Knockin' at Heaven's Door | 4

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Ich legte meine Hand in seine und spürte die Wärme, die davon ausging. Sie zog sich durch meinen gesamten Körper und unwillkürlich bogen sich meine Mundwinkel nach oben. Sogar jetzt schaffte er es, mich zum lächeln zu bringen.
 
Vincent umschloss meine Hand etwas fester als hätte er Angst, dass ich sie wegziehen könnte, und zog mich zu sich auf den Boden, wo er inzwischen kniete. Das Elend, das gerade noch gefühlt hatte, war schlagartig vergessen als er mich noch ein wenig näher zu sich zog. Sein heißer Atem streifte meine Haut. „Du hast mich fast wahnsinnig gemacht", flüsterte er und brachte mich dazu verlegen zu lächeln. Pures Glück schien durch meine Adern zu fließen und ich musste an Cat denken. Hatte sie das gemeint?
 
Bevor ich darüber nachgedacht hatte, hob ich meine Hand und fuhr mit meinen Fingerkuppen über seine Schläfe und seine Wange, bis ich bei seinen Lippen war. Er ließ es bereitwillig zu. Es war ungewohnt ihn einfach so, ohne Umstände und ohne um Erlaubnis zu fragen, nur weil ich es wollte, berühren zu können. Eine Unebenheit auf der feinen Haut verriet mir, dass seine Lippe vor kurzem aufgeplatzt und erst vor kurzem wieder zusammengewachsen war. Langsam kam ich ihm näher und legte meinen Mund auf seinen. Locker schlang ich meine Arme um seinen Hals und irgendwann griff er nach meiner Hüfte und zog mich zu ihm auf den Schoß.
 
Dieses Mal gaben wir uns dem Kuss vollständig hin. Da war kein Zögern mehr, keine unbeantworteten Fragen, die zwischen uns lagen. Nur wir. Und das war mehr als genug. Mein Verlangen wurde immer drängender und ich drückte mich noch fester an ihn, bis er schließlich nachgab und sich auf den Rücken fallen ließ. Jetzt saß ich rittlings auf ihm und beugte mich zu ihm herunter, als ich plötzlich spürte, wie er unter mir zusammenzuckte. Ich hielt inne und wollte fragen, ob alles in Ordnung wäre, da zog er mich schon wieder zu sich und presste seine Lippen auf meine. Ich erwiderte den Kuss, ich konnte gar nicht anders, aber als ich meinen einen Unterarm, mit dem ich mich nicht neben seinem Kopf abstützte, auf seine Brust legte, verspannte er sich merklich.
 
Ich zog meinen Kopf zurück. „Alles ok?"
 
„Bestens", grinste er und versuchte wieder den Raum zwischen uns zu verkleinern, doch dieses Mal wehrte ich mich. Ich richtete mich auf und sah auf ihn herunter.
 
„Das war nichts, Jordan. Wirklich", beteuerte er.
 
Misstrauisch hob ich eine Augenbraue und übte versuchshalber ein wenig Druck auf eine Stelle auf Höhe seiner Rippen aus.
 
Er zuckte zusammen. Heftig.
 
Sofort kletterte ich von ihm herunter.
 
„Nur ein kleiner Kratzer von meinem letzten Einsatz. Nichts wildes."
 
Natürlich. Was sonst? Ich griff nach seinem T-Shirt, aber er hielt mich zurück. Ich legte den Kopf schief um ihn an seine eigene Frage, wann ich es das letzte Mal zugelassen hatte, dass sich jemand um mich kümmerte, zu erinnern. Als er seinen Fehler bemerkte, verdrehte er die Augen und ließ meine Hand los.
 
Vorsichtig zog ich den Stoff zurück und musste mich beherrschen nicht selbst zusammenzuzucken. Beinahe seine komplette Brust war mit Blutergüssen übersät. Es war ein einziges Muster aus dunkelroten und blauen Flecken. Vor allem an zwei Stellen hatte es ihn besonders hart erwischt, da seine Haut dort beinahe dunkelblau war.
 
Ich riss mich zusammen, nicht ganz so verstört dreinzuschauen und schluckte unauffällig. Dann hob ich beinahe spöttisch eine Augenbraue und versuchte es mit Humor zu überspielen. „Du siehst aus wie ein Schlumpf."
 
Er lachte und ließ seinen Kopf zurück auf den Boden sinken. Er versuchte nicht länger seine Schmerzen vor mir geheim zu halten und jetzt konnte ich sehen, dass jede einzelne seiner Bewegungen höllisch ziepen musste.
 
„Willst du etwas Eis?"
 
„Gerne", meinte er leicht verlegen.
 
Ich stand auf, bot ihm meine Hand an und zog ihn auf die Beine. „Du meintest das vorhin wirklich ernst, dass du verprügelt wurdest", stellte ich fest während ich in die Küche zu meinem Kühlschrank ging und begann in meinem Gefrierfach nach einem Kühlpack zu suchen. Ich hatte davon einige auf Lager, da ich sie selbst schon öfter gebraucht hatte. Deshalb müsste ich den Anblick eigentlich gewöhnt sein, doch es war noch mal etwas anderes es bei anderen zu sehen.
 
„Der Typ, dem du den Streifschuss verpasst hast, wollte abhauen. Ich bin hinterher und... naja, er war einen ganzen Kopf größer als ich. Und er hatte ein Kantholz."
 
Ich sah hinauf zu seinem Haaransatz und entdeckte tatsächlich einen Grind. Er war mir vorhin schon aufgefallen, aber ich hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Ich hatte wirklich andere Dinge im Sinn gehabt.
 
Ich zog einen Eispack aus dem Fach, den ich ihm zuwarf. Er drückte ihn auf seine Rippe, wo der dunkelblaue Fleck war. Ich fragte gar nicht erst nach den Details. Anhand seiner Blutergüsse konnte ich mir alles zusammenreimen.
 
Ich ging zu dem Tresen, entdeckte mein noch halb volles Bourbon-Glas und nahm einen Schluck. Den hatte ich jetzt nötig.
 
„Danke", sagte Vincent auf einmal. Ich drehte mich wieder um und runzelte die Stirn.
 
„Wofür?"
 
„Dass du nicht überreagierst."
 
„Das gehört zum Job, oder?"
 
„Schon. Aber erklär das mal denen, die dir nahe stehen."
 
Wissend nickte ich. Will und Chase hatten sich um mich auch Sorgen gemacht, als sie damals meine blaue Schulter gesehen hatten. Und wenn sie auch noch wüssten, wie sie, inklusive aller Umstände, entstanden war, hätten sie darauf bestanden, dass ich nie wieder auch nur in die Nähe einer Waffe geschweige denn eines oder einer Kriminellen kam.
 
Er lächelte, als ihm klar wurde, dass ich ihn verstand. Wieder einmal verschlug es mir dabei den Atem, obwohl ich vor einem Monat noch der festen Überzeugung gewesen wäre, dass das nicht möglich war. Dass man bei einem Lächeln oder nur einem einzelnen Blick vergessen konnte, zu atmen. Aber genau das war gerade passiert. Schon wieder. Und auf einmal machte mir diese Tatsache Angst.
 
Ich erinnerte mich an einen Gedanken, der mir durch den Kopf geschossen war, als ich nach dem Vorfall im Leichenschauhaus nach Hause gekommen war. Ich hatte mir damals Sorgen gemacht, dass ich – oder noch viel schlimmer – Vincent dabei hätten draufgehen können. Ich hatte sein Wohl, ohne dass es mir überhaupt bewusst gewesen war, über meines gestellt. Eine weitere Tatsache, die mir Angst machte. Schließlich hatte ich damals noch nicht das gefühlt, was ich heute fühlte... oder? Ich könnte nicht mal auf die Frage antworten, weshalb ich mich damals im Smith's neben ihn gesetzt und ihn angesprochen hatte. Wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht mal jetzt, was ich fühlte. Es war zu... groß, zu viel auf einmal. Doch wenn ich genauer darüber nachdachte, war da schon immer etwas gewesen. Ich hatte es nur verdrängt. Vergraben unter dem Fakt, dass ich es eigentlich besser wüsste. Nun kam ich nicht mehr dagegen an.
 
„Alles in Ordnung?", erkundigte sich Vincent, als ich nichts mehr sagte.
 
Ich fasste all meinen Mut zusammen, schaffte es aber trotzdem nicht meinen Blick von meinem Glas zu heben. „Könnten wir es..." Ich zögerte. Ich wusste nicht wie er darauf reagieren würde; ob ich zu viel verlangte. „Könnten wir es dieses Mal vielleicht ein bisschen langsamer angehen lassen?", fragte ich. Noch verspürte ich den Wunsch ihm nicht mehr von der Seite zu weichen, aber ich brauchte Zeit, um mir der Situation bewusst zu werden. Das hier war so anders als alles, was ich jemals zuvor gefühlt hatte und es war kompliziert. Verflucht kompliziert.
 
Ich sah wie seine Schuhe sich vor mich stellten, sah aber noch immer nicht auf.
 
„Das hier macht dir Angst, hm?"
 
Unwillkürlich verkrampfte ich mich ein wenig. Er hatte genau ins Schwarze getroffen. Angespannt presste ich die Lippen zusammen.
 
„Sieh mich an", forderte er mich sanft auf. Als ich es nicht tat, zwang er mich liebevoll meinen Kopf zu heben, indem er mein Kinn vorsichtig mit den Fingern anhob. Das Braun in seinen Augen strahlte eine angenehme Wärme aus und ich schluckte. „Mir geht es genauso", meinte er dann.
 
„Wirklich?", hakte ich ungläubig nach. Das war das Letzte, was ich erwartet hatte. Auf mich wirkte er irgendwie... erfahrener.
 
„Das alles geht auf einmal so unglaublich schnell." Er zuckte mit den Schultern. „Das hier ist irgendwie anders als sonst, wenn..." Er verstummte und das war vermutlich auch besser so. Ich wollte nicht wissen, wen es vor mir in seinem Leben gegeben hatte.
 
„Ich habe auch Angst, Jordan", fuhr er dann fort, „Das hier zu vermasseln und ein Stück weit auch vor mir selbst. Wenn ich darüber nachdenke was ich alles tun würde, damit du..." Wieder verstummte er und schüttelte den Kopf.
 
Er sprach mir aus der Seele. Mir ging es genauso und ich konnte noch nicht fassen, wie ähnlich wir uns sein konnten.
 
„Aber meinst du nicht, dass wir gerade deshalb eine Chance verdient haben?"
 
Ohne darüber nachzudenken nickte ich. Ich konnte ihm nichts abschlagen und noch schlimmer war, dass es ihm mit mir genauso zu gehen schien. „Und weißt du was? Langsam fände ich toll."
 
Dieses Mal konnte ich nicht anders als zu lächeln. „Okay", entgegnete ich. Ich war erleichtert, dass er das genauso sah. Nein, ich war nicht nur froh; ich war glücklich. Glücklich darüber, dass er mir die Freiheit gab, die ich so liebte.
 
Schließlich stellte ich das Bourbon-Glas zurück auf den Tresen. Ich brauchte einen Moment um durchzuatmen. Nur eine Sekunde, um die Verletzlichkeit, von der ich gerade viel zu viel preisgegeben hatte, aus meinen Augen zu verbannen. Es reichte. Heute war ich emotionaler gewesen als in den gesamten letzten Wochen zusammen. Und das war wirklich anstrengend.
 
„Es gibt da nur noch eines, das du wissen müsstest, wenn das hier funktionieren soll", sagte ich als ich mich wieder umdrehte und senkte meine Stimme zu einem Flüstern, „Manchmal plündere ich mitten in der Nacht den Kühlschrank."
 
Er lachte. „Ich glaube, damit komme ich klar. Aber wo wir schon mal dabei sind, muss ich beichten, dass ich öfter mal die Zahnpastatube offen herumliegen lasse."
 
Ich drückte ihm sein Bourbon-Glas in die freie Hand und schickte ihn zur Couch. „Trotzdem wird dich dein Job irgendwann noch umbringen", meinte ich beiläufig.
 
Er zuckte mit den Schultern. „Gut möglich."
 
„Oder zumindest dein Stolz, wegen dem du dir von niemandem helfen lässt", murmelte ich, nahm mein eigenes Glas und folgte ihm.
 
„Moment mal", sagte Vincent, als er sich auf das Sofa fallen ließ, „Du tust gerade so als würde das nicht auch auf dich zutreffen."
 
Ich stellte das Glas auf dem Wohnzimmertisch ab, doch bevor ich etwas erwidern konnte, packte er mich an den Hüften und zog mich zu sich. Ich landete auf ihm und er schlang die Arme um mich. „Korrigiere. Du bist schlimmer als ich", wisperte er in mein Ohr, nachdem er sein Kinn auf meiner Schulter abgelegt hatte.
 
Ich lehnte mich vollständig gegen ihn. „Ich weiß." Trotzdem hatte ich nicht vor etwas daran zu ändern.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt