Kapitel 14

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„Bildung ist das, was die meisten empfangen, viele weitergeben und wenige haben." ~Karl Kraus

Ein schöner Fühlingstag; Sonnenlicht durchflutete das Zimmer, obwohl die Rollläden zur Hälfte heruntergelassen wurden.
Von irgendwoher waren laute Stimmen zu hören, sie schrien und tobten, stritten sich.
Ein junges Mädchen sitzt im Schneidersitz zusammengekauert auf einem ungemachten Bett und hält sich die Ohren zu.
Um die Stimmen und das Geschrei ihrer Eltern auszusperren, um die ganze Welt auszusperren...

Ein Mann brüllte seine Tochter an und schwenkte ein Stück Papier in der Luft, bevor er es mit einem bedrohlichen Klatschen auf den Tisch knallte, dicht gefolgt von seiner geballten Faust.

Ein kleines Mädchen stößt am Frühstückstisch ihr Glas Milch um. Ihr Vater rastet vollständig aus; die Kleine bricht sofort in Tränen aus und rennt die Treppe hoch.

Finja spürte, dass sie träumte, aber irgendetwas war anders; war falsch.
Der Traum fühlte sich viel zu echt und lebendig an.
Ein Strudel aus Erinnerungen; Vergangenheit und Gegenwart, drohte sie zu überwältigen.
Sie fühlte sich schrecklich: die ganze Zeit kamen diese Bilder aus ihrer Kindheit zurück; Angst und Hoffnung, Enttäuschung, Verzweiflung, Zorn und Schmerz.
Finja schien in diesen Erinnerungen, in ihrem Kopf festzustecken...
Und auf einmal war es vorbei.
Sie saß kerzengerade und schweißnass in ihrem zurechtgemachtem Bett im Wohnzimmer, und konnte zunächst keinen Muskel rühren.
Die Gestalt, die nur wenige Meter von ihr entfernt unbeweglich auf einem Sessel saß, bemerkte sie erst nach einigen Sekunden.
Sofort leuchteten alle Alarmsignale und Finja sprang auf die Beine, bis sie merkte, dass das nur Jakob war.
Er starrte sie an, seine Augen bewegten sich nicht, irgendwie machte er Finja Angst.
„Schrei mich ja nie wieder so an, Finja. Ich warne dich nur einmal: das erste und das letzte Mal. Solltest du nochmal meine Autorität auf diese Weise untergraben, wird das bedeutende Konsequenzen für dich haben", meinte er in seiner üblichen geschwollenen Redensart.
Allerdings klang Jakobs Stimme so gelangweilt, als würden sie sich über etwas so Banales wie das Wetter unterhalten, und nicht über Drohungen.
„Jakob, was ist gerade passiert? Was meinst du damit? Doch nicht etwa, dass ich dir gestern Mal gesagt habe, was Sache ist, oder?"
Jetzt lächelte der Jüngere diabolisch.
„Ich denke, du hast schon eine kleine Kostprobe dieser Konsequenzen zu spüren bekommen, also nimm dich in Acht."
Die Erinnerungen!
Das war er. Aber wie ging das?!
Finja musste wohl einen ziemlich verwirrten und verstörten Eindruck gemacht haben, denn Jakob lachte leise und fuhr fort: „Ich hab etwas in deinem Kopf gekramt, in vergangenen Zeiten. Schließlich ist das Zeitreisen meine Spezialität."
Das Schlimmste daran war Jakobs verschlagenes kleines Lächeln, das Finja auf die Palme brachte.
„Wieso tust du so etwas? Ich dachte wir hätten unsere anfänglichen Probleme hinter uns gelassen?"
Jakob zog scharf die Luft ein, sagte aber nichts, sondern stand nur in einer einzigen geschmeidigen Bewegung auf und ging Richtung Treppe.
Sein diffuses Verhalten bereitete ihr schon etwas Sorge. Aber vor allem machte er ihr eine Heidenangst.
„Was willst du eigentlich von mir?! Du bist doch nur ein kleiner Junge, wie alt bist du? 15? Dabei spielst du dich hier so groß auf wie..."
„Ich bin 145."
„Du... was?!"
Das Lächeln des Dunkelhaarigen wurde nur noch breiter. Ein hässliches Motiv versteckt hinter einem schönen Gesicht.
„Du dummes Kind! Du weißt gar nichts! Nichts von den Schrecken dieser Welt oder den Menschen in ihr. Also hör lieber auf mich."
Jakob drehte sich nochmal kurz um, zog eine Augenbraue höhnisch hoch (bestimmt zupfte er sie jeden Morgen vor dem Spiegel), und betonte noch mal:
„Meine letzte Warnung."
Mit diesen Worten war er verschwunden.

Finja konnte nach dieser nächtlichen Begegnung nicht mehr einschlafen, sondern lag geschlagene zwei Stunden hellwach auf der Couch, weshalb sie beim Frühstück am nächsten morgen entsprechend müde war.
Sie aß gerade einen Marmeladentoast, als Theia in die Küche kam und ihr einen kleinen Zettel in die Hand drückte.
Neugierig hielt Finja inne und las was darauf stand:
Hokuspokus
Was hatte das zu bedeuten?
„Ist das ein Zauberspruch? Muss ich den aufsagen?", fragte sie verwirrt.
Billy und Lilie neben ihr fingen lauthals an zu lachen, und auch Theia lächelte amüsiert.
„Nein, das ist das WLAN-Passwort.", grinste sie.
Oh, irgendwie unspektakulärer als erwartet.
„Zauberer benutzen so etwas? Also solche technischen Geräte?"
Theia, die gerade ihre Tasse mit Tee angesetzt hatte, nickte nur abwesend; stattdessen antwortete Lilie:
„Natürlich, was denkst du denn? Dass wir alle so Hinterwäldler ohne Strom und Internet sind?"
Sie klang nicht verärgert, nur belustigt. Finja wurde noch zu einer WhatsApp Gruppe namens ,Die superduper Unglaublichen' (sie konnte sich schon denken, wer sich diesen Namen ausgedacht hatte) hinzugefügt.
Lilie hatte ihre riesige Müslischale zu Ende gegessen, und stellte sie in die Spüle.
„Wer ist eigentlich dran mit Abspülen?"
„Du.", antwortete Billy mit vollem Mund. Er aß wie Finja auch Toast; allerdings hatte er sich gleich vier Stück auf den Teller geladen.
„Oh, wirklich?", nachdenklich betrachtete sie den Berg an schmutzigem Geschirr, drehte sich dann weg und murmelte: „Das mach ich später...", dabei ignorierte sie geflissentlich Theias missbilligende Blicke.
Lilie überprüfte ihr auffälliges Make-Up in einem Handspiegel und schien sehr zufrieden darüber zu sein.
Auch heute war die junge Frau sehr speziell gekleidet, aber Finja musste zugeben, dass ihr neonfarbenes Outfit sehr gut aussah; vor allem im Vergleich zu Billy und Theia, die noch im Schlafanzug dasaßen, und Finja, die in ihren Klamotten geschlafen hatte.
Lilie schien ihre Gedanken gelesen zu haben, denn sie verkündete, dass Finja sich ruhig ein paar Klamotten ausleihen könne.
Bevor Finja etwas erwidern konnte, kam Jakob rein. Auch er war schon angezogen und schaute missmutig in die Runde, bevor er sich stumm daran machte, Essen vorzubereiten.
Finja hatte unbewusst die Luft angehalten; wie würde Jakob reagieren, und würde er sie wieder auf letzte Nacht ansprechen?
Aber der Junge bleib stumm, und beachtete Finja auch nicht weiter.
Die Gespräche in der Küche gehen weiter, niemand schien eine Angespanntheit zu spüren, aber vielleicht bildete Finja sich die nur ein.
Schließlich kam noch Saki in die Küche gestolpert, wobei sie beinahe hingefallen wäre. Das Mädchen sah aus, als wäre sie gerade erst aufgestanden, und Jakob stellte das Essen, das er vorbereitet hatte (Haferbrei mit kleingeschnittenen Äpfeln) auf den Tisch vor Saki. Sie bedankte sich leise und fing an zu essen. Jakob selbst schien sich morgens nur von schwarzen Kaffe zu ernähren, und ließ seine schwarzen Augen über die Runde wandern, wobei sie auffällig oft auf Finja ruhten.
Endlich waren alle fertig: satt, angezogen und bereit zu gehen.
Kurz bevor sie das Haus verließen, überprüfte Finja nochmal im Wohnzimmer ob sie auch wirklich alles dabei hatte; wobei sie ihre Routine sogar etwas abkürzte.
Zu Finjas Überraschung gingen sie wohl zu Fuß.
„Habt ihr kein Auto?"
„Ne...", meinte Billy entspannt.
„Aber keine Sorge, zu Taio, Lilies Bruder, ist es nicht so weit."
„Könnte Jakob und nicht einfach dahin beamen?"
Da gab Jakob zum ersten Mal an diesem Morgen einen Laut von sich: ein abfälliges Schnauben.
Etwas anderes hatte Finja von ihm aber auch nicht erwartet. Ganz eindeutig war er kein Morgenmensch.
„Ich beame nicht, ich teleportiere, und ich tue es nicht allzu häufig, denn es erschöpft einen sehr, außerdem werden dadurch die Magiespeicher überlastet.", sagte er hoheitsvoll.
„Aha."
Keine zwei Minuten später, standen sie vor einem großen Mehrfamilienhaus mit mehreren Wohnungen.
Lilie legte den Zeigefinger auf ein Klingelschild mit der Aufschrift ,Abara', da musste also ihr Bruder leben.
Lilie zögerte noch kurz, und sagte mit einem unsicheren Gesichtsausdruck:
„Also mein Bruder, er ist ein bisschen... also er ist...Autist, nur damit du dich nicht wunderst?"
Finja nickte verständnisvoll und Lilie klingelte.

Taios Wohnung war sehr aufgeräumt und sauber, das war das erste was Finja auffiel.
Taio selbst sah fast genau so aus wie seine Schwester, nur mit normaler Kleidung.
Er begrüßte an der Eingangstür, er schaute zwar keinem in die Augen, aber er nickte jedem von ihnen zu, nur bei Lilie erlaubte er eine kurze Umarmung.
Finja sagte sanft „Hallo."
„Hey Taio, wir bräuchten mal kurz deine Begabung. Du siehst Finja hier, ist neu dabei, also...", begann Billy in einem Tonfall, der wohl ermutigend sein sollte, aber auf Taio wohl eher zu laut und aufdringlich wirkte, denn er zog kurz die Schultern hoch und wippte etwas auf den Füßen als wäre ihm die Situation unangenehm.
Finja fragte sich ob Billy sehen konnte, wie sich Taio fühlte, aber sie glaubte wohl eher nicht.
Dann sagte Taio sein erstes Wort:
„Schatten."
Seine Stimme klang überraschend weich, auch wenn Finja den Sinn dahinter nicht verstand.
„Und Energie."
Das erzielte jetzt eine größere Reaktion:
Jakob und Theia zogen gleichzeitig scharf die Luft ein und Lilies Blick wurde schärfer und richtete sich auf Finja.
Verwirrt wandte sich diese an Billy.
„Was heißt..."
„Taio kann die Fähigkeiten anderer Mentiker sehen, er weiß wer was kann. Und du hast anscheinend Schattenmagie, was relativ häufig vorkommt. Aber auch Energie, reine Energie, was eher.... seltener ist. Sehr seltener.", erklärte ihr Billy. Seine Stimme klang irgendwie anders; nicht mehr so locker, sondern eher kalt, aber auch interessiert.
Jetzt trat auch Jakob vor, in seinem Gesicht konnte Finja Verwunderung und sogar etwas Bewunderung lesen.
„Finja, ich denke, dass wir dank dir, der Lösung unseres Problems erheblich weiter gekommen sind."
Sie besaß eine seltene Art der Magie? Der Macht?
Na, das wurde ja immer besser.

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