Kapitel 17

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„Er ging in sich. Kein Wunder, dass er sich verlief." ~ Dieter Leisegang

Sie mussten Taios Wohnung ziemlich überstürzt verlassen. Einmal da die anderen in heller Aufruhr waren und schnell Informationen zu den Energiewerfern sammeln mussten. Was auch immer das heißen mag.
Aber auch weil sich Taio ganz offensichtlich unwohl bei der Aufregung fühlte. Er hatte sich die Hände auf die Ohren gepresst und starrte nur den Boden an.
Finja tat der junge Mann leid, wie er da verängstigt in seiner eigenen Wohnung stand, und auch Lilie schien -als einzige- das Bedrängnis ihres Bruders zu bemerken.
Sie holte eine Tafel Schokolade aus einer der vielen Taschen ihrer Jacke und gab sie Taio. Zum ersten Mal strahlte er und umarmte seine Schwester sogar zum Abschied nochmal.
Zwar nur kurz, und er zuckte nach einpaar Sekunden gleich wieder zurück, doch Finja konnte an Lilies Gesicht sehen, dass das schon etwas Besonderes war und sie sich freute.
Aber sie sah auch Sorgen in den Gesichtszügen der Dunkelhäutigen; fort war die immer lächelnde, unbeschwerte Lilie.
Schließlich gingen alle wieder das Treppenhaus hinunter, auf die Straße, während Jakob und Theia über irgendeine Bibliothek diskutierten.
Jetzt wollte Finja aber auch endlich wissen, worum es ging.
Was für eine Bibliothek und was waren Energiewerfer denn jetzt schon wieder?
Sie hatte es satt, dass die anderen immer an ihr vorbeiredeten und sie als Letzte alles erfuhr, dabei betraf sie die Sache jetzt sogar persönlich. Mehr als jeden anderen in ihrer kleinen Gruppe.
Außerdem kam ihr dieses schnelle Verlassen der Wohnung viel zu sehr wie eine Flucht vor. Nur... eine Flucht vor was?
„Was sollte das? Wieso macht ihr denn so einen Aufstand?"
Billy sah sie mit unergründlichen Augen an. Auch in seiner Mimik und in seinem Verhalten hatte sich etwas verändert: Anscheinend war die Sache doch sehr bedeutend.
„Finja, deine Kraft, das Werfen von reiner Energie, ist sehr selten. Ich glaube es gab schon seit 200 Jahren keinen mehr, der das konnte.", antwortete er mit tiefer Stimme.
Oh ganz toll; jetzt soll ich wahrscheinlich die Welt retten, oder was?
„Du könntest uns alle retten, Finja: du könntest die Lösung sein!", warf Jakob auf einmal ein. In seinen dunklen Augen glitzerte etwas auf. Vielleicht Neugierde. Oder Hoffnung.
Finja hatte das Gefühl, dass sich seine Meinung von ihr in den letzten Minuten sehr verbessert hatte.
So oder so war das auch egal, schließlich hatte Finja keine Ahnung wie sie diese Kraft beherrschen sollte. Sie konnte ja kaum einen Ball geradeaus werfen, von Energie ganz zu schweigen!
Genau das sagte sie auch.
Theia, wie immer die Ruhe in Person, wenn auch ihre Haltung sich minimal versteift hatte, sagte mit einem leichten, etwas unsicheren Lächeln: „Deshalb brauchen wir ja auch soviel Informationen wie nur möglich, Kleines."
„Na dann mal los", meinte Saki heiter und hüpfte schonmal los. Sie schien die einzige zu sein, die das nur aufregend und nicht erschreckend fand.
Finja beneidete sie dafür.
Sie hatte plötzlich immense Angst. Was würde wohl geschehen? Würde alles gut ausgehen, oder würden alle sterben?
Wäre ihr Leben ein Märchen, wüsste sie dass alles gut ausgehen wird.
Aber das Leben war kein Märchen und das musste auch Finja endlich einsehen.
Mit etwas mehr Entschlossenheit folgte sie ihren neuen Freunden ins Ungewisse.
Hätten sie alle etwas besser aufgepasste, wäre ihnen die kleine, dunkle Gestalt auf der anderen Straßenseite aufgefallen, die sie die ganze Zeit beobachtet hatte. Aber sie bemerkten sie nicht und die Rebellen bekamen einen Spion.

Wie sich herausstellte mussten sie in die Stadtbibliothek in Ostend. Diesmal nahmen sie aber die U-Bahn, und Billy und Lilie erklärten Finja auf der ganz Fahrt abwechselnd, dass sich die Mentiker so ungefähr überall wo die Menschen waren, auch niedergelassen hatten, was bedeutete, dass es an fast allen öffentlichen Orten, die Finja kannte eine sogenannte „versteckte Ebene" gab, hinter der die Mentiker sich ihre Welt aufgebaut hatten.
Und deshalb fuhren sie jetzt in die Bücherei.
Dort angekommen ging Jakob zielstrebig in den hinteren Teil des Gebäudes.
Finja bildete sich ein, dass alle anderen Gäste sie anstarren, was aber natürlich Quatsch war, denn niemand beachtete sie. Sie fragte sich auch wo sie hingingen, denn als Finja das letzte Mal in der Bibliothek war, gab es dort keine Literatur über Zauberer oder die Apokalypse.
Und plötzlich stand Finja in einem völlig fremden Teil der Bücherei.
Es war als wäre sie durch einen unsichtbaren Vorhang gegangen.
Billy neben ihr lachte leicht, als er denn verwirrten Ausdruck in ihrem Gesicht sah:
„Man kommt nur in unseren Teil, wenn man weiß, wie. Genauer gesagt wenn man überhaupt von diesem Ort Kenntnis hat. Was ja jetzt auch für dich gilt."
Ah ja.
Die Truppe verteilte sich auf die Regale um nützliche Bücher zu suchen, und auch Finja machte sich daran einige der Titel zu entziffern.
Die vier Elemente-Ein Handbuch für Element-Mentiker
Wie kann ich meine Magiespeicher schützen und bewahren?
Viele Möglichkeiten für Gestandwandler
Gestandwandler? Was es alles gab...
Während sie in der Bücherei suchten, schien sich die Luft irgendwie zu verändern.
Sie war aufgeladen und juckte und zuckte auf der Haut; es fühlte sich an wie kurz vor einem Gewitter.
Dabei ist heute doch ein schöner Tag, vorhin war keine Wolke am Himmel...
Schlagartig wurde es dunkel und Finja spürte, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte.
Erschrocken und schon das Schlimmste befürchtend drehte sie sich um; doch zum Glück war es nur Billy, der sie mit finsterer Miene anstarrte und in Richtung der anderen zerrte.
Lilie, Jakob, Theia und sogar Saki hatten sich ganz professionell in Kampfhaltung hingestellt. Sie waren ganz still, wie Raubtiere die ihre Beute ausfindig machen wollten.
Also hatten Finjas Gefühle sie doch nicht getäuscht: Irgendetwas stimmte nicht.
Mal wieder.
„So, hat jemand einen Plan?", fragte Billy in die Runde und tänzelte dabei elegant von einem Fuß auf den anderen.
„Nicht wirklich....", meinte Theia, die Rücken an Rücken mit Lilie stand.
„Dasselbe wie immer: kämpfen.", warf Lilie ein.
Finja bemerkte, dass Jakob sich schützend vor Saki gestellt hatte, obwohl die junge Asiatin es wohl kaum erwarten konnte endlich zu kämpfen.
Wieso gibt es hier eigentlich keine Aufsicht?, schoss es Finja unwillkürlich durch den Kopf, doch dieser Gedanke wurde rasch davon vertrieben, dass fünf Personen mit einem unglaublich lauten Geklirre von zersprengendem Glas durch die Fenster der Bücherei stürzten.
Finja konnte nicht anders als laut aufzuschreien, als um sie herum auch schon der Kampf ausbrach.
Ach du Scheiße
Die Eindringlinge bestanden aus zwei Frauen und drei Männern, so viel konnte sie erkennen.
Aber nicht nur das, sondern auch, dass sie eine der Frauen ganz bestimmt kannte: Das war Sasja, ihre -jetzt wohl ehemalige- Kollegin aus diesem verdammten Elektroladen!
Was macht sie denn hier?
In dem Moment schleuderte Sasja Saki quer durch die Luft, sodass das Mädchen gegen ein schweres, aus dunklem Holz bestehendes Bücherregal krachte und zu Boden sank. Doch schon im nächsten Augenblick stand sie wieder und warf sich in das Getümmel.
Achso, das macht Sasja hier.
Jakob musste währenddessen immer wieder einem jungen blonden Mann mit einer Pistole ausweichen, die der Unbekannte auf den Jungen gerichtete hatte. Jakob verschwand immer wieder, und tauchte woanders wieder auf, um den tödlichen Schüssen zu entkommen.
Finja begriff, dass er teleportierte und sie war seltsam begeistert davon; auch wenn die Situation gerade nach anderen Prioritäten verlangte.
Theia und Lilie dagegen kämpften mit Magie gegen eine junge Brünette: Lilie wirbelte in unzähligen Radschlägen und Schrauben und Rollen durch die Luft und warf dabei auch noch Flugsterne! Doch die junge braunhaarige Frau wich diesen aus, auch sie konnte sich teleportieren.
Schließlich gelangte es Theia ihr einen starken Wasserstrahl entgegenzuschleudern, der sie aus dem Konzept brachte, sodass sie hinfiel und tatsächlich von einem von Lilies Wurfsternen am Oberschenkel verletzt wurde.
Billy derweil ließ seine Messer wie leuchtende todbringende Sterne aufblitzen und lieferte sich einen Schwertkampf mit einem braunhäutigen Mann, der ein riesiges Schwert erschreckend leicht durch die Luft manövrierte.
Der einzige, der genauso verängstigt und nutzlos etwas vergessen am Rand stand, war ein südländisch aussehender Typ, der versuchte sich auf der anderen Seite der Bücherei ganz klein zu machen.
Ganz offensichtlich war er genauso verängstigt, wie Finja sich fühlte.
Billy und sein Kampfpartner waren ihr ganz nahe gekommen, und sie bekam gerade noch so mit, wie es dem Unbekanntem gelang Billy eins von seinen Messern aus der Hand zu schlagen.
Nutzlos fiel es klirrend zu Boden und rutschte noch ein Stück weiter; Finja direkt vor die Füße.
Das musste doch ein Zeichen sein!
Entschlossen, aber mit zitternden Händen, nahm sie das Messer in beide Hände und hielt es ungeschickt von sich weg.
Finja hatte gar keine Ahnung von korrekter Waffenführung oder so etwas, aber Billy brauchte ihre Hilfe: Ohne das zweite Messer fehlte ihm augenscheinlich das Gleichgewicht und er konnte nur schwerfällig kämpfen.
Sein Gegner lachte schon triumphierend, als Finja losstürmte um ihm die Klinge in den Nacken zu rammen.
Der Unbekannte dreht sich im letzten Moment um und hob instinktiv schützend den Arm vor das Gesicht, sodass das Messer einmal quer durch seinen gesamten Oberarm ging.
Durch Finjas Schwung drehten sich die beiden noch etwas; jetzt steckte die Spitze des Messers sogar in einem der Bücherregale!
Dass Finja bei ihrer Aktion Billy nicht aus Versehen enthauptet hatte, war ja schon bemerkenswert, aber dass der andere Mann tatsächlich feststeckte-denn das Messer ließ sich kein Stück mehr bewegen- grenzte ja schon fast an ein Wunder!
Der Unbekannte schrie auf- vor Schmerz oder vor Wut- konnte sie nicht sagen, aber es war ihr auch egal, und dunkelrotes Blut quoll aus seinem Arm, es lief über das gesamte Regal und tropfte auf den Boden.
Finja blieb nur ein Augenblick um sich über ihren Erfolg zu freuen; da stand auch schon Sasja vor ihr und grinste sie an.
„Hi, Finja."
„Ähm...Hi?" Finja war so über diese Begrüßung verwundert, dass ihr nichts anderes einfiel.
„Schöner Tag heute, ode-?", den Satz schaffte sie nicht ganz zu Ende, denn Jakob war ihr auf den Rücken gesprungen und versuchte ihr nun das Genick zu brechen.
Mit einem Schrei schleuderte Sasja Jakob mit Hilfe der Luft von sich und er segelte ein paar Meter, bis er -wahrscheinlich von Lilie- aufgefangen und behutsam auf dem Boden abgesetzt wurde.
„Sasja, warum tust du das?"
„Was denn, meinst du die Welt zu verbessern?"
„Nein, zu zerstören!"
Sasja lachte bei diesen Worten leicht auf.
„Wir zerstören hier gar nichts. Eher retten wir die Menschheit vor sich selbst! Nur die besten werden überleben, und dann wird alles gut. Also wirklich, Finja, schaust du keine Nachrichten?"
Natürlich schaute sie Nachrichten, aber nur weil die Menschheit mal wieder die schlechtesten Entscheidungen traf, bedeutete das doch nicht, dass man sie einfach auslöschen darf!
„Sasja, hör zu: Es ist noch nicht zu spät. Ich weiß nicht, was dir widerfahren ist, um dich von dieser Meinung so zu überzeugen, aber du kannst es besiegen! Es liegt in deiner Hand! Dir kann verzeihen werden, wenn du jetzt aufhörst!"
Sasja hatte ihr aufmerksam zu gehört.
„Nein, ich denke eher nicht. Ich hab schon viel zu viel darein gesteckt um ausgerechnet jetzt aufzuhören!"
Da wurde Finja wütend; sehr wütend.
Was bildete sich dieses Mädchen ein? In ihrer Wut und in ihrem Hass will Sasja die ganze Welt zerstören; dabei waren Menschen wie sie das eigentliche Problem der Erde: Zu festgefahren und blind in ihrer eigenen Dunkelheit um ihren verheerenden Platz in alldem zu sehen.
Finja spürte wie sich eine Kraft in ihr aufbaute und mit jedem Herzschlag durch ihren Körper gepumpt wurde.
Es wurde immer stärker und stärker, bis...
Finja schien zu explodieren.
In Wahrheit ging von ihr nur ein kraftvoller Energiestrahl aus, der Sasja einmal quer durch die Bibliothek warf.
Die Kämpfe um sie herum haben aufgehört.
Alles war still.
Dann trat die Brünette vor und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Verwunderung. Und Angst.
Noch nie hatte jemand vor Finja Angst gehabt.
„Nein,...", flüsterte sie. „Das kann nicht sein..."
Dann weiteten sich ihre Augen und sie rief ihren Kameraden zu:
„Rückzug!"
Wie auf Knopfdruck flüchteten die Angreifer (Jakobs Gegner half Sasja auf und Finjas Opfer hatte es inzwischen geschafft sich das Messer aus dem Arm zu ziehen).
Niemand hielt sie auf.
Finjas Freunde waren viel zu verwundert über ihre entdeckten Kräfte.
Denn das musste das sein. Das Energiewerfen.
Ach du Scheiße.

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