Rache und Vergebung | 1

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Es war endlich soweit. Ich war paranoid geworden. Die Sache mit den Tarot-Karten oder eher ihre Botschaft machten mir mehr zu schaffen als ich am Anfang gedacht hatte oder als ich zugeben wollte. Ständig sah ich mich um und zuckte bei jedem lauten Geräusch, das auch nur im entferntesten Sinne einem Schuss ähneln könnte, zusammen. Eigentlich wartete ich nur darauf, dass sich mir irgendwann eine Kugel in den Rücken bohrte. Zum ersten Mal im Leben fühlte ich mich gejagt und hilflos ausgeliefert.
 
Doch das wurde mir erst bewusste als Vincent mich zum Essen abholte. Kaum war ich in seiner Nähe fiel etwas von der Anspannung von mir ab und ich entspannte mich ein wenig. Es war ein wenig als würden sich die Schatten, die auf mich lauerten, zurückziehen. Ironischerweise fühlte ich mich bei ihm sicher, obwohl er derjenige war, der meinem alter Ego Jordan so unerbittlich nachjagte. Trotzdem wusste ich, dass ich mich auf ihn verlassen konnte und er nicht einfach die Beine in die Hand nahm wenn es brenzlig wurde. Außerdem war ich mir seit dem kleinen Zwischenfall im Bestattungsunternehmen ziemlich sicher, dass wir gar kein so schlechtes Team abgeben würden. Wenn wir nur nicht auf unterschiedlichen Seiten stehen würden...
 
Ich genoss diesen Abend. Nicht nur, dass ich mich wesentlich weniger umdrehte als sonst, es fühlte sich so herrlich normal an. Wir taten das, was auch unzählige andere Menschen taten und das kam bei mir nicht oft vor. Schließlich war mein Job, der mein Leben bestimmte, alles andere als gewöhnlich. Zwar hatte ich diesen Weg selbst eingeschlagen, aber das bedeutete ja nicht, dass ich es nicht genießen konnte wenn ich ab und zu ein wenig von der einsamen Straße abkam.
 
Trotzdem bat ich Vincent an diesem Abend nicht in mein Apartment. Obwohl es mir manchmal selbst unglaublich schwer fiel, versuchte ich meinem eigenen Wunsch zu entsprechen und es langsam angehen zu lassen. Nicht nur, weil ich mich vor dem, was zwischen uns war, ein Stück weit fürchtete, sondern auch um seinetwillen. Ich war mir ziemlich sicher, dass er mir dankbar sein würde, dass ich ihn ein wenig auf Distanz gehalten hatte, wenn das hier böse ausging. Und das würde es, es war nur eine Frage der Zeit. Außerdem wollte ich so meinem vermeintlichen Beobachter vorgaukeln, dass er mir nicht ganz so wichtig war, wie er es tatsächlich war. Vincent akzeptierte es. An diesem Abend ging mit ihm allerdings auch das Gefühl der Sicherheit.
 
Zwei Tage später war ich endgültig erschöpft. Die ständige Paranoia war anstrengend und saß mir in den Knochen. Inzwischen schlief ich mit meiner Beretta in der Hand und ging nicht mehr unbewaffnet aus dem Haus.
  Doch das Schlimmste war, dass ich mich nicht mal mehr in meinen eigenen vier Wänden sicher fühlte. Die Tatsache, dass irgendjemand, möglicherweise sogar der Herrscher und der Mörder von Evan und Cole, wusste wo ich wohnte, mich mehr ängstigte als ich zugeben wollte. Als hätte jemand meinen sicheren Hafen in eine tickende Zeitbombe verwandelt und ich wartete nur darauf, dass sie hochging. Und ich gleich mit ihr.
 
Die Botschaft der Tarot-Karten war eine Drohung gewesen und ich bezweifelte, dass die Person es bei diesem Psychospielchen belassen würde. Natürlich könnte ich einfach abhauen und untertauchen, aber derjenige kannte meine Identität. Wenn er die herausfinden konnte, wie lange würde er wohl brauchen um mich erneut zu finden?
  Zudem war es nicht meine Art wegzulaufen. Wenn ich das jedes Mal getan hätte, wenn ich Angst gehabt hätte, wäre ich heute nicht nur nicht da, wo ich bin, sondern wahrscheinlich schon mausetot. Zusätzlich war ich Coles und Evan schuldig ihren Mörder zu finden und so musste ich nur darauf warten, dass er zu mir kam.
 
Vermutlich war das der Grund, warum ich die Person nicht gleich erkannte, die an diesem Nachmittag vor meiner Tür saß. Vom schlimmsten ausgehend zog ich meine Waffe, hatte sie innerhalb einer Millisekunde entsichert und war bereit zu schießen. Wenn ich ehrlich war, hatte sich gerade sogar große Lust dazu. Ich wollte mich nicht mehr ständig umdrehen müssen und war dafür sogar bereit nach dem Erst-schießen-dann-fragen-Prinzip vorzugehen.
 
Glücklicherweise konnte ich mich gerade noch davon abhalten den Abzug durchzudrücken.
 
Die Person auf dem Boden hob erschrocken die Hände. „Ich bin's, Jordan", rief sie.
 
Sofort ließ ich die Pistole sinken. „Cat! Verflucht, warum erschreckst du mich so?" Während die Mexikanerin sich theatralisch an die Brust fasste, ließ ich meine Beretta genauso schnell wieder verschwinden wie ich sie gezogen hatte. „Was machst du hier?", wollte ich wissen.
 
Unsicher lächelte sie mich an. „Ich wollte mich entschuldigen. Oder so was in der Art."
 
Ich hielt ihr meine Hand hin, um sie auf die Beine zu ziehen. „Das musst du nicht."
 
Sie zuckte lediglich mit ihren Schultern, doch ihre Anwesenheit sprach für sich.
 
Ich bat sie herein und wenig später saßen wir zusammen auf meiner Dachterrasse. Meine Beretta legte ich auf den Tisch und verdeckte sie mit meinem Hut, da ich wusste, dass Cat sie nicht leiden konnte. Normalerweise hielt ich sie aus Rücksicht so weit wie möglich von ihr fern, aber wie bereits erwähnt, war meine Paranoia übermächtig. Verdammt, ich legte sie sogar auf das Waschbecken, während ich duschte oder mir die Zähne putzte. Dieses Mal schien sie es sie jedoch nicht zu interessieren und sie schenkte der Waffe nicht die geringste Beachtung.
 
„Zwei Wochen, Jordan", begann sie schließlich, „So lange hat die Polizei an Coles Fall gearbeitet."
 
Gequält schloss ich die Augen. Ich fühlte mit ihr. „Sie haben aufgegeben, ich weiß", sagte ich, „Ich habe den Fall mitverfolgt."
 
Sie hatten den Mord als schiefgegangenen Einbruch abgestempelt und zu den ungeklärten Fällen abgelegt. Was die Stichwunden und das daraus geschlossene Zögern des Täters anging, waren sie der gleichen Meinung wie ich, allerdings unterstrich das in ihren Augen nur ihre Annahme, dass es nicht geplant gewesen war Cole umzubringen. Anzeige gegen Unbekannt; Fall erledigt. Tut mir leid, Miss Diaz. Wir tun unser Möglichstes, aber nur in den wenigsten Fällen wird der Täter tatsächlich gefunden. Und tschüss. Die arme Catalina ließen sie mit ihrer Trauer um ihren Verlobten und unendlich vielen Fragen zurück.
 
Ich kannte das nur zu gut. Bei meiner Mutter war es ähnlich abgelaufen. Auch ihr Fall verstaubte in irgendeinem Aktenlager.
 
„Sie lassen ihn einfach laufen", meinte Cat bitter, „Ich meine, sie denken nicht mal darüber nach, dass da mehr dahinterstecken könnte und tun so als würde das jeden Tag passieren."
 
Eine Weile hörte ich ihr einfach zu, da ich der Meinung war, dass es genau das war, was sie im Moment brauchte. Vermutlich war das der wahre Grund, warum sie hergekommen war. Sie brachte einfach jemanden, der ihr zuhörte.
 
„Tut mir leid", sagte ich schließlich.
 
Sie nickte und nach einer Weile sah sie mich wieder an. „Du suchst ihn?"
 
„Coles Mörder? Ja." Ich zögerte bevor ich weitersprach, gab mir aber schließlich einen Ruck. „Ich habe inzwischen herausgefunden, dass sein und Evans Mörder höchstwahrscheinlich ein und die selbe Person sind." Ich hatte Schuldgefühle, aber es wäre falsch und vor allem egoistisch es ihr nicht zu sagen. Hier ging es nicht um mich, sondern um Cat.
 
„Das heißt, du hast es auch für Evan getan", erkannte sie und tat damit genau das, was ich am liebsten vermieden hätte. Ich wollte nicht, dass sie dachte, dass mir Cole egal war und ich das nur tat um Evan zu rächen.
 
„Nicht nur", versicherte ich ihr, „Ich will dir helfen, Cat, weil ich genau weiß, wie sich das anfühlt." Wieder stockte ich und ich atmete unauffällig durch. „Außerdem hattest du recht. Es ist meine Schuld. Das alles ist nur meinetwegen passiert. Es ist meine Schuld, dass Cole tot ist." Ich wagte nicht sie anzusehen. Sie hatte keine Ahnung welche Schuldgefühle ich deswegen hatte; wie sehr ich mir wünschte das rückgängig machen zu können.
 
„Ich weiß", flüsterte sie und erneut zog sich meine Brust zusammen. Noch immer war es hart das zu hören, aber ich musste wohl damit klarkommen. Das schlimmste allerdings war ihre tränenerstickte Stimme, in der all die zermalmende Traurigkeit lag, mit der sie in den letzten Wochen alleine gewesen war. Es zerriss mir das Herz zu wissen, dass ich ihr nicht helfen konnte. „Aber weißt du was, Jordan?", fuhr sie irgendwann fort, „Das Seltsame ist, dass es keinen Unterschied macht. Cole ist tot und ich... will nicht noch einen Menschen verlieren, der mir nahe steht."
 
Endlich schaffte ich es ihr in die Augen zu sehen. Darin lag nichts als Sanftheit und sie konnte sich sogar zu einem aufmunternden Lächeln abringen. Ich verstand die Welt nicht mehr. Sie vergab mir. Einfach so. Ich konnte nicht verstehen, wie ihr das möglich war. Wie viel Güte, Barmherzigkeit und Herz man haben musste um das zu tun.
 
Als ich jedoch zurücklächelte, schien sie mindestens genauso erleichtert wie ich und ein Teil der Schwere dieses Gesprächs fiel von uns ab. „Aber eigentlich wollte ich mich für das entschuldigen, was ich im Leichenschauhaus zu dir gesagt habe. Das war nicht fair und ich..."
 
Ich schüttelte den Kopf. „Lass es. Ist schon gut."
 
Wieder lächelte sie mich an. Dieses Mal dankbar. Sie hatte schon so viel für mich getan, dass ich ihr still versprach das nie wieder anzusprechen. Meiner Meinung nach hatte sie es nicht nötig sich dafür zu entschuldigen. Für die Wahrheit musste man sich nicht entschuldigen. Tatsächlich hatten mich ihre Worte sogar zum Nachdenken gebracht. Was unterschied mich schon von den anderen Kriminellen? Warum kam ich überhaupt auf die Idee, dass ich etwas besseres war? Nur weil ich besser organisiert war und mich etwas schlauer anstellte als sie? Aber ich wusste, dass sie mir das niemals ins Gesicht sagen würde.
 
Die nächsten zwei Stunden saßen wir einfach auf der Terrasse zusammen, starrten auf die Skyline und lauschten dem Atmen der Stadt. Es war als wäre sie lebendig und das war einer der Gründe, warum ich sie so liebte. Ich hatte schon genug Tod um mich herum. Cat und ich hingegen schwiegen, aber das war in Ordnung. Es war zu früh zu tun als wäre nie etwas gewesen. Irgendwann holte ich uns zwei Tassen Kaffee und so saßen wir stumm nebeneinander. Cat hatte sich verändert. Nicht viel, aber mir fiel es auf. Ein Teil von ihr war mit Cole gestorben. Es war nur minimal, aber ich merkte, dass sie ein bisschen mehr wie ich geworden war. Verschlossener. Kälter. Und das tat mir leid. Gleichzeitig war der letzte Rest der eingeschüchterten Mexikanerin aus ihr verschwunden.
 
„Willst du nicht wissen wo ich war?"
 
Es waren die ersten Worte seit einer gefühlten Ewigkeit und ich drehte den Kopf. Dann schüttelte ich ihn. Ich konnte mir schon denken wo sie gewesen war: Weit weg von hier. Mehr brauchte ich nicht zu wissen. Und dafür war sie mir dankbar.
 
Ich sah wieder nach vorne, hatte aber nicht vor das Schweigen fortzuführen. Es gab etwas, das mir schon seit Jahren auf der Zunge lag. „Du musst das hier nicht tun."
 
„Was meinst du?"
 
„Das alles. Ich weiß, wie unwohl du dich auf dieser Seite des Gesetzes fühlst. Du bist ein guter Mensch, Cat. Du gehörst nicht hier her. Du könntest aus dem Geschäft aussteigen und einfach verschwinden und ich würde nie wieder etwas von dir verlangen. Du musst es nur sagen." Es fiel mir schwer das zu sagen, aber es war schon lange überfällig.
 
Wieder einmal folgte eine lange Pause. „Weißt du, ich habe schon oft darüber nachgedacht. Dass ich Teil von etwas bin, das gegen das Gesetz – die allgemeine Moral – verstößt. Ich bin ganz ehrlich, Jordan. Ich heiße vieles nicht gut, was du tust oder getan hast, aber ich habe nie etwas gesagt, weil ich weiß, dass du deine eigenen Regeln und vor allem deine Gründe hast. Vielleicht hat mich aber einfach nur gestört, dass das, was du tust, mit José Donio zu tun hat und seinem Geschäft zwangsläufig ein Stück weit ähnelt, das ich so hassen gelernt habe. Vielleicht wollte ich einfach nicht auf der selben Seite wie dieser Mistkerl stehen."
 
Sie atmete tief durch und spielte mit Coles Verlobungsring herum, den sie sich an ihren linken Ringfinger gesteckt hatte. „Aber es hat sich einiges verändert. Ich habe mich verändert. Als ich weg war, ist mir das klar geworden. Und inzwischen... kann ich dich verstehen. Ich kann verstehen, dass du dich damals im Stich gelassen gefühlt hast. Die Wut, die du auf die Polizei hattest und dadurch die Gleichgültigkeit, die der Staat uns kleinem Volk gegenüber hat, gesehen hast. Die Wahrheit ist, dass wir die Regierung und die großen Politiker einen Dreck interessieren! Es sind die kleinen Dinge, die den Unterschied machen, doch die Welt ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Warum sollte ich einem Land meine Loyalität schenken, wenn es noch nichts für mich getan hat?"
 
Sie hielt inne. „Auf dieser Welt gibt es keine Seiten, nur Spieler, richtig?", meinte sie dann.
 
Ich lachte leise in mich hinein. Nie hätte ich erwartet, dass ausgerechnet Catalina Raymond Reddington zitierte, einen der vermutlich größten Verbrecher überhaupt. Zumindest im Fernsehen.
 
Aber er hatte Recht. Und wie Recht er hatte. Es ging hier nicht nur um dieses Land, es war überall so. Jeder musste für sich alleine kämpfen, sonst hatte man verloren. Diese ganzen Allianzen und Zusammenschlüsse waren lediglich Illusionen. Es gab keine Loyalität unter einem Volk. Man musste sie sich verdienen oder man wurde früher oder später verraten. 
 
„Ich bleibe", fasste Catalina schließlich zusammen, „Ich will Coles verfluchten Mörder schnappen und danach lebe ich nach meinen eigenen Regeln."
 
Oh ja, sie hatte sich verändert. Das sanfte Mädchen, das ich kennengelernt hatte, war verschwunden und ich hoffte, dass zumindest noch ein Teil davon in ihr war. Doch ich akzeptierte ihre Wandlung. Wie könnte ich das auch nicht? Schließlich war ich daran schuld. Auf der anderen Seite war es nur eine Frage der Zeit gewesen. In dieser Welt wurde jedes noch so kleine Fünkchen Gutes sofort ausgelöscht.
 
Ich nickte. „Wir finden seinen Mörder", gab ich ihr mein Wort. Ein gefährliches Versprechen, da ich das Gleiche vor Jahren mir selbst gegeben hatte und es noch immer nicht hatte halten können. Aber das hier war etwas anderes. Ich war näher dran als ich es am Mörder meiner Mutter jemals war und fest davon überzeugt zumindest einem von uns Seelenfrieden zu verschaffen.
 
Dann tat Cat plötzlich etwas, von dem ich noch nie gesehen hatte, dass sie es tat. Sie schob ihre Hand über den Tisch und unter meinen Hut. Als sie sie zurückzog hatte sie meine Beretta Px4 Storm in der Hand. Ich sagte nichts und beobachtete sie einfach still. Sie selbst schaute auf ihre Finger, die über das kalte Metall der Waffe strichen. Es sah fast so aus als würde sie sie streicheln. Ein ironisches Bild, da die Waffe zweifellos tödlich war. Ich wusste nicht, wie viele Menschen diese Beretta schon umgebracht hatte oder noch umbringen würde.
 
Cat hatte immer einen großen Respekt, wenn nicht sogar Angst vor Pistolen gehabt, aber davon merkte man gerade nichts. Sie schloss ihre Hand um den Griff und legte ihren Finger auf den Abzug. Dann sah ich es. Ein winziges Funkeln in ihren Augen. Sie spürte die Macht, die von dem Gegenstand ausging. Das Kribbeln in den Fingern, das Adrenalin, das durch den Körper floss. Wer eine Waffe hatte, hatte Macht. Ab und zu sogar über Leben und Tod zu entscheiden. Und sie gefiel ihr.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt