Kapitel 18

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„Ein langweiliger Mensch: jemand, der redet, wenn ich gerade sprechen will."
~ Julian Tuwim

Holy Shit! Das war ja mal krass. Wie du die Tusse einfach so durch die Luft geworfen hast, echt klasse!", rief Billy während sie wieder durch die Bücherei Richtung Ausgang liefen.
Finja fühlte sich seltsam betäubt und erschöpft, als wäre sie gerade aus einer Narkose aufgewacht. Aber wahrscheinlich war das normal; schließlich hatte sie gerade fast ihre gesamte Energie aufgebraucht, wie ihr Theia mit einem mitfühlendem Blick erklärt hatte, während sie und Lilie die erschöpfte Finja wieder auf die Beine stellten.
Vor lauter Anstrengung wäre sie beinahe gestolpert und hingefallen, wenn Theia sie nicht geistesgegenwärtig am Arm gepackt und aufrecht gehalten hätte; seitdem lief die Araberin dicht an ihrer Seite.
Billy lief immer noch vorne raus und lobte Finjas neugefundene Kraft, Saki hüpfte begeistert hinter ihm her und stimmte dem Blonden zu; selbst Jakob warf Finja bewundernde Blicke über die Schulter zu, schwieg aber sonst.
Alle schienen von Finjas Kräften begeistert zu sein; nur sie nicht.
Das kann doch alles nicht wahr sein!
Sollte sie jetzt etwa die Welt retten?! Die anderen verhielten sich zumindest so als würde sie dieser Aufgabe gewachsen sein...
Doch das war sie nicht! Herrgott, sie konnte ja noch nicht mal Nudeln abkochen! Wie sollte sie schon die Welt retten? Oder auch nur einwenig zu ihrer Rettung beitragen?
Finja fühlte bis aufs Letzte ausgelaugt, bestimmt müsste man Jahre trainieren, um seine Kräfte zu kontrollieren und so gut kämpfen zu können, wie ihre Freunden.
Theia hatte es zwar vorhin nicht erwähnt, aber sie wusste, dass sie sich mit diesem Energieschub auch hätte umbringen können. Sie hatte es in den gutmütigen Augen der älteren Frau gelesen.
Da kam Finja ein anderer Gedanke:
Wie viele Tage haben wir eigentlich noch...?
Bei ihrem Glück würde die Zeit nicht mal ausreichen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Bei all diesen wenig aufbauenden Gedanken, tat Finja das einzige was ihr einfiel: sie ging zu dem Ort, der ihr immerhin noch einwenig Halt gab; ihr Zuhause.
Entschlossen schritt sie an Billy vorbei, der sie jetzt verblüfft ansah, stieß die Eingangstür der Bibliothek auf und machte sich auf den Weg zur U-Bahn.
„Äh... Warte mal; wo willst du denn hin.", hörte sie hinter sich Lilie rufen, auch sie klang verwirrt.
Finja drehte sich um: „Ich... Ich muss kurz nach Hause. Äh... einpaar Sachen holen."
„Na da können wir doch mitkommen, auf dem Weg können wir dann gleich den weiteren Plan besprechen.", schlug Saki munter vor.
Verdammt! Eigentlich mochte sie das aufgeweckte Mädchen, aber diese schien nicht zu verstehen, dass sie lieber allein sein wollte, und den ganzen Druck am liebsten vergessen wollte.
Die anderen stimmten fröhlich mit ein und folgten ihr schließlich.
Nur Theia und Jakob sahen so aus, als würden sie Finjas Zwickmühle erkennen; sagten aber nichts, so wie Finja, die viel zu nett war, als dass sie ihren neuen Freunden hätte verbieten können, sie zu begleiten.
Es war mittlerweile früher Mittag und die U-Bahn war viel voller als noch heute morgen; normalerweise würden die Menschennassen, die in der morgendlichen Hitze des Sommers schon schwitzten, Finja nichts ausmachen. Aber heute... empfand sie die anderen Leute als sehr aufdringlich und beklemmend.
Nach der sehr unangenehmen Fahrt, standen sie schließlich vor Finjas Haus. Oder das Haus ihrer Mutter.
Finjas Mutter war nicht da, da eins der Autos fehlte. Wahrscheinlich war sie arbeiten.
Arbeiten... Mit einem seltsamen Gefühl dachte sie an ihren eigenen Arbeitsplatz. Oder eher ehemaligen, schließlich war er in die Luft geflogen. An dem Ort hatte alles begonnen.
Schweigend ließ sie die anderen rein und bot ihnen sogar etwas zu trinken an, das sie dankend annahmen.
Dann verschwand Finja nach oben, um sich frische Klamotten und Hygieneartikel einzupacken.
In ihrem Kopf fuhren die Gedanken: wie soll ich ihnen sagen, dass ich das nicht schaffe?? Sie scheinen so froh darüber zu sein, endlich eine angebliche Lösung gefunden zu haben...
Finja wollte niemanden enttäuschen.
Als sie ihr Zimmer wieder verlassen wollte, musste sie ihre Routine sogar noch erhöhen, das passierte immer wenn sie besonders aufgewühlt war.
„Konzentrieren, 1,2,3,4, Fenster ist zu...", murmelte sie vor sich hin und schloß dabei die Augen.
Deshalb bemerkte sie wahrscheinlich auch Jakob nicht, der sich irgendwie an sie herangeschlichen hatte, vielleicht war er aber auch teleportiert.
„Was machst du da?", fragte er verwirrt.
„Gar nichts!", rief Finja fast schon panisch und schloss schnell die Tür.
Verdammt!
Jakob betrachtete sie kritisch aus seinen unergründlichen Augen.
Er schien langsam zu verstehen, denn sein Gesicht wurde etwas...sanfter.
„Bist du irgendwie....neurotisch?"
„Ja. Zwangsstörung. Kontrollzwang. Wurde vor eineinhalb Jahren diagnostiziert.", sagte Finja kühl und kurz angebunden. Es hätte keinen Sinn gemacht Jakob das zu verschweigen; er hatte es selbst gesehen, und Jakob war vieles, aber er war kein Idiot.
Auch so hatte er die Punkte schon richtig verbunden.
Finja ging den Gang entlang, vorbei an Jakob, der den Boden anscheinend unglaublich interessant fand, die Treppe runter und stellte sich vor die anderen. Die Sporttasche mit ihren Klamotten und anderen Sachen hing ihr von der Schulter.
„Also wir haben uns gedacht,", begann Lilie, „dass du an Tag der Apokalypse einfach deine Energie aufbringen könntest, um die Todsünden aus unserer Welt fernzuhalten oder das Portal zu schließen, so genau wissen wir das gar nicht. Jakob ist eher für den wissenschaftlichen Teil verantwortlich"
Alle Augen wanderten zu dem Jungen, der skeptisch die Augenbrauen hob.
„Jetzt mal ganz langsam. Wir haben ja noch meine Maschine..."
Maschine? Was für eine Maschine? Können wir nicht die nehmen?
Schließlich hatte Lilie gerade selbst zugegeben, dass sie eigentlich auch keinen Plan von der ganzen Sache hat.
„Ja, aber von deiner Maschine wissen wir nicht hundertprozentig ob sie auch funktioniert. Laut den alten Schriften würden Finjas Kräfte aber auf jeden Fall wirken.", warf Saki ein.
Das reichte. Finja konnte einfach nicht so weitermachen.
„Ich... tut mir leid, ihr müsst gehen, ich kann das nicht, ich kann die Welt nicht retten. Tut mir echt leid, aber bitte geht jetzt und ...und lasst mich in Ruhe.", platzte sie heraus.
Finja lief durch das Wohnzimmer in den Garten. Dort gab es einen kleinen Hain mit Apfelbäumen, unter denen sie sich schon gern versteckt hatte, als ihr Vater noch bei ihnen gelebt und sich wie so oft mit ihrer Mutter gestritten hatte. Irgendwie fühlte sie sich unter den alten Ästen sicher und beschützt.
„Finja?"
Erschrocken sah sie auf. Es war Jakob. Wieso konnte sich der Typ so gut anschleichen?
Der Junge schien stark verändert im Vergleich zu heute morgen: er war nicht mehr feindselig, sondern eher... mitleidig.
„Hör zu, ich weiß wir hatten nicht den besten Start, aber du musst uns helfen. Bitte... wir...wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können. Du musst da auch nicht alleine durch! Um Gottes Willen, wir helfen dir natürlich, aber du musst es wenigstens versuchen."
Unfassbar, dass das derselbe Junge sein soll, der sie letzte Nacht noch bedroht hatte.
„Aber was, wenn ich es nicht schaffe, was wenn die Hoffnung, die jetzt alle in mich haben, nicht gerechtfertigt ist?"
Finja schlang ihre Finger ineinander, nur um sie dann wieder zu lösen und das Prozedere noch einmal von vorne anzufangen. Noch so ein blöder Tick.
Jakob lächelte: „Weißt du, ich bin ja jetzt schon einige Jahre älter als du,...", da musste auch Finja leicht lachen.
Einige Jahre älter war gut
„Und ich kann dir sagen, dass ich einige...schreckliche Dinge gesehen habe; Dinge, zu denen Menschen alles fähig sind. Vielleicht war ich deswegen so grob zu dir; ich kann es einfach nicht abstellen, und das tut mir leid.
Ich kann dir aber nicht alles erklären; warum ausgerechnet du, oder ausgerechnet wir, den Weltuntergang aufhalten sollen. Ich weiß nur, dass es so ist.
Wir müssen etwas unternehmen, schließlich können wir die Welt schlecht vor die Hunde gehen lassen, was?
Wir müssen es wenigsten versuchen. Und sollte es nicht klappen, dann hast du immerhin alles versucht. Manchmal klappen manche Dinge einfach nicht, das bedeutet aber nicht, dass du eine Schande oder eine Enttäuschung bist. Das ist einfach das Leben. Du bist genug, Finja, du wirst immer genug sein.", schloß Jakob seine Rede.
Finja konnte nicht anders als in Tränen auszubrechen, und sie konnte schwören, dass auch Jakobs Stimme am Ende etwas zitterte.
„D-dann m-musst du a-aber auch et-etwas verändern, Jakob", schluchzte sie.
„Du kannst nicht immer gemein zu andern sein, die haben dir nichts getan, okay?"
„Ich bin ein sehr schlechter Mensch.", meinte Jakob und wischte sich unauffällig mit dem Handrücken über die Augen.
„Nein, das bist du nicht. Dir sind anscheinend schreckliche Dinge widerfahren, aber das heißt nicht, dass du auch ein schlechter Mensch bist. Zum Beispiel hab ich gesehen, wie du heute Morgen Frühstück für Saki gemacht hast und sie in der Bibliothek beschützen wolltest. Das würde kein schlechter Mensch tun. Es gibt eine Grenze zwischen Grausamkeit und Schutzmechanismen, und bei dir ist es noch nicht zu spät. Du musst nur etwas an dir arbeiten, dann wird alles gut. Du hast ein Recht darauf wütend zu sein, glaub mir, das hast du wirklich. Sei nur nicht wütend auf die Falschen."
„O-okay.", antwortete der Schwarzhaarige zittrig.
„Also ist es abgemacht? Ich versuche mehr an mir zu arbeiten und du rettest derweil die Welt?"
Da mussten sie beide lachen.
Zusammen gingen sie wieder zurück ins Wohnzimmer, wo sich die anderen schweigend und besorgt versammelt hatten.
„Wer waren eigentlich diese Leute vorhin?", fragte Finja auf einmal; in all der Aufregung wäre das fast untergegangen.
Billy, der anscheinend erleichtert war, dass Finja ihren kleinen Ausbruch überwunden hatte, antwortete dennoch zögerlich: „Die Frau, die gegen Thalia und Lilie gekämpft hat, war Alakta Dahl, wir hatten dir schon von ihr erzählt.", das stimmte. Finja erinnerte sich daran.
„Und ihr Bruder Jonah, hat es mit Jakob aufgenommen. Ich wiederum hab gegen Mikos Novak gekämpft, so viel ich weiß ist er eigentlich ein Gestaldwandler, und Sasja Jensen kanntest du ja schon. Nur der Mann, der sich nicht am Kampf beteiligt hatte, kenn ich nicht; ihr vielleicht...?" Die anderen verneinten, niemand kannte den Unbekannten.
„Okay, Leute, wir brauchen einen Plan: Ich würde vorschlagen wir gehen erstmal zu Mia. Dann sehen wir weiter.", warf Lilie ein; der ernste Ausdruck auf ihrem Gesicht, hatte sich noch nicht gelegt.
Wer war denn jetzt wieder Mia?
„Genau, nur ich werde zu Liam, meinem Mann gehen und ihn mal ausfragen; er arbeitet bei der Regierung und weiß vielleicht mehr über deine Kräfte. In der Bibliothek sind wir ja nicht weiter gekommen.", erklärte Theia für Finja.
„Und ich werde nach meiner Maschine sehen. Finja, ich habe eine Art Machine gebaut, die hoffentlich die Naruli besiegen kann, natürlich ist das nicht ganz gewiss, aber viellicht hilft es als Plan B", Finja war Jakob für eine zweite Lösung sehr dankbar und lächelte ihm zu. Ihr Gespräch im Garten, hat beiden gut getan, denn auch Jakob lächelte das erste Mal zurück.
„Allerdings sollte Saki, nach Hause gehen.", fügte er dann noch ernst hinzu.
„WAS?!", rief die Rothaarige empört. „Das kommt gar nicht in Frage!"
„Oh, doch. Das ist viel zu gefährlich, schließlich bist du erst 13. Wir lassen keine Kinder für uns kämpfen. Das vorhin war schon genug für einen Tag.", meinte Jakob streng, aber Finja kam nicht darum herum zu bemerken, dass sich der Junge sehr um Saki sorgte.
„Aber, ihr könnt mir doch nicht die Verantwortung für das Haus überlassen!", versuchte Saki es weiter.
„Oh doch, glaub mir das geht, du kriegst das schon hin.", lächelte Theia.
„Nein, überlasst mir doch keine Verantwortung! Doch nicht mir!". Doch niemand hörte ihr mehr richtig zu.
Während Theia, Jakob und eine missmutige Saki ihrer Wege gingen, führte Finja Billy und Lilie zu ihrem Auto um diese Mia zu suchen.
„Diesmal nehmen wir aber mein Auto.", verkündete sie.
„Die Bremsen müssten zwar mal überprüft werden und die Zündung ist auch so ziemlich im Eimer, aber das geht schon."
Bei Billys entsetztem Gesicht, mussten beide Mädchen lachen.
„Wo müssen wir eigentlich hin?", fragte Finja.
„In den Zirkus."
In den....Zirkus?? Eigentlich hatte ich gedacht, wir hätten wichtigeres zu tun.
Jetzt war es an Billy zu lachen.
„Es ist ein besonderer Zirkus.", meinte er, als sei das Erklärung genug.
Natürlich! Ein Zauberer-Zirkus!
Wie konnte sie das nur vergessen...

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