Der Tod | 1

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Die Uhrzeit, die auf dem Brief gestanden hatte, war Mitternacht. Ein wenig klischeehaft, wenn man mich fragte, aber das tat ja niemand. Ich war nicht so dumm dort pünktlich aufzutauchen, weshalb ich um elf Uhr vor dem Zaun hielt, der das einsame Gebäude umschloss. Die Kette, die das schmiedeeiserne Tor eigentlich zusammenhalten sollte, war aufgebrochen worden und mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust fragte ich mich, ob der Tod bereits auf mich wartete. Zutrauen würde ich es ihm. Dass er nicht dumm war, hatte er mir deutlich vor Augen geführt.
 
Meinen Camaro ließ ich stehen, öffnete das Tor einen Spalt weit und schob mich hindurch, bevor ich den Weg entlangging, der zu dem Gebäude führte. Der Herbst hatte sich längst angekündigt und das Pflaster unter meinen Füßen mit Laubblättern bedeckt. Das einzig lebendige hier draußen war der Wind, der sie ab und zu aufwirbelte. Es war kalt und die feuchte Luft kroch unter meine Kapuze, die ich mir über den Pferdeschwanz gezogen hatte. Meine Beretta hielt ich in meiner rechten Hand und spürte die harte Klinge des Kampfmessers an meinem Knöchel, das ich zur Sicherheit in meinen halbhohen Schuh gesteckt hatte.
 
Ich war am Rande der Stadt auf dem Gelände eines verlassenen Hotels. Das Red-Carpet-Hotel war eine beliebte Absteige für allerlei Prominente und die Schönen und Reichen in den 1920'er Jahren gewesen. Hier hatte sich alles getummelte, was Rang, Namen und vor allem Geld gehabt hatte. Es war berühmt für seine rauschenden Partys und es kursierte sogar das Gerücht, dass sie dem Autor F. Scott Fitzgerald neben den Partys auf Long Island als Vorbild für seinen Roman „Der Große Gatsby" gedient hatten.
 
Doch das Red Carpet fand durch den großen Börsencrash 1929 ein jähes Ende, da auch der Besitzer und viele Stammgäste des Hotels dadurch ihr Vermögen verloren hatten. Es musste geschlossen werden und in den nächsten 25 Jahren, die die Welt brauchte um sich davon zu erholen, war es ein paar Mal verkauft worden.
 
Die neuen Besitzer hatten erfolglos versucht es wiederzueröffnen und an die alten Zeiten anzuknüpfen, doch es hatte seine besten Tage hinter sich gehabt und der alte Glanz war verflogen gewesen. Irgendwann war das Hotel dann an die Stadt übergegangen. Und da eine Restaurierung zu teuer gewesen wäre und das Grundstück niemand haben wollte, weil es zu weit abseits lag, war es auch nicht abgerissen worden. Seitdem stand es leer und war in Vergessenheit geraten. Bis es vor einigen Jahren von einem geheimnisvollen Käufer aufgekauft worden war.
 
Seitdem rankten sich einige Geschichten darum. Von einem geheimen Treffpunkt der CIA, über eine Drogenküche bis zu dem Gerücht, dass der Käufer selbst zurückgezogen darin lebte, war alles dabei. Und alle lagen falsch. Denn der geheimnisvolle Käufer war ich gewesen. Ich hatte alles so gelassen wie es war und lagerte schon seit geraumer Zeit sogenannte „heiße Ware" darin, bis sie abgekühlt war. Es funktionierte. Nichtmal das FBI hegte auch nur den geringsten Verdacht.
 
Ich sah auf zu dem früher mal prunkvollen Eingangsbereich. Es war aus hellem Sandstein gebaut worden und ich konnte mir trotz den mit Graffiti besprühten Wänden und vernagelten Fenstern gut vorstellen wie damals von drinnen das goldene Licht der Kronleuchter auf den Springbrunnen im Innenhof gefallen war. Jetzt war der Springbrunnen nur noch ein leeres Becken aus Beton, in dem Laub, Müll und ein kaputtes Fahrradrad lagen. Die Fassade war von vertrocknetem Efeu und grünen Algen überzogen, die sich im Regen des Jahrhunderts dort gebildet hatten.
 
Ich schlich die Treppe zu der Eingangstür hinauf. Es war eine Flügeltür aus inzwischen morschem Holz, bei der eine Seite fehlte. Sie war ausgerissen worden und lag nun innen in der Lobby. Mal abgesehen von der Kette am schmiedeeisernen Tor hatte ich das Gelände nie gesichert, da Schlösser und verschlossene Türen grundsätzlich das Bedürfnis auslösten erst recht dort hinein zu kommen. Ich kannte das Kribbeln in den Fingern, das sie auslösten, nur zu gut. Außerdem hatte ich die Ware gut versteckt. Der Rest erledigten die Schauergeschichten für mich. Sie hielten Obdachlose von hier fern und die Einzigen, die hier her kamen, waren abenteuerlustige Jugendliche, die hier herumlungerten, tranken, feierten oder was man in diesem Alter sonst noch so tat. Keiner von ihnen würde auf die Idee kommen, dass sich in dieser Bruchbude etwas Wertvolles befinden könnte. 
 
Heute schien auf den ersten Blick allerdings niemand hier zu sein. Der Eingangsbereich war leer, als ich ihn betrat, doch davon ließ ich mich nicht täuschen. Meine Waffe hielt ich inzwischen im Anschlag und tastete mich vorsichtig durch den Raum. Das fahle Licht des Vollmondes fiel durch die Fenster in der Decke und verhinderte, dass ich die Taschenlampe benutzen musste, die ich dabei hatte. Noch. Vorsichtig bewegte ich mich über den mit Staub und Geröll bedeckten Boden hinweg. Hier drinnen sah es aus, als wäre die Zeit stehengeblieben. Der Großteil der Einrichtung war hier geblieben, auch wenn man nun nichts mehr fand, das nicht kaputt war. Entweder war es der mörderischen Zeit erlegen oder mutwilliger Zerstörung. Trotzdem konnte man sich noch die Hochwertigkeit und die Eleganz vorstellen, die sie einmal ausgestrahlt hatten.
 
Ich ging geradewegs um den Schalter herum, wo damals die Gäste eingecheckt hatten. Das Regal, in dem die Zimmerschlüssel gehangen hatten, war abgerissen worden und lag auf dem Boden. Ich stieg darüber hinweg und suchte den Schalter mit den Augen ab. Ich wollte etwas überprüfen. Schließlich zog ich die einzige Schublade auf, die noch ganz war, und wurde sogar fündig. Vorsichtig klappte ich die verwitterte Ledermappe auf und fand einige Bögen Papier, die die Zeit sehr gut überdauert hatte. Es war das Briefpapier des Hotels mit dem Emblem als Wasserzeichen. Das gleiche Papier, mit dem der Tod mir die Nachricht geschickt hatte. Es steigerte seine Dreistigkeit noch einmal, mich in mein eigenes Hotel zu bestellen. 
 
Ein Geräusch ließ mich aufschrecken und mich meine Waffe nach oben reißen, nur um festzustellen, dass ein Windstoß in die Eingangshalle gefegt war und die vertrockneten Blätter ein Stück weit über den Boden gescheucht hatte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich hörte mein Blut sogar in meinen Ohren rauschen. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie viel Angst ich eigentlich hatte und fragte mich nicht zum ersten Mal, was ich hier überhaupt tat. Es war einfach nur unglaublich dumm und riskant, aber ich würde nicht umkehren.
 
Leise schloss ich die Schublade wieder und kam hinter dem Schalter hervor. Vorbei an ausgeweideten Sesseln und Sofas kam ich schließlich zu einer großen Treppe, die in den ersten Stock führte. Dort oben waren die einzelnen Zimmer. Es würde ewig dauern, sie alle zu durchsuchen, aber ich war mir sicher, dass das nicht nötig war. Die Person, die mich hier her beordert hatte, würde sich nicht lange vor mir verstecken und ich war überzeugt davon, dass sie mich finden würde.
 
Deshalb entschied ich mich, auf dieser Etage zu bleiben und bog nach rechts ab, wo es in den Speisesaal ging. Genau wie in dem restlichen Gebäude, blätterte auch hier die Tapete von den Wänden ab. Es roch modrig und war mindestens genauso kalt wie draußen. Der Raum stand mit Tischen und Stühlen voll, auf denen manchmal sogar noch Fetzen der Tischdecken hingen. Da alle Fenster mit Brettern vernagelt worden waren und es keine Deckenlichter gab, war es hier stockfinster, doch ich traute mich nicht, meine Taschenlampe anzuschalten. Ein wenig ärgerte ich mich selbst darüber. War es nicht der Plan, dass ich mich finden ließ? Wollte ich nicht Antworten von dem Tod? Musste er mich dazu nicht erst finden? Warum war ich dann so leise?
 
Vermutlich war es die Angst, die mich daran hinderte auf mich aufmerksam zu machen. Denn ich hatte Angst. Panische Angst, um genau zu sein. Schließlich war ich auch nur ein Mensch. Am liebsten würde ich einfach davonlaufen und mich in irgendeinem Loch verkriechen, doch das konnte ich nicht tun. Das war ich Evan, Cole und Cat schuldig.
 
Trotzdem hatte ich Angst und ich redete mir ein, dass das völlig in Ordnung war... oder? War es das? Schließlich hatte ich schon selbst getötet. Hatte ich das Recht, Angst vor dem Tod zu haben? Hatte ich das Recht, heute nicht draufgehen zu wollen? Ich wusste es nicht, aber ich konnte nichts gegen die ständigen Gedanken tun, die sich in meinen Kopf schoben und in denen ich auf die unterschiedlichsten Arten umgebracht wurde. Ich hatte nicht gedacht, dass ich so viel Fantasie hatte, aber plötzlich fielen mir erschreckend viele Möglichkeiten ein, jemanden umzubringen. Und eine Kugel, die sich in meinen Kopf bohrte, wäre da noch die humanste Methode. Ich wollte nicht so enden. Alleine in einem verlassenen Hotel ohne meinem Mörder zuvor in die Augen gesehen zu haben. Ich wollte wenigstens den Grund für das alles wissen. Denn genau deshalb war ich hier. Ich wollte wissen warum.
 
Meine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt und ich stieg über einen abgestürzten Kronleuchter hinweg, als ich auf die Scherben von ehemals feinem Porzellan trat. Ich zuckte zusammen. Das Knirschen hörte sich hundert Mal lauter an, als es tatsächlich war und ich erstarrte mitten in der Bewegung. Angespannt wartete ich darauf, dass irgendetwas passierte, doch es blieb still. Zumindest für einen kleinen Moment erleichtert stieg ich von den Scherben und setzte meinen Weg durch die Tische fort, bis ich zu der Tanzfläche kam, die aus Parkett bestanden hatte. Etwas erhöht lag eine kleine Bühne auf der etwas stand, was früher einmal ein Piano gewesen sein dürfte. Daneben war noch mehr Platz für Instrumente und ich konnte die Jazzmusik von damals fast hören.
 
Aber auf einen Schlag war die Stille vorbei. „Willkommen, Jordan."
 
Ich erstarrte und für einen Moment setzte mein Herz aus. Trotz allem hatte ich mir gewünscht, dass niemand hier war. Doch jetzt musste ich mich zusammenreißen. Wenn ich auch nur für einen Moment Schwäche zeigte, hatte ich verloren.
 
Ich kannte die Stimme nicht, aber es gab noch etwas, das mich überraschte. Sie gehörte einer Frau. Die Worte hallten von den Wänden wieder und machten es unmöglich ihren Ursprung zu orten. Ich umklammerte den Griff meiner Waffe noch fester und sah mich um. Nichts. Nicht die kleinste Bewegung, was mich noch unruhiger werden ließ.
 
„Nehmen Sie doch die Waffe runter, damit wir uns in Ruhe unterhalten können", schlug sie ruhig vor. So ruhig wie nur jemand sein konnte, der sich sicher war, dass er nicht in der Schusslinie war.
 
Ich drehte mich einmal um meine eigene Achse. „Ich soll mich Ihnen schutzlos ausliefern?", rief ich, „Damit Sie mich gleich umbringen können? Vergessen Sie's."
 
„Oh, so kämpferisch? Ich muss sagen, dass Sie mich nicht enttäuschen. Alles andere wäre auch Verschwendung von Ressourcen gewesen."
 
Bevor ich begriff, was das bedeutete, war einer der Männer schon dabei mich anzugreifen. Ich wurde davon völlig überrumpelt und alles ging so schnell, dass ich selbst kaum mitbekam, was ich tat.
 
Meine Instinkte übernahmen und ich handelte, ohne es wirklich mitzubekommen. Noch während ich mich zu ihm umdrehte, riss ich meine Waffe nach oben und wollte feuern, doch der Angreifer war bereits bei mir und drückte meine Hand mit der Beretta von sich weg. Ein Schuss löste sich, traf aber niemanden und ich versuchte mich hektisch von ihm loszureißen. Er griff nach meinem anderen Arm, aber ich war schneller und rammte ihm meine Faust in die Magengrube. Zwar konnte er einiges einstecken, trotzdem lockerte sich sein Griff soweit, dass ich mich losreißen und die Waffe auf ihn richten konnte. Ich schoss ohne wirklich zu zielen und traf ihn in die Schulter.
 
Ächzend taumelte er rückwärts, doch bevor ich noch einmal schießen konnte, spürte ich wie mich der nächste packte. Jemand griff sich meine beiden Arme von hinten und riss sie zurück, sodass ich keine Chance hatte als der Bewegung zu folgen. Kaum waren meine Hände auf Höhe meiner Hüften, zerrte jemand an meiner Beretta.
 
Verzweifelt umklammerte ich sie fester, allerdings kam eine weitere Hand hinzu, die meine Finger schmerzhaft auseinander bog und sie mühselig daraus wand, während ich mich weiter wehrte und versuchte, der Umklammerung zu entkommen.
 
Letztendlich wurde mir meine Waffe aus der Hand genommen und ich nutzte den winzigen Moment, um mich nach vorne zu werfen. Ich entglitt den Händen, allerdings nur für eine winzige Sekunde. Genau in dem Moment, in dem ich loslaufen wollte, schnappten sie mich erneut und kurz darauf umklammerten mich zwei kräftige Arme von hinten.
 
Ein weiterer Mann tauchte vor mir auf und kam bedrohlich auf mich zu. Verflucht, wie viele waren das? Auch wenn die Angst das unglaublich schwer machte, wartete ich, bis er nah genug war, dann hängte ich mich in die Arme, die mich festhielten, hob meine Füße vom Boden ab und trat ihm mit voller Wucht gegen die Brust. Während er rückwärts taumelte, setzte ich meine Füße wieder auf und rammte dem Mann hinter mir meinen Hinterkopf auf die Nase. Leider ließ er nicht los und brüllte stattdessen etwas, das ich in meiner Verzweiflung aber nicht verstand. Wenige Augenblicke später kam ein weiterer hinzu und nahm einen meiner Arme, sodass sie mich jetzt zu zweit hielten.
 
Ich wusste, dass es wissenschaftlich bewiesen war, dass Männer mehr Muskelmasse und mehr Kraft hatten als Frauen. Trotzdem hasste ich diese Aussage wie die Pest und lehnte mich jedes Mal dagegen auf, sobald sie fiel. Selbst wenn es meistens nicht so gemeint war, hörte es sich für mich jedes Mal so an als wären Frauen das schwächere Geschlecht. Ich war stark. Auch körperlich. Zumindest hatte ich das immer gedacht. Doch jetzt, wo ich zwischen zwei großen Männern hing und mich erfolglos versuchte loszureißen, begann ich daran zu zweifeln. Es war doch ein wenig schwerer als ich gedacht hatte, sich gegen mehrere Männer zu wehren.
 
Und ich bereute es, dass ich mich nie mit dem Thema Nahkampf beschäftigt hatte. Bisher war es mir nicht als nötig vorgekommen. Nicht mit einer Waffe, außerdem legte sich normalerweise niemand mit Kate DeLeón an. Nicht nur wegen ihrer Pistole, sondern auch wegen ihres Rufes und ihrer einschüchternden Art. Ich hatte mich nie auf einen direkten Kampf einlassen müssen, weil es schlichtweg keiner wagte ihr näher zu kommen als er musste. Jetzt kam mir diese Tatsache beinahe wie ein Fluch vor, da ein wenig Übung in Sachen Selbstverteidigung vielleicht gar nicht so schlecht gewesen. Mit Erfahrung wäre das hier möglicherweise ganz anders abgelaufen, aber die hatte ich nunmal nicht. 
 
Doch trotz meiner offensichtlichen Niederlage dachte ich überhaupt nicht daran aufzugeben. Stattdessen riss ich weiterhin an den Händen, die meine Arme wie Schraubstöcke umklammerten. Die Panik, die mich überkam, gab mir die nötige Kraft und neben mir hörte ich die Männer fluchen. Gut. Einfach würde ich es ihnen sicher nicht machen.
 
Grob schleiften sie mich über das Parkett zu einem einsamen Stuhl, der dort stand. Eine weitere Welle aus Angst schlug über mir zusammen und ich zappelte noch heftiger. Ich wusste, was sie vorhatten. Doch jeglicher Widerstand war vergeblich. Ich hatte keine Chance.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt