Der Herrscher | 4

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Ich war ein Idiot. Vor lauter Versessenheit, Evans Mörder zu finden, war ich so dumm gewesen und hatte Vincent um Informationen gebeten. Es war ein Fehler gewesen. Er hatte mindestens schon einen winzigen Verdacht geschöpft, den ich aber nicht in ihm heranreifen lassen durfte. Sonst war ich geliefert. Je länger ich in seiner Nähe war, desto wahrscheinlicher war es, dass er es eines Tages herausfinden würde. Und Vincent war beim besten Willen nicht dumm. Ich hatte seine Stelle beim FBI nie ausnutzen wollen, aber meine Wut hatte mich dazu verleitet. Doch da er mir nichts gesagt hatte, konnte ich mir schon nicht vorwerfen, sein Vertrauen missbraucht zu haben. Trotzdem musste ich mir eingestehen, dass ich es zumindest versucht hatte.
 
Ich sah aus dem Fenster des unauffälligen Peugeots, in dem ich saß. Heruntergekommene Häuserblöcke zogen an mir vorbei, die von dreckigen und kaputten Straßen durchzogen waren. Ich war die einzige, die auf der Rückbank saß und keiner der beiden Männer vor mir sprach ein Wort. Ab und zu zuckten die Augen des Fahrers im Rückspiegel in meine Richtung, aber es war mir egal. Ich starrte mit ausdrucksloser Miene aus dem Fenster und wartete, bis wir an dem alten Schrottplatz waren, der perfekt zu dieser Gegend zu passen schien.
 
Nachdem ich beim FBI gewesen war, hatte mich Chips angerufen. Er war schnell und hatte tatsächlich etwas über den Herrscher herausgefunden. Er war vor etwas mehr als einem Monat aufgetaucht und hatte nach einigen Warnungen angefangen, Schutzgeld einzutreiben. Dafür hatte er sogar schon einige „Fußsoldaten", wie sie Chase genannt hatte, und meiner Meinung nach gewann er ziemlich schnell an Einfluss. Schon jetzt war er in den Vierteln gefürchtet und suchte seine Untertanen in den hiesigen Gangs, von denen es in dieser Gegend genug gab.
 
Doch das war alles nur oberflächliches. Mehr hatte nicht mal Chips finden können, allerdings hatten einige meiner Leute zwei der Fußsoldaten festgesetzt. Der Herrscher mochte schnell sein, aber ich war schneller. Gerade war ich auf dem Weg zu einem abgelegenen Schrottplatz, wo einige meiner Männer gerade damit beschäftigt gewesen waren, das Van Gogh-Gemälde in die Stadt zu schmuggeln. Sie waren von ihnen gestört worden und hatten sie dort festgesetzt. Als der Name „Herrscher" gefallen war, hatte Chips irgendwie davon Wind bekommen und mich kontaktiert.
 
Der Wagen fuhr gerade durch ein Tor auf das mit Maschendraht umzäunte Gelände. Dahinter türmten sich Berge aus Schrott. Unzählige ausgeschlachtete Autowracks standen herum, ich sah irgendwo eine alte Waschmaschine und überall waren verrostete Metallteile, bei denen man nicht mehr sagen konnte, was sie einmal gewesen waren oder wozu sie gehört hatten.
 
Nachdem wir so weit gefahren waren, dass man uns von der Straße aus nicht mehr sehen konnte, hielt der Wagen. Die Gänge zwischen den Schrottbergen wurden ohnehin zu schmal für ein Auto. Wir stiegen aus und gingen noch ein Stück durch das Labyrinth, bis wir vor einer dürftigen Überdachung aus morschem Holz und mit Moos überzogenem Wellblech standen. Einige der Autoleichen waren darunter abgestellt worden, doch es hatte ihnen nicht viel gebracht, da das Wasser durch jede Ritze kroch und sie mindestens genauso nass wurden wie ihre Kollegen unter freiem Himmel.
 
Zusätzlich standen darunter fünf meiner Männer und zwei weitere saßen auf kaputten Plastikstühlen, die sie vermutlich aus den Schrottbergen hatten. Ihre Arme waren mit rauen Seilen auf den Lehnen festgebunden. Als sie mich sahen, richteten sich die Fünf kerzengerade auf, wie man es beim Militär bei Autoritätspersonen tat.
 
Ich wandte mich an den Vordersten und ignorierte den Rest. „Haben Sie das Gemälde?"
 
„Ja, Miss DeLeón. Sie scheinen nicht danach gesucht zu haben."
 
„Was wollten sie dann hier?"
 
„Wir haben keine Ahnung. Als wir sie entdeckten, wollten sie uns erschießen, aber wir nahmen ihnen die Waffen ab. Seth Tosh sagte uns dann, dass wir auf Sie warten sollten." Es war ungewohnt zu hören wie über Chips mit seinem richtigen Namen gesprochen wurde.
 
„Was sagten sie über den Herrscher?", wollte ich weiter wissen.
 
„Nicht viel. Sie meinten, dass wir uns mit dem Herrscher anlegen würden, wenn wir sie nicht gehen ließen und verschwinden würden."
 
Ich nickte und ging zu den zwei Männern auf den Plastikstühlen. Es waren knapp die gleichen Wortlaute wie die Männer aus Chases Bar zum Besten gegeben hatten. Anscheinenden war dieser Herrscher niemand mit dem man sich anlegen sollte. Zumindest dachten das seine Untergebenen. Ein Grund mehr für mich es zu tun.
 
Ich stellte mich vor die zwei. „Wissen Sie wer ich bin?", fragte ich.
 
Sie sahen mich an. Sie wussten, dass ich diejenige war, die die Fäden in der Hand hatte. Ich hatte mit meinem Auftreten immerhin kein Hehl daraus gemacht. „Nein", antwortete einer von ihnen.
 
„Das sollten Sie aber besser", entgegnete ich, „Denn ich bin diejenige, die entscheidet, wie die Sache für Sie ausgeht. Sie sind nämlich in großen Schwierigkeiten, meine Herren." Ich ertrug ihre vernichtenden Blicke mit kalter Gelassenheit. Sie hatten keine Angst, da sie dachten, dass sie als Angehörige des Herrschers die besseren Karten hatten. Ich ließ ihnen die Illusion. Fürs Erste.
 
„Was wollten Sie hier?"
 
Der eine zuckte mit den Schultern. „Wir waren spazieren." Er grinste überheblich.
 
Unbeeindruckt atmete ich durch die Nase ein und wartete. Als er schwieg, zog ich meine Beretta und schoss ihm ohne eine Miene zu verziehen ins Bein. Er schrie auf.
 
„Vielleicht hilft das Ihrem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge", meinte ich genauso ruhig wie vorher.
 
„Wir wollten hier nur etwas holen und dann wieder verschwinden. Ich schwöre es!", sagte der andere daraufhin hastig, da er befürchtete, dass ihm das gleiche Schicksal blühte wie seinem stöhnenden Kumpanen.
 
„Und was wäre dieses Etwas?"
 
„Ein Paket. Mehr nicht. Wir wollten Sie nicht bei Ihren Geschäften stören. Wirklich!" Entweder er sollte den Van Gogh holen, wusste aber nichts weiter darüber oder er hatte tatsächlich keine Ahnung warum wir hier waren. Wenn das der Fall wäre, hätte jemand hier noch ein „Paket" versteckt.
 
„Und wo ist Ihr Paket?"
 
„In einem roten Autowrack etwa hundert Meter von hier. Es ist in der Motorhaube."
 
Ich drehte mich um, sah zu zweien meiner Männer und gab ihnen mit einer Gebärde den Befehl es zu suchen. Sie machten sich sofort auf den Weg.
 
Ich wandte mich wieder den Männern vor mir zu. „Was ist in dem Paket?"
 
„Ich weiß es nicht! Ehrlich! Bitte töten Sie mich nicht", winselte er.
 
Ich ignorierte sein Flehen und drehte mich zu dem Angeschossenen. „Was ist in dem Paket?", richtete ich die gleiche Frage an ihn.
 
„Ich weiß es nicht", presste er unter Schmerzen hervor.
 
Ich sah den anderen wieder an. „Wer hat Ihnen den Auftrag gegeben? Der Herrscher?"
 
„Nein. Wir haben eine Nachricht bekommen. Ich weiß nicht wer oder wo der Herrscher ist", beteuerte er. Er schob noch einmal ein Flehen um sein Leben hinterher, doch ich ging nicht darauf ein.
 
Stattdessen drehte ich mich um und sah, dass genau in diesem Moment zwei meiner Männer mit einer braunen Papiertüte zurück kamen, die oben verklebt war. Sie übergaben sie mir und ich riss sie auf. Darin war eine verknotete Plastiktüte und darin wiederum kleinere Tütchen in denen weißes Pulver war.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt