Knockin' at Heaven's Door | 1

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Ich schloss die Tür zu Cats Wohnung auf.

„Cat?"

Keine Antwort.

Zögerlich trat ich einen Schritt in den Flur. Seit sie überstürzt aus dem Leichenhaus gestürmt war, hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Das war vor zwei Tagen gewesen und heute morgen hatte ich beschlossen, zu ihr zu fahren und nach ihr zu sehen. Weil sie nicht auf mein Klingeln reagiert hatte, hatte ich den Schlüssel benutzt.

In ihrem Apartment herrschte eine gespenstige Stille. Von den Wänden ging eine seltsame Kälte aus, aber vermutlich bildete ich mir das nur ein. Genau wie Coles Anwesenheit, die mir einen Schauer über den Rücken jagte. Nicht, dass ich an Geister glaubte. Es war mehr sein Aftershave, das in der Luft hing, seine Jacke am Kleiderständer und seine Schuhe. Doch als ich nach unten sah, fiel mein Blick auf ein Stück Papier am Boden. Genauer gesagt ein weißer Umschlag ohne Adresse oder Absender.

Mein Herz blieb kurz stehen. Ich musste nicht hineinsehen um zu wissen, dass darin eine Tarot-Karte war. Panik schoss durch meine Venen und automatisch zog ich meine Beretta. Zwar hatte keinen blassen Schimmer, was diese Karten bedeuteten, aber in ihrer Symbolik lag eine stumme Drohung. Und dass Cole, der ebenfalls eine Karte erhalten hatte, jetzt tot war, war Grund genug mit meiner Waffe im Anschlag die Wohnung zu sichern. Glücklicherweise war ihr Apartment leer. Weder eine tote noch eine lebende Cat. Niemand. Ich wusste nicht, ob ich darüber froh sein sollte oder nicht. Ich könnte es nicht ertragen wenn noch mehr Freunde durch meine Schuld sterben mussten. Vor allem nicht Catalina.

Erst als ich sicher war, dass ich alleine war, ließ ich meine Pistole sinken. Ich stand jetzt im Wohnzimmer. Der kurze Kampf und die Spurensicherung hatten ein einziges Chaos hinterlassen und die Krönung war ein riesiger Blutfleck auf den Fliesen. Er war bereits getrocknet und daneben waren zusätzlich rote Schuh- und ein Paar Fußabdrücke. Letzteres war vermutlich von Cat, die Schuhabdrücke von den Sanitätern. Sie waren Spuren dessen, was hier passiert war. Schatten der Vergangenheit, die einen daran erinnerten, ob man wollte oder nicht. Es wunderte mich nicht, dass Cat es hier nicht ausgehalten hatte.

Ich seufzte. Sie hatte recht. Das alles war meine Schuld. Ich steckte meine Waffe zurück in meinen Hosenbund und ging wieder in den Eingangsbereich, wo mir ein Zettel auffiel, der auf der Kommode neben dem Eingang lag. Eigentlich genau im Blickfeld desjenigen, der die Wohnung betrat, trotzdem hatte ich ihn übersehen. Er war für mich. Ganz oben stand ein einzelnes J und ich erkannte Cats Handschrift. Auch wenn sie ein wenig krakeliger als sonst war, als wäre sie in Eile gewesen. »Musste für eine Weile hier raus und brauche eine Auszeit. Weiß nicht wann ich wieder komme. Bitte suche nicht nach mir. Cat«

Ich hob den Umschlag vom Boden auf und ging in die Küche. Die Mexikanerin hatte geahnt, dass ich nach ihr suchen würde und die Nachricht dort für mich platziert. Vermutlich war sie nach dem Besuch im Leichenschauhaus hier hergekommen, hatte einige Sachen zusammengepackt und war überstürzt wieder abgehauen. Wohin sie wollte, hatte sie wahrscheinlich selbst nicht gewusst.

Ich ließ mich auf einen Stuhl an ihrem Esstisch fallen und legte den Umschlag vor mich hin. Vermutlich war er erst unter der Tür durchgeschoben worden, als sie schon weg gewesen war. Der Täter hatte abgewartet bis die Spurensicherung die Wohnung freigegeben hatte, damit sie ihn nicht der Polizei übergeben konnten und er sicher Cat erreichte.

Ungeduldig riss ich den Umschlag auf und wie ich erwartet hatte, rutschte eine Tarot-Karte auf den Tisch. Dieses Mal war es „Gericht", Nummer 20. Darauf waren Särge abgebildet, die im Wasser schwammen. Männer, Frauen und Kinder standen in jeweils einem Sarg, hielten ihre Hände nach oben und sahen zum Himmel hinauf, wo ein Engel mit Trompete war. Sie stellte das jüngste Gericht dar.

Was zum Teufel hatten diese Karten zu bedeuten? Es machte keinen Sinn. Die Zahlen waren völlig durcheinander und die Bilder schienen keinen Zusammenhang miteinander zu haben. War sie eine Warnung, dass derjenige bald sterben würde? Aber ich war noch am Leben. Warum hatte ich dann ebenfalls eine erhalten? Passierte das alles zufällig? Oder war es genau geplant worden? Ich glaubte nicht an Zufälle. Vor allem nicht wenn sie einen Kontext hatten. Und das hier waren mir einfach zu viele Zufälle auf einmal. Das hier hatte Methode. Ich wusste nur noch nicht, was dahinter steckte. Oder noch viel wichtiger wer.

Für einen Moment legte ich den Kopf in den Nacken und starrte gegen die Decke. Dann fiel mein Blick auf das chaotische Wohnzimmer und den Blutfleck am Boden. Ich wollte mir nicht vorstellen, welche Tortur es für Catalina gewesen sein musste ihre Sachen zu holen und zwangsläufig hier vorbeigehen zu müssen. Schließlich konnte ich den Park of Arts kaum noch betreten ohne dass immer wieder das Bild von dem aufgespießten Evan vor meinem inneren Auge auftauchte. Wie musste es Cat dann gehen? Jetzt konnte ich gut verstehen, dass sie einfach nur noch weg wollte.

Ich legte meinen Hut auf den Tisch und band mir meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann ging ich in die Küche und suchte einige Putzutensilien, mit denen ich mich auf den Boden setzte und begann das Blut aufzuwischen, was schwieriger war, als ich dachte. Obwohl es Fliesen waren. Ich hatte zwar Erfahrung mit Blut, aber es war schon einige Jahre her, dass ich meine Sauerei selbst hatte wegmachen müssen.

Gerade wrang ich zum hundertsten Mal meinen Lappen aus, als mein Handy klingelte. Ich wischte meine Hand an einem Handtuch ab und nahm den Anruf an. „Ja?", fragte ich, da ich nicht nachgeschaut hatte wer es war.

„Hey", meinte Vincent.

„Oh, hey." Ich sah auf die Reste des Blutflecks und meine dreckigen Hände und fühlte mich irgendwie ertappt. Obwohl ich dieses Mal nicht dafür verantwortlich war. „Was gibt's?", fragte ich und versuchte dabei so unschuldig wie möglich zu klingen. Eigentlich völlig schwachsinnig, da ich Cat höchstens einen Gefallen tat.

„Wir haben Freitag. Ich habe gesagt, dass ich mich in einer Woche bei dir melden würde. Schon vergessen?"

„Um ehrlich zu sein, ja. Ich hatte viel um die Ohren."

Wirklich? Wir hatten schon Freitag? Ich hatte in den letzten Tagen völlig mein Zeitgefühl verloren. Nicht, dass seit Montag wichtig gewesen wäre welchen Wochentag wir hatten.

„Ich hoffe nicht mit deinen eigenen Nachforschungen."

„Was? Achso, nein. Es gab... Komplikationen. Ich habe einer Freundin geholfen." Mit meinem Handgelenk wischte ich mir über die Stirn.

„Alles in Ordnung? Du hörst dich irgendwie durcheinander an. Das kenn ich von dir gar nicht."

„Ja, ja", wehrte ich schnell ab und bemühte mich nicht zu angespannt zu klingen, „Alles bestens."

„Mhm." Er klang nicht sehr überzeugt. Aber was erwartete ich auch? Ich belog hier schließlich einen FBI-Agenten. Auf der anderen Seite war das nicht das erste Mal und würde auch sicher nicht das letzte Mal sein.

„Gibt es was Neues?", wechselte ich das Thema.

Er seufzte. „Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die Gute ist, dass wir die Männer gefunden haben, die uns im Bestattungsunternehmen angegriffen haben. Deine Kugel hat den einen am Kopf gestreift und wir haben ihn durch seine DNA gefunden. Die Schlechte ist, dass sie alle tot sind."

„Das ist eine schlechte Nachricht", bestätigte ich. Tot bedeutete keine Antworten. Gleichzeitig bedeutete es aber auch keine Gefahr mehr.

„Und wie geht es jetzt weiter?", wollte ich wissen.

„Gute Frage. Wir werden unseren restlichen Spuren nachgehen, aber die sind bisher immer im Sand verlaufen."

„Kann ich irgendwie helfen?" Ich wollte etwas tun. Ich konnte nicht länger daneben sitzen und nichts tun.

„Also wenn du schon so fragst, wäre da der ganze Papierkram..."

„Vince."

„Schon gut. Am besten hilfst du uns wenn du gar nichts tust."

Ich stöhnte auf. „Ernsthaft, Jordan. Du bist keine FBI-Agentin und ich würde das Risiko nur ungern wieder eingehen, dich in Gefahr zu bringen. Du weißt, was das letzte Mal passiert ist."

Dachte er, ich wäre einer der Angehörigen, die ganze Ermittlungen zerstörten, weil sie der Meinung waren „helfen" zu müssen, obwohl sie nichts ausrichten konnten? Vermutlich. Ich vergaß immer öfter, dass er keine Ahnung hatte zu was ich wirklich in der Lage war.

„Ich kann nicht einfach tatenlos herumsitzen", protestierte ich.

Er seufzte. „Ich kann mir vorstellen wie schwierig das ist, aber du tust damit niemanden einen Gefallen. Am wenigsten dir selbst." Ich hatte es satt zurückgehalten zu werden, weil es angeblich zu gefährlich für mich war. Das tat man schon mein ganzes Leben. Erst mein Vater, dann meine Brüder, später Geschäftspartner und jetzt er. Er mochte es zwar nur gut meinen, aber ich sah es nicht ein die Füße still zu halten.

„Dann gib mir wenigstens ein paar mehr Informationen. Ich weiß, dass du mir längst nicht alles erzählt hast."

„Du wirst keine Ruhe geben, oder?"

„Nein, werde ich nicht", meinte ich und erinnerte ihn noch einmal an meine Drohung vor einer Woche. Wenn er mir nicht half, würde ich es eben alleine machen.

Endlich gab Vincent nach. „Okay, okay. Wann hast du Zeit?"

„Morgen? Im Moment ist schlecht", sagte ich und sah hinunter auf meine Hand, von der das mit Wasser verdünnte Blut tropfte, „Du kannst bei mir vorbeikommen. Ich bin den ganzen Tag Zuhause. Soll ich dir meine Adresse schicken?"

„Spar dir die Mühe. Ich weiß wo du wohnst."

„Natürlich."

„Dann bis morgen." Er legte auf und ich ließ mein Handy sinken.

Hatte ich ihn gerade zu mir nach Hause eingeladen? Mir wurde erst jetzt die Tragweite dieser Entscheidung bewusst. Weniger aus einem logischen, sondern eher aus einem emotionalen Grund. Mein Apartment war mein Rückzugsort. Der Ort, an dem ich einfach ich sein konnte. Nicht „Jordan", nicht Kate DeLeón. Einfach Jordan Everton. Es war mein Zuhause. Der Ort, an dem ich mich sicher fühlte. Und ich hatte Vincent einfach so dazu eingeladen in meinen sicheren Hafen einzudringen. Obwohl „eindringen" vielleicht das falsche Wort war, schließlich war es mir, wenn ich genauer darüber nachdachte, nicht mal unangenehm. Was es für mich noch ungewöhnlicher machte.

Ich massierte mir die Schläfe. Alles geriet aus den Fugen. Und ich saß hier und musste machtlos dabei zusehen. 

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Ich saß auf meiner Dachterrasse und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Sie war mein absoluter Lieblingsplatz. Grund dafür waren die üppigen Pflanzen, die sich unter anderem ein Holzgestell hochrankten, das sich über nahezu die gesamte Fläche erstreckte. Sie schirmten einen von der Welt da draußen ab. Und wenn es dunkel wurde, konnte ich die Lichterketten anschalten, die zwischen den Rankenpflanzen herunterhingen und sich zu einem einzigen Lichtermeer verbanden. Vor mir auf dem Tisch lagen die drei Tarot-Karten und die Blätter der Kletterpflanzen warfen Schatten darauf, die langsam darüber krochen. Ich starrte seit einer Weile darauf, um herauszufinden was sie zu bedeuten hatten, aber mir fiel nichts ein, was sie bedeuten könnten. Es machte einfach keinen Sinn.
 
Ich rieb mir die Augen. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab und schließlich lehnte ich mich zurück und sah auf die Skyline der Stadt. Ich wusste nicht, was mit mir los war. Ich hatte keinen Hunger, konnte mich nicht konzentrieren und hatte diese Nacht kaum geschlafen. Letzteres war seit einer Woche nichts ungewöhnliches, aber dieses Mal hatte mich etwas anderes als Cole beziehungsweise Cat wachgehalten. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass ich nervös war. Aber weshalb? Das einzig ungewöhnliche an diesem Tag war, dass... Ich schüttelte den Kopf. Das war absurd.
 
Mein Blick fiel wieder auf die Karten. Der Magier, die Liebenden und das Gericht. Ich hatte ein wenig über Tarot recherchiert, war aber nicht wirklich auf etwas interessantes gestoßen. Tarot-Karten wurden hauptsächlich zum Wahrsagen benutzt. Ich glaubte nicht an solchen übernatürlichen Hokuspokus, weshalb ich mich nie wirklich damit beschäftigt hatte. Bis jetzt.
 
Die Karten, die vor mir lagen, waren aus dem Rider-Tarot, einer der verschiedenen Tarot-Decks, außerdem waren sie alle aus dem Großen Arkana, welches 22 Bildkarten waren, die von 0 bis 21 durchnummeriert waren. Jede Karte hatte eine eigene Bedeutung, aber die brachten mich nicht weiter. Ich hatte jeden einzelnen Zentimeter davon untersucht, mir die Zeichnungen genau angesehen und rein gar nichts gefunden. Es waren stinknormale Karten. Sie waren weder wertvoll, noch besonders. Es gab Hunderte von ihnen, aber diese waren aus einem bestimmten Grund dort hingelegt worden. Einen Grund, den ich nicht kannte, der mir aber wichtiger erschien als die Morde an sich. Sonst wäre jeder, der eine Karte bekommen hatte jetzt tot. Vermutlich dachte ich schlichtweg zu kompliziert. Aber es war nicht gerade meine Stärke einfach zu denken. 
 
Gerade als ich große Lust hatte die Karten einfach über das Geländer zu werfen, klingelte es an meiner Tür. Mein Herz blieb kurz stehen, ohne dass ich wusste warum. Mit einer schnellen Bewegung sammelte ich die Karten ein, ging nach drinnen und warf sie in die nächstbeste Schublade, die ich finden konnte. Vincent sollte nichts davon erfahren und vor allem sollte er nicht die mit Coles Blut verschmierte Karte sehen.
 
Dann hechtete ich zur Tür, atmete ein letztes Mal durch und öffnete sie.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt