofür er mir sehr dankbar war. Er wollte mich ungern abweisen, aber er durfte nun mal nicht mehr erzählen. Vermutlich war er schon mit dem, was er mir erzählt hatte, ein Risiko eingegangen.
 
Trotzdem hatte er es mir erzählt. Mir wurde erst langsam bewusste, was für ein Vertrauen er mir damit entgegenbrachte. Und das obwohl er, wie er selbst sagte, kaum etwas über mich wusste und wir uns erst seit einigen Wochen kannten. Es war ein ungewohntes Gefühl für mich, von jemandem, außer meiner Familie, Cat oder Evan, solches Vertrauen entgegengebracht zu bekommen. Aber es war ein gutes Gefühl und ich versprach mir, es nicht zu missbrauchen.
 
Trotz seiner Verschwiegenheit hatte ich das Gefühl, dass Vincent gerne mehr über seinen Tag und seinen Job erzählen würde. Beziehungsweise konnte ich mir gut vorstellen, dass er sich gerne nach Feierabend bei einem Unbeteiligten einfach mal so richtig auskotzen wollte. Doch er widerstand dem Drang und wir sprachen stattdessen über andere Dinge.
 
Bis mein Handy klingelte. Ich zog es aus meiner Tasche und sah die Nummer. Aus Sicherheitsgründen hatte ich keine der Nummern eingespeichert, aber dank meines fotografischen Gedächtnisses kannte ich die meisten auswendig. Außerdem hatte ich mehrere Handys. Das hier war eines der geschäftlichen.
 
Die Nachricht, die eingegangen war, war von Evan. Sie war verschlüsselt, wie alle Nachrichten, die wir uns schickten. Es war eine Adresse und im Anschluss die zwei Wörter »Wichtig« und »Sofort«.
 
Ich stöhnte auf. Warum ausgerechnet jetzt?
 
„Schlechte Nachrichten?", wollte Vincent wissen.
 
„Ich muss weg. Ist dringend. Tut mir leid."
 
„Muss es dir nicht. Wenn einer weiß, wie das ist, dann ich. Geh nur."
 
Dankbar lächelte ich ihn an, stand auf und nahm meinen Hut.
 
„Höchstens du gibst mir deine Nummer, damit ich dich anrufen könnte. So als kleine Entschädigung."
 
Für einen winzigen Moment zögerte ich, dann schrieb ich ihm die Ziffern auf einen Zettel. „Du kannst von Glück reden, dass ich so schnell weg muss. Sonst hätte ich dich für meine Nummer noch ein wenig zappeln lassen."
 
„Ich könnte von mir das Gleiche behaupten."
 
„Tja", grinste ich, „Dumm nur, dass ich deine Nummer schon habe."
 
Überrascht runzelte er die Stirn. „Wann habe ich denn...?"
 
Mein Grinsen wurde noch breiter, als ich mir meinen Hut aufzog und ihn grübelnd zurückließ.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt