Knockin' at Heaven's Door | 3

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Wir hatten uns schon einmal geküsst. Sogar mehr als das. Aber das hier fühlte sich trotzdem an, als wäre es das erste Mal überhaupt, dass er mich berührte. Das erste Mal, dass es nicht im Affekt geschah. Dass die Elektrizität, die schon die ganze Zeit zwischen uns geknistert hatte, durch mich hindurchfloss und sich meine Härchen im Nacken aufstellten. Seine Lippen waren wie eine Feder, die sich auf meinen Mund legte. Sanft und beruhigend. Ich schloss die Augen und kam ihm noch ein wenig näher. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich diese Nähe vermisst hatte. Die Art wie er sich anfühlte, wie sich seine Muskeln unter meiner Hand anspannten und wie er seine Hand auf meine Wange legte. Wie er schmeckte und wie er mich noch enger zu sich zog.
 
Der Kuss war sachte und vorsichtig, so dass jeder sofort hätte zurückweichen können, doch keiner von uns beiden dachte auch nur daran. Eigentlich dachte ich in diesem Moment an gar nichts. Und das zum ersten Mal seit Monaten. – Nein, zum zweiten Mal.
 
Ich verschwendete keine Zeit damit Luft zu holen. Sie schien völlig überflüssig zu sein. Ich legte meine Hand auf seine Brust und spürte sein Herz darin schlagen. Schnell und hart hämmerte es gegen seinen Brustkorb und bildete damit eine heftigen Kontrast zu seinem Mund, der sanft meine Lippen liebkoste. Und auf einmal wusste ich, dass das hier genau das war, was ich wollte. Ich wollte ihn. Das wurde mir endgültig bewusst. Und kein Job, kein Gesetz, rein gar nichts würde jemals etwas daran ändern können.
 
Doch die Zeitlosigkeit des Moments blieb nicht für immer und als sie nachließ, drängten sich Gedanken in mein Bewusstsein. Gedanken, die mich unruhig werden ließen und die ich mit aller Gewalt zu verdrängen versuchte. Vergeblich. Das schlechte Gewissen traf mich mit voller Wucht und die Atemlosigkeit schien auf einmal meinen Brustkorb zu zerdrücken. Ich keuchte. Behutsam versuchte ich ihn wegzudrücken, aber meine Hände waren die einzigen, die versuchten sich ihm zu entledigen. Ich spürte wie er zu zögern anfing und löste sich für eine Sekunde von meinen Lippen.
 
„Ich muss dir etwas sagen", presste ich hervor, drückte meinen Mund aber sofort wieder auf seinen. Es war als würden mein Kopf und mein Herz gegeneinander kämpfen. Ich wollte nicht, dass er aufhörte, aber ich wusste, dass ich ihm nicht länger verschweigen durfte, wer ich wirklich war.
 
„Hat das nicht Zeit?", fragte er und seine Lippen streiften erst über meinen Mund, dann über meine Wange und schließlich über meine Kehle. Die Berührung an der extrem empfindlichen Stelle war etwas seltsam intimes, aber ich ließ sie bereitwillig zu. Als er an meinem Hals angelangt war, lehnte ich meinen Kopf gegen seine Schulter, um der Versuchung zu widerstehen, wieder seine Lippen schmecken zu wollen.
 
„Nein, es gibt etwas, dass du..." Ich verstummte. Die Worte blieben mir im Hals stecken und leider hielt er endlich inne.
 
Er sah mich an. Meine Gedanken rasten und dass wir uns noch immer so nah waren, machte es nicht besser. „Was?" Seine Stimme war so weich, dass sie mich fast wieder vergessen ließ, warum ich uns unterbrochen hatte.
 
Doch die Angst um ihn holte mich schnell wieder zurück in die Realität. Ich wusste nicht wie er reagieren würde und wenn ich ehrlich war, wollte ich das auch gar nicht herausfinden.
 
„Habe ich etwas falsch gemacht?"
 
Ich presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Genau da lag das Problem. Er machte immer alles richtig. Er war einfach perfekt.
 
Schließlich schaffte ich es endlich mich von ihm loszureißen und stand auf. Ich musste ein wenig Abstand zwischen uns bringen, damit ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Auf einmal machte mir das alles Angst. Ich fühlte mich wie ein dummer Teenager. So grausam unerfahren.
 
Etwas unbeholfen wankte ich weg von dem Flügel und dem Schemel und setzte mich auf die Couch. Dort stützte ich meine Ellbogen auf meinen Knien ab und bedeckte mit meinen Händen mein Gesicht. Ich kämpfte gegen die Tränen an. Ich wusste, dass es falsch war, was ich gerade tat. So schrecklich falsch. Es war nicht ungewöhnlich, dass ich etwas schlechtes tat, aber das hier war etwas anderes. Hier ging es nicht um mich, sondern um ihn.
 
Ich hörte Vincents Schritte auf dem Steinboden. Er blieb einige Meter vor mir stehen. „Was ist los, hm?"
 
Ich fuhr mir durch die Haare, hielt meinen Kopf aber weiterhin gesenkt. Ich fühlte mich in die Ecke gedrängt. „Nichts", antwortete ich und musste mir Mühe geben das Zittern aus meiner Stimme herauszuhalten. Ich musste nicht aufsehen, um zu wissen, dass er mich ansah und auf meine richtige Antwort wartete.
 
„Ich kann das nicht", brach es schließlich aus mir heraus.
 
„Was?", hakte er nach.
 
„Das hier. Ich..." Ich linste zu ihm hoch und wünschte ich hätte es nicht getan. Verletztheit legte sich über seine Züge.
 
„Warum?" Er zwang sich, nicht enttäuscht zu klingen. Es gelang ihm nicht.
 
„Das kann ich dir nicht sagen."
 
„Verdammt, Jordan, nenn mir wenigstens einen Grund", verlangte er. Noch immer hörte er sich so schrecklich ruhig an.
 
„Weil ich..", setzte ich an, aber meine Stimme versagte. Ich verlor den Halt.
 
War es nicht genau das, was ich wollte? Ihn? Warum zögerte ich dann? Weil das Risiko zu groß war, dass er mein Geheimnis herausfand und mich dann einbuchtete? Es war schon gefährlich ihn nur in meiner Nähe zu haben, trotzdem hatte ich es zugelassen. Oder lag es an etwas anderem? Weil ich wusste, dass er Unrecht hatte? Dass ich ihn früher oder später enttäuschen würde? War es das? Ich hatte ihn die ganze Zeit auf Abstand gehalten und so verhindert, dass er mich besser kennenlernte. Dass er meine Schwächen kennenlernte. Meine schlechten Seiten. Denn davon hatte ich mehr als genug. Ich hatte ihn auf Abstand gehalten, da ich Angst hatte ihn zu enttäuschen.
 
Ich entschied mich schließlich für etwas, für das ich mich nur extrem selten entschied: Die Wahrheit zu sagen. „Ich will dich nicht enttäuschen." Sein Blick flog zurück zu mir und wurde augenblicklich wieder weicher. Mitfühlend ging er neben mir in die Hocke. „Das könntest du gar nicht." Er lächelte und hielt mir seine Hand hin. Sie hatte etwas tröstliches an sich. Genau wie der Rest von ihm. Obwohl er sich irrte.
 
Und sie war ein Angebot. Ein Angebot für ein Wir. Ein Angebot herauszufinden was passieren würde. Aber noch immer war ich wie erstarrt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Am liebsten würde ich einfach weglaufen. Und dann würde ich das tun, was ich am Besten konnte. Mich verstecken. Aber dann würde mich das schlechte Gewissen und noch etwas anderes, wesentlich Entscheidenderes, quälen. Etwas, das ich so noch nie gefühlt hatte. Und vor allem etwas, dessen Ausmaß ich noch nicht verstand. 
 
„Jordan, wann hast du das letzte Mal etwas für dich getan?"
 
Überrascht runzelte ich die Stirn. „Was?" Ich verstand seine Frage nicht.
 
„Wann hast du das letzte Mal etwas getan, dass nur du wolltest? Nicht wegen einer Verpflichtung, nicht wegen dem Job, nicht wegen jemand anderem. Nur wegen dir. Wann, hm?"
 
Stur starrte ich auf den Boden. Ich tat grundsätzlich nur das, was ich wollte. Dachte ich jedenfalls immer. In Wahrheit tat ich das, was mein alter Ego Jordan wollte. Es war schon eine Weile her, dass Jordan „Ever" Everton einmal an erster Stelle gestanden hatte. Genauer gesagt vor einigen Monaten, an einem Abend, der im Smith's begonnen und am nächsten Morgen in Vincents Apartment geendet hatte.
 
„Weißt du, was du damals getan hast?", sprach er weiter, „Ich glaube, du hast dich damals fallen lassen. Das erste Mal seit langem, wenn ich raten müsste."
 
Ich hatte mich fallenlassen. Das traf es ziemlich gut. Und etwas sagte mir, dass er nicht nur von mir sprach, sondern auch aus eigener Erfahrung. Irgendetwas sagte mir, dass es ihm an diesem Abend genauso gegangen war.
 
„Wann hast du das letzte Mal zugelassen, dass sich jemand um dich kümmert?", fuhr er fort.
 
„Und du?", fragte ich plötzlich.
 
Er ließ seine Hand sinken. „Was?" Irgendwie klang er ertappt.
 
„Was ist mit dir? Wann hat sich das letzte Mal jemand um dich gekümmert?"
 
Statt zu antworten, starrte er für einen Moment stirnrunzelnd Löcher in die Luft. Ihm war gar nicht aufgefallen wie sehr das, was er sagte, auch auf ihn zutraf. Wie sehr wir uns ähnelten. Und vor allem wie gut wir uns schon gegenseitig kannten.
 
Wenn man genauer hinsah, waren wir lange nicht so verschieden wie ich anfangs gedacht hatte. Genau wie ich war er nicht gerade der offenste Mensch, er beherrschte lediglich die Kunst offen auf andere zu wirken, was vermutlich auch an seinem Job lag. Und anscheinend hatte auch er zusammen mit seinem besten Freund Dean Nolan einen klitzekleinen Drang gegen Vorschriften zu verstoßen.
 
„Ich glaube keiner von uns beiden ist perfekt", brachte er es schließlich auf den Punkt, „Aber ist das nicht der Sinn der Sache? Zu akzeptieren, dass der andere eben nicht perfekt ist."
 
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er lächelte und mir wieder seine Hand anbot. Doch dieses Mal war etwas anders. Etwas in seinem Blick. Ich sah Verletzlichkeit. Verletzlichkeit, die er mir anscheinend ohne weiteres anbot. Doch ich wusste es besser. Ich konnte zumindest erahnen, wie viel Überwindung ihn das kostete. Er meinte es wirklich ernst.
 
Ich sah ihn endlich an.
 
Und tat ein Mal nicht das, was für mich, andere oder meine Organisation das Richtige war, sondern das, was ich wollte. Ich ließ mich fallen. Ich wusste, dass ich vermutlich einen riesigen Fehler machte. Dass es alles andere als gut ausgehen würde. Dass es mir und vor allem ihm das Herz brechen und mich vermutlich sogar ins Gefängnis bringen würde.

Ich wusste das alles. Doch es war mir egal.

Criminal - Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt