Die Liebenden | 2

345 33 9
                                    

Der Arzt brauchte nur Sekunden, bis er bei mir war, aber Cats hoffnungsvollen Blick zu sehen und zu wissen, dass dieser Ausdruck bald für eine sehr lange Zeit aus ihrem Gesicht verschwinden würde, brach mir fast das Herz. Ich wollte ihr das Gefühl so gerne ersparen, aber das konnte ich nicht.
 
Cats Gesichtsausdruck wurde immer unsicherer, je näher der Arzt kam. Als er direkt vor ihr stehen blieb, krallte sie sich unsicher an den Stuhl. Ihr Unterbewusstsein wusste bereits was jetzt kommen würde, aber sie wollte es schlichtweg nicht wahrhaben.
 
„Es tut mir so unendlich leid, Miss Diaz, aber wir konnten nichts mehr für Ihren Freund tun."
 
Sie wurde von einem Zittern erfass und starrte den Arzt einfach an.
 
„Wir haben unser Bestes gegeben, aber er ist seinen Verletzungen erlegen."
 
Ich sah Cat an, dass sie unfähig war sich zu rühren. Ihr Blick wurde glasig, während sie versuchte zu verstehen, was der Mann gerade zu ihr gesagt hatte.
 
Sie brauchte etwa zehn Sekunden, in denen sie einfach unbeweglich dasaß. Der Arzt nickte mir in der Zwischenzeit zu und ging. Ich wollte nicht wissen wie oft er schon solche Nachrichten überbracht hatte, aber oft genug um zu wissen, dass die Angehörigen jetzt Zeit brauchten. Als er weg war, sah ich wieder zu Cat. Ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte. Ich wagte es nicht mal sie zu berühren, weshalb ich abwartete.
 
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte ich ein ersticktes „Nein", dann brach es aus ihr heraus. Tränen rannen ihr heiß über die Wangen und sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie begann so hemmungslos zu weinen, dass sich meine Brust zusammenzog. Ich fühlte mich furchtbar hilflos und konnte ihren Schmerz nur ansatzweise nachvollziehen. Zwar hatte ich meine Mutter verloren, aber das hatte sie auch. Genau wie ihren Vater. Und jetzt auch noch den Mann, den sie liebte; den Mann, der für sie alles gewesen war.
 
Hart schluckte ich und riss mich aus meiner eigenen Starre. Vorsichtig zog ich sie wieder in meine Arme. Erst wehrte sie sich, doch ich umklammerte sie so fest, dass sie es irgendwann aufgab und sich gegen mich sinken ließ. Ich sagte nichts. Es gab nichts, dass ich hätte sagen können, dass es besser gemacht hätte.
 
Ich hatte keine Ahnung wir lange wir so saßen, aber es war sicher eine halbe Stunde. Ich ignorierte die neugierigen Blicke der vorbeigehenden, doch kein Einziger wagte es uns anzusprechen. Eine Krankenschwester legte stumm eine Packung Taschentücher auf den Stuhl neben mich und ich sah sie dankbar an.
 
Irgendwann schienen Cat die Tränen ausgegangen zu sein, denn sie richtete sich langsam auf. Ich erschrak, als ich in ihr Gesicht sah. Sie war kreidebleich, ihre Augen war noch geröteter als vorhin und ihr Blick war leer. Es war als wäre jegliches Leben aus ihr gewichen. Ich reichte ihr ein Taschentuch und sie wischte sich geistesabwesend die nassen Wangen. „Ich bringe dich in mein Apartment", flüsterte ich. Sie reagierte nicht. Vermutlich war es ihr völlig egal, was man mit ihr anstellte. Ich stand auf und zog sie vorsichtig auf die Beine. Doch sie war so schwach, dass sie zurück in den Stuhl sank.
 
Ich fuhr mir über das Gesicht. Auf einmal überkam mich das Gefühl, dass ich das nicht alleine schaffte. Also tat ich das, was ich öfter tat, wenn ich nicht weiterwusste: Ich rief Will an. In einigen kurzen Sätzen erklärte ich ihm was passiert war und bald darauf stand er vor mir. „Was kann ich tun?"
 
Erleichtert deutete ich auf Cat, die inzwischen noch mehr einem Zombie glich. „Könntest du sie bitte in meinen Wagen tragen? Ich... ich komme dann gleich nach."
 
Er nickte, ging zu ihr und kniete sich neben sie. „Cat, mein Name ist Will. Ich bin Jordans Bruder und bringe dich jetzt zu ihr nach Hause", sagte er sanft. Als sie nicht reagierte, hob er sie vorsichtig hoch und trug sie in Richtung Ausgang.
 
Ich blieb zurück und musste mich selbst noch mal setzten. Das war gerade viel auf einmal und darauf war ich beim besten Willen nicht vorbereitet gewesen.
 
„Miss Everton?" Reflexartig stand ich wieder auf und erkannte den Arzt von vorhin vor mir. Er hielt ein Tablett in den Händen. „Noch mal mein herzliches Beileid. Ich verspreche Ihnen, wir haben alles, was in unserer Macht stand, getan um ihn zu retten."
 
Ich nickte. „Ich bin mir sicher das haben Sie. Und ich bin Ihnen dafür sehr dankbar."
 
„Ich wünschte, wir hätten mehr tun können."
 
Ich zwang mich zu einem Lächeln. Der Arzt kam mir ehrlich vor und ich glaubte nicht, dass das eine bedeutungslose Floskel war.
 
Er sah herunter auf das Tablett. „Das sind die persönlichen Gegenstände, die wir bei Cole Allen gefunden haben. Da er leider keines natürlichen Todes gestorben ist, müssen wir sie an die Polizei übergeben, aber da ist etwas, das ich gleich aushändigen kann. Es ist für die Polizei nicht weiter von Bedeutung und ich bin mir sicher, dass Mister Allen gewollt hätte, dass es Miss Diaz bekommt."
 
Er überreicht mir die kleine mit dunkelblauen Samt bezogene Schachtel. Wieder zog sich meine Brust schmerzhaft zusammen. Im Inneren steckte ein Verlobungsring. Cole hatte Cat einen Antrag machen wollen. In diesem Moment fühlte ich so viel Bedauern, dass es mich fast überwältigte. Mühsam kämpfte gegen die Tränen an und zwang mich ein weiteres Mal zu einem Lächeln. „Danke. Ich werde es ihr geben."
 
Doch plötzlich fiel mein Blick auf einen weiteren Gegenstand auf dem Tablett und ich erstarrte.
 
Es war eine Tarot-Karte.
 
Meine Gedanken rasten. Was hatte das zu bedeuten? Und was hatte das alles mit mir zu tun? Und mit Vincent, der ebenfalls eine Karte bekommen hatte? Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber eines war sicher. Es war besser wenn die Polizei davon niemals Wind bekam.
 
„Wann können wir ihn denn beerdigen?" Ich brachte es nicht über das Herz Cole „Leiche" zu nennen. Genauso wenig wie ich es über das Herz gebracht hatte Evan so zu nennen.
 
„Sobald die Autopsie abgeschlossen ist. Das dürfte in zwei Tagen der Fall sein."
 
Während der Arzt sprach, sah ich mich unauffällig um. Keine Kamera und niemand, der uns beobachtete.
 
„Okay. Und was ist damit?" Ich deutete auf den Stuhl, auf dem Cat gesessen hatte und auf dem noch ein wenig getrocknetes Blut hing. Der Arzt folgte meinem Blick und genau in diesem Augenblick griff ich blitzschnell nach der Karte und ließ sie in meinem Ärmel verschwinden. Sie hatte relativ weit am Rand gelegen, weshalb ich hoffte, dass es nicht mal auffiel, dass sie fehlte.
 
„Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Darum kümmern wir uns schon. Schauen Sie erst mal nach Ihrer Freundin." Er lächelte mich an und bedankte mich ein weiteres Mal. Als er wieder auf das Tablett heruntersah, hielt ich den Atem an, doch er schien nicht zu bemerken, dass etwas fehlte.
 
Ich verabschiedete mich und machte mich schleunigst auf den Weg zum Ausgang. Ich wollte nur noch hier raus.
 
Draußen schlug mir die frische Luft entgegen und ich hatte endlich wieder das Gefühl atmen zu können. Auf dem Weg zu meinem Wagen zog ich die Karte aus meinem Ärmel. Das Bild war auf makabere Weise ironisch. Es war die sechste Karte und hieß „Die Liebenden". Darauf waren eine nackte Frau und ein nackter Mann zu sehen, die wohl Adam und Eva darstellten. Im Hintergrund konnte man noch den Baum mit den verbotenen Früchten und die Schlange sehen, dazu ein weiterer Baum und ein Berg in einiger Ferne. Darüber schwebte auf einer Wolke ein Engel mit ausgebreiteten Armen und darüber wiederum war eine große Sonne abgebildet.
 
Die grausame Ironie bestand darin, dass die Karte eine Liebe darstellte. Eine Liebe, wie Cat und Cole sie geteilt hatten und die jetzt durch den Mord zerstört worden war.
 
Ich ließ die Tarot-Karte in meiner Jackentasche verschwinden. Ich wusste nicht, ob ich Cat irgendwann davon erzählen würde, aber im Moment war es besser wenn sie davon nichts wusste.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt