Kapitel 22

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„In der Einheit des Charakters besteht die Vollkommenheit des Menschen." ~Immanuel Kant

Sie mussten nicht lange fahren, nur ungefähr eine halbe Stunde. Was auch gut war, denn der Wagen hätte bestimmt nicht länger durchgehalten. Das Auto stotterte und gab andere besorgniserregenden Geräusche von sich, als sie auf einem großen weiten Platz mitten in der Innenstadt vorfuhren. Finja sollte das Auto dringend in die Werkstatt bringen.
Sie fragte sich auch, wie sie das riesige bunte Zirkuszelt als die Jahre hatte übersehen können. Vor allem weil es circa drei Meter über dem Boden schwebte!
Während Billy und Lilie offenbar zutiefst erleichtert endlich aus dem Auto und sogar noch in einem Stück herauszukommen, ausstiegen, klappte Finja vor Staunen fast der Mund auf.
Eigentlich war das nicht das seltsamste, das sie die letzten beiden Tage gesehen hatte, aber der Zirkus sah schon sehr beeindruckend aus: Es gab nicht nur das große Hauptzelt, sondern auch kleiner Aufbauten und Einrichtungen, die anscheinend auf das Zelt draufgebaut wurden. Diese waren allerdings aus Stein oder Beton, und wie das feine Laken des Zeltes das trug, war ihr ein Rätsel, aber hey...Magie.
Hoch oben kreiste ein Schwarm bunter Vögel um die Spitze des Gebäudes, aus dem Inneren kam der verlockende Duft von Kakao und gebrannten Mandeln und zu hören war das Gelächter von Menschen.
„Das ist alles nicht real.", sagte auf einmal Lilie neben ihr.
Wieso konnten die sich alle so gut anschleichen?
„Wie meinst du das? Nicht real?", fragte Finja verwirrt. Sie hatte diese zweite verborgene Ebene doch durchbrochen, oder etwa nicht?
„Die Vorspieler haben das alles hier erschaffen. Alles was du hier siehst, das Zelt und die Häuser darauf, sind nur eine Illusion. Die Vorspieler... naja spielen dir etwas vor und verzerren die Wirklichkeit, sodass ein Trugbild entsteht. Also pass auf, wo du hintrittst. Nur die Besucher innen sind echt, oder zumindest die meisten.", erklärte Lilie mit einem Zwinkern und folgte Billy durch den Eingang; auch Finja machte sich auf den Weg und beeilte sich um die zwei nicht zu verlieren. Dass jemand so etwas erschaffen konnte, die Realität verzerren....
Na, das konnte ja was werden.

Das Innere des Zirkus' war sogar noch magischer und beeindruckender als das Äußere: In der Mitte befand sich ein großer weiter Platz mit einem Springbrunnen. Jede Menge Geschäfte und Stände waren an den Außenwände positioniert, in denen die Leute einkauften. Finja entdeckte sogar einige Akrobaten, die einpaar Tricks vorführten und einen Pantomimen.
Die Luft war erfüllt von Magie: Nicht nur die Akrobaten benutzten ihre, sondern auch die anderen Besucher: ein junges Mädchen schwebte erhaben über dem Boden, ein Mann kletterte einfach so eine der Wände hoch. Eine Frau ließ für ihre beiden Kinder schillernde Riesenseifenblasen aus ihren Handinnenflächen erscheinen, die dann über den ganzen Platz flogen. Mysteriöse kleine Lichter flogen umher.
Anscheinend gab es hier nur Mentiker.
Eine Decke gab es nicht, stattdessen klaffte über ihnen der strahlend blaue Sommerhimmel, eine leichte Brise wehte, irgendwoher hörte man die Musik einer Spieluhr, es war wie in einem Traum...
Finja musste sich beeilen um mit Lilie und Billy Schritt zu halten, dieser Ort war vielleicht wunderschön, aber Finja war nicht so dumm anzunehmen, er wäre auch gefahrlos. Hier gab es viel zu sehen, aber bestimmt auch viele Gefahren.
Hier wollte sie nicht alleine sein.
Finjas Begleiter beachteten die Wunder um sie herum nicht mal, sondern überquerten den Platz schnell.
„Vielleicht müssen wir noch etwas warten. Die Show beginnt erst in einer Dreiviertel Stunde. Du weißt, dass wir Mia erst danach fragen können.", sagte Lilie und Billy seufzte müde: „Ja, ich weiß." Da klingte sich auch Finja in ihr Gespräch ein: „Wer ist eigentlich diese Mia?" Billy hob die Augenbrauen, bis ihm einfiel, dass Finja sie alle ja erst seit gestern kannte.
„Ah, stimmt ja. Mia ist meine Mutter. Sie arbeitet hier als eine der Akrobatinnen in den Vorstellungen und vielleicht weiß sie mehr über das Energiewerfen.", antwortete Billy.
Sie waren inzwischen am Ende des Platzes angekommen: hier stand eine riesige blaue Doppeltür, die mit majestätischen goldenen Schnörkeln und Symbolen verziert war.
„Dahinter ist der eigentliche Zirkus, aber wie schon gesagt, die nächste Vorstellung ist erst in 45 Minuten, und vorher kommen wir nicht rein, und somit auch nicht zu Mia.", erklärte Lilie weiter. Finja frage sich manchmal, ob die junge Frau auch Gedankenlesen als Superkraft hatte.
Jetzt hieß es wohl warten.
Sie stellten sich vor die blaue Tür, Lilie setzte sich sogar auf den Boden, aber für Finja gab es viel zu viel zu sehen, als dass sie sich entspannt irgendwo hinsetzten könnten.
Billy und Lilie fingen an über die anderen Besucher zu reden:
„Was hälst du von dem Typen? Mit dem ohne Hemd...?", fing Lilie an und grinste anzüglich.
„Ah, du meinst Lederhose? Ja, schon ganz in Ordnung, aber für richtiges Urteil müsste er die natürlich auch noch ausziehen...", lachte Billy.
„Billy!", rief Lilie empört, aber auch sie musste leicht lächeln.
Finja sah sich kurz um und bemerkte, dass der Mann, von dem die beiden sprachen, ganz in der Nähe stand.
Sie wurde rot, da Billy und Lilie nicht gerade leise sprachen und der Typ bestimmt nicht taub war, außerdem war er keine zwei Meter entfernt!
„Aber Mr.-Waschbrettbauch reicht ja auch so aus..."
„Bitte? Deine Spitznamen sind ja grauenhaft."
„Wie wär's mit Sexy-Hexy?"
„Oh Gott, bitte nicht...", stöhnte Billy, aber beide lachten derweil freundschaftlich.
Finja fühlte sich etwas fehl am Platz. Bei so einem Thema konnte sie nicht mitreden und sie hatte schrecklich Durst.
„Und wie wäre mein Spitzname?", fragte der Blonde.
„Mal sehen...wenn du ein Spion wärst, würde ich dich wohl...Der Amerikaner nennen. Aber so... ich meine du hast keine hervorstechenden Eigenschaften, wie gutes Aussehen oder Charisma...", grinste Lilie.
„Gott sei Dank! Das geht ja noch." Und dann: „Hey, warte mal! Ich-"
„Leute, ich hab Durst, können wir was zu trinken holen?", unterbrach Finja ihr Gezänke.
„Ja, klar. Komm mit." Vergessen war ihr Streit, Billy half Lilie vom Boden aufzustehen.
Sie gingen zusammen in ein Lokal, das direkt an die Wand mit der blauen Tür angrenzte.
Das Lokal war eher eine Bar, die im Stil von einer Strandbar dekoriert war: Im ganzen Raum verteilt standen hölzerne, bunt bemalte Tische mit Hockern, wobei in der Mitte Platz für eine kleine, aber moderne Tanzfläche mit leuchtenden, elektrischen Markierungen, Platz gelassen wurde.
In den Ecken standen kleine Sofas und plüschige Sitze verteilt.
Die Wände erweckten den Eindruck von einem echten Strand und einem echten Meer, selbst das Meeresrauschen und Mövengeschrei war aus Lautsprechern zu hören. Überall gab es gemütliche Lichterketten und sogar ein paar falsche Palmen.
„Oh mein Gott, ist das da nicht Pino?", rief da auf einmal Lilie.
„Was?! Wo? Pino?", meinte Billy leicht alarmiert.
Lilie deutet auf den Barman, ein etwas kleiner Typ mit dunklen Haaren und einem dunklen Teint, hinter der Theke, der gerade irgendwelche Getränke zusammenmixte.
„Ach Gott, das gibt's doch nicht! Pino! Piiinnoo!", rief Billy und schritt geradewegs auf den Angesprochenen zu.
Dieser erblickte den Blonden, hielt augenblicklich in seiner Bewegung inne und beobachtete mit versteinertem Gesicht, wie Billy auf ihn zu kam.
„Mein Gott, wie lange ist das jetzt he-", er wurde davon unterbrochen, dass Pino ihm das unidentifizierbare Getränk ins Gesicht geschüttet hatte.
Lilie prustete los, während Billy verzweifelt und erfolglos versuchte seine nassen Locken zu trocknen.
Pinos junges Gesicht war von Wut ganz verzerrt.
„Verpiss dich von hier, du Arsch."
„Aber, aber, Pino, man verwendet doch nicht solche Wort-", Finja war schon aufgefallen, dass Billy es liebte andere zu provozieren und zur Weißglut zu treiben, aber Pino ließ sich anscheinend nicht darauf ein, denn er schlug drohend mit einem Glas nach Billy, der murmelnd zurückwich.
„Billy und Pino hatten mal was miteinander.", sagte Lilie und konnte dabei kaum ihr Lachen verbergen.
Irgendwie hatte Finja das schon geahnt.
Sie studierte derweil die Getränkeliste. Es gab ganz normale Sachen darauf, wie Tequila, Bloody Mary oder einfach nur Kaffee oder Wasser. Allerdings fand sie auch Extratoppings wie Eine Prise Charisma oder Einen Teelöffel Selbstvertrauen.
Wie praktisch sowas doch war! Finja könnte jetzt gut etwas Glück zum Mitnehmen gebrauchen.
„Hey! Pass auf mit dem Ding! Vielleicht hast du es noch nicht gehört, aber ich muss noch die Welt retten!"
Den letzten Teil hatte er zum Glück leiser gesagt.
„Doch, das weiß ich, ist mir aber scheißegal. Übrigens weiß das jeder andere hier auch. Man hat einen Haftbefehl gegen euch erlassen! Also verschwinde endlich, die Bullen kann ich hier nicht gebrauchen."
Lilie und Finja waren neben Billy getreten um Pino besser zu verstehen, der sie aus überraschend grünen Augen anfunkelte.
Oh je, das war gar nicht gut.
„Sie haben sogar den Engel geschickt, um euch einzusammeln."
Finja hatte zwar keine Ahnung wer das jetzt wieder war, aber sie stellte sich automatisch einen grausamen Todesengel-Söldner vor.
„Oh, scheiße!", meinte Billy.
„Da stimme ich dir zu.", sagte eine belustigte Stimme hinter ihnen.
Billy, Lilie und Finja wirbelten herum und Finja war klar, dass vor ihr der Engel stand, auch wenn sie sich ihn ganz anders vorgestellt hatte.
Der Engel war ein Mann mittleren Alters mit schwarzen Haaren, sehr blasser Haut und den dunkelsten Augen der Welt. Es ist als würde man in zwei kleine schwarze Löcher blicken.
Außerdem sproßen aus seinem Rücken zwei lange Schlieren, die in einem esoterischem weiß-violett pulsierten; das waren dann wohl seine Flügel.
„Engel! Hi, wie geht's dir so?", fragte Billy verunsichert, wich instinktiv zurück, wobei er beinah über eine der Couchen stolperte, wodurch er halb über diese fiel und half steigen musste.
„Ah Scheiß drauf.", murmelte Lilie, nahm Anlauf und verpasste dem Engel mit einer halben Rolle In der Luft einen Beintritt mitten ins Gesicht, der ihn zu Boden gehen ließ.
„Lauf!", schrie sie und Billy und Finja rannten los; sie liefen nach hinten in die Küche, wobei Pino ihnen noch entsetzt nachrief: „Halt, ihr könnt da nicht rein!"
Sie rannten an dem aufgeschreckten Küchenpersonal vorbei, bis sie vor einer massiven Stahltür stehen bleiben mussten.
„Verdammt, Billy, irgendwann bringen uns deine verflossenen Liebschaften nochmal um!", beschwerte sich Lilie etwas außer Atem.
Doch Billy war viel zu sehr damit beschäftigt die Hand durch die Tür zu stecken und einfach ein riesiges Loch in sie zu reißen, als wäre sie aus Papier, um zu antworten.
Schnell schritt er hindurch. Finja nahm den Griff der Tür in die Hand, rüttelte daran und... die Tür ging auf.
„Es war die ganze Zeit offen.", meinte sie trocken, während Lilie ihr folgte.
„Oh", sagte Billy etwas atemlos.
Egal, sie mussten weiter, also ließen sie die zerstörte Tür hinter sich und rannten weiter.
Anscheinend waren sie hinter die Kulissen des Zirkus gelangt, denn ihnen begegneten verschiedene Künstler mit ihren Utensilien: ein junger Mann mit einem Haufen Hulahoops in den Händen. Eine Gruppe von Leuten, die alle als Zirkusdriektoren verkleidet waren. Ein Mädchen in einem flammendem Kleid, und ein Junge in einer indischen, türkis-blauen Verkleidung.
Schließlich fanden sie eine Gruppe von Frauen, die in bunten Gymnastiganzügen steckten und professionell und kompliziert geschminkt waren.
„Mum! Mum!", rief Billy und winkte wild mit den Händen.
Eine der Frauen, sie hatte dieselben blonden Locken wie ihr Sohn, löste sich aus der Gruppe und kam auf sie zu gelaufen.
„Billy, are you alright, sweetie?"
„Jaja, alles gut. Wir brauchen deine Hilfe. Schnell!"
Mia verstand sofort und nickte.
Billy erzählte ihr alles im Schnelldurchlauf, während sich Lilie immer wieder nervös umdrehte, um nach dem Engel oder Polizisten Ausschau zu halten.
Die Nachricht von ihrer Flucht hatte sich noch nicht bis hierher verbreitet, denn niemand versuchte sie irgendwie festzuhalten.
„Finja, hör mir jetzt ganz genau zu:", begann Mia und sah Finja mit grauen, besorgten Augen an, „du kannst das schaffen, wir glauben an dich, du musst einfach nur so viel reine Energie wie nur irgendwie möglich in das Portal steuern, durch das die Naruli kommen sollen, und dann muss jemand gleichzeitig die 13 Könige hineinwerfen. Das muss alles geschehen bevor sie durch das Portal gehen! Sonst sind wir alle verloren."
Finja wusste nicht von welchem Portal sie sprach, oder wer die 13 Könige sind, sie interessierte nur eines: „Werde ich sterben?" Es überraschte sie, dass ihre Stimme nicht mal zitterte.
Mia lächelte, „Nein, wenn alles gut läuft, wirst du nicht sterben."
Gott sei Dank!
Ein lauter Knall war zu hören, dann schnelle Schritte und das unverkennbare Geräusch von Flügelschlagen.
Engel und seine Männer.
„Wir müssen los, Mum, bis bald.", Billy küsste seine Mutter zum Abschied auf die Wange.
„Billy, pass auf dich auf!", rief Mia ihnen noch hinterher.
Lilie führte sie zu einem Fenster, riss es auf und sie und Billy fingen an hinauszuklettern.
Was tun sie denn da?! Wir sind doch mindestens 15 Meter in der Luft!
Entsetzt sah sie zu wie ihre Freunde in den sicheren Tod stürzten. Oder doch nicht?
Sie drehte den Kopf und sah den Engel um die Ecke eilen, als ein paar Hände sie aus dem Fenster zerrten.
Finja kniff die Augen zusammen, spürte aber nicht wie sie fiel. Zögernd blickte sie auf und sah in Lilies und Billys grinsende Gesichter.
Sie flog!
Sie flog.
In der Luft!
Oh mein Gott!
Lilie musste sie alle oben halten und jetzt wurden sie von einem weitern Luftsog erfasst und mitgerissen.
Finja schrie erschrocken auf, doch ihre Freundin schien alle sim Griff zu haben.
Kontrolliert flogen sie weg von dem schwebendem Zirkus.
Finja drehte sich ein letztes Mal um und bemerkte den Engel, der ihnen wohl etwas gefolgt sein musste, jetzt aber still in der Schwebe stand und sie mit seinen dunklen Augen fixierte, bevor er sich abwandte und zurückflog.
Interessant.

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