Kapitel 47

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„Mal bist du Jäger, mal bist du Beute. Aber Hunger haben beide." ~Francis Louis Bandelier

Finja sah sich hilfesuchend nach ihren Freunden um und war entsetzt:
Lilie, Nikolai, Clara, Saki und der Engel kämpften immer noch tapfer gegen die schnell ausdünnenden Limenti; die Schattenwesen hatten keine Chance gegen die todbringenden Schwingen des Engels, die er abwechselnd als übergroße Schwerter oder als Schutzschild benutzte, oder gegen Lilies Feuerwände oder Claras herumwirbelnde Elektroladungen, die sie wie leuchtende Blitze durch die Luft schleuderte; selbst Nikolai griff mit einer seiner Kräfte an: Er versteinerte sich selbst und alles was seine Haut berührte, was für einige abstrakt aussehende Kunstwerke aus toten Limenti-Körpern sorgte, und Saki wirbelte erstaunlich leicht durch die Luft, gemeinsam mit den Limenti, die sie immer wieder gegen den Boden schmiss, bis nichts mehr außer einer schwarzen Pampe von ihnen übrig war.
Den fünfen schien es aber so weit gut zugehen, ganz anders als Billy, der etwas entfernt zu ihrer Rechten bewegungslos auf dem Boden lag.
Nur von Jakob keine Spur.
Sana kam langsam und gemein grinsend auf Finja zu.
„Soo", begann sie gedehnt, „hier wären wir also. Gib mir einfach den Rucksack und du kannst gehen...", schnurrte sie. Als ob Finja auf so was reinfallen würde! Sie presste den Rucksack noch etwas näher an sich, verengte die Augen und suchte einen Ausweg, den es nicht gab.
„Aww, du hast keine Chance, glaub mir!", rief Sana heiter und lachte. Sie klang jetzt komplett übergeschnappt. Und das Blut, das aus ihrer heftigen Wunde im Gesicht floß, tat diesem Eindruck nicht gerade Abhilfe.
„Bald ist die Welt hinüber", kicherte sie weiter; Finja konnte sie nur ungläubig anstarren.
Doch dann hob Sana ihre Axt und Finja konnte im letzten Moment ausweichen; daraufhin gefror allerdings der Boden unter ihren Füßen, und Finja rutschte aus.
Schützend hob sie die Hand vor das Gesicht, als Sana sich drohend über sie beugte.
Ohne dass Finja groß darüber nachdachte, sprossen schon die Schatten aus ihren Fingern und versuchten Sana zu erwürgen.
Die Wintermentikerin ließ aber auch diese zu eisigen Statuen erfrieren, doch die Zeit hatte ausgereicht, dass Finja wieder wackelig auf die Beine kam.
Schon kam von irgendwoher Sanas Faust angeflogen, die Finja voll im Kiefer traf.
Zum Glück schien er nicht gebrochen, doch Finja fiel noch mal um und diesmal flog ihr der Rucksack aus der Hand, landete auf dem immer noch vereisten Boden, schlitterte rotierend etwas weiter, und verteilte dabei seinen kompletten Inhalt, nämlich die 13 Könige, in der Umgebung.
Oh, scheiße!
Doch bevor die beiden verwunderten Frauen etwas unternehmen konnten, hallte ein Schuss durch die Ebene.
Saki schrie „Nein!", und wollte zu Jakob, der Alaktas Kugel anscheinend abbekommen und jetzt blutend zusammengebrochen war, rennen, wurde jedoch von Lilie mit steinernem Gesicht davon abgehalten.
Finja wurde auf einmal abwechselnd kalt und heiß. Nein, nicht auch noch Jakob!
Nein, nein, nein!
„Alakta", rief Sana und winkte die Mitraerin zu sich, die nachdenklich und mit Polonius an ihrer Seite zu ihnen lief.
Finja, immer noch unfähig sich zu rühren, beobachtete alles aus kugelrunden Augen:
Anscheinend waren die Limenti endgültig besiegt, zumindest sah Finja keine mehr, und Nikolai, Clara und Lilie sahen betroffen zu Jakob, wobei Lilie die sich immer noch in ihren Armen windende Saki losließ, die prompt zu Jakob rannte.
Die anderen hatten jetzt Finjas Situation erkannt und eilten ihr zur Hilfe. Gott sei Dank!
Alakta kam trotzdem zuerst bei ihnen an, etwa zeitgleich teleportierte auch Jonah an die Seite seiner Schwester.
Zur Überraschung aller Anwesenden, holte Alakta einmal kräftig aus und verpasste Sana einen Kinnhaken, sodass sie stöhnend zu Boden ging.
Auf Jonahs ungläubiges Gesicht, knurrte sie nur: „Planänderung. Jonah hilf Finja auf; Polonius sammle mit mir diese Steine ein."
Die Rebellen kamen schnaubend bei ihnen an, wobei der Engel vorher abgedreht hatte, um nach Billy zu sehen.
Erleichtert stellte Finja fest, dass der Blonde immerhin noch atmete.
„Was soll das?", verlangte Lilie zu wissen, die den Tränen nahe schien.
„Nikolai, halt Sana fest.", antwortete Alakta, und obwohl der Braunhaarige, jetzt wieder mit seiner normalen Haut, ihr nicht mehr unterstand, gehorchte er ihrem Befehl und drückte Sana einen Dolch an die Halsschlagader.
„Eine Bewegung, ein Zucken, und du bist tot.", flüsterte er ihr drohend ins Ohr.
„Finja und Polonius kommen mit mir; ihr anderen: bleibt hier. Das wird zu gefährlich."
„Was? Nein! Polonius bleibt gefälligst hier!", empörte sich Jonah.
Der Grieche sah seinen Freund mit einem undefinierbaren Blick an.
„Clara, Lilie, haltet ihn fest.", meinte Polonius mit sanfter, klarer Stimme.
Jonah sah ihn an als wäre er verrückt geworden, doch als Clara und Lilie tatsächlich seine Arme umschlossen, wehrte er sich nicht einmal vor lauter Verblüffung.
Polonius wollte unbedingt auch mal etwas Nützliches tun, und seinen Jonah beschützen, wie er es für ihn getan hatte.
Alakta dagegen hatte ein anderes Motiv, Polonius mitzunehmen: Es bestand immer noch eine große Gefahr, und sollte etwas passieren, naja dann würde Jonah immerhin überleben...
Alakta hasste sich für diese Gedanken, dennoch konnte sie sie einfach nicht zur Seite schieben.
Die drei gingen zu dem Riss und zu Lake, der langsam aufwachte und sich erfreut in einer Welt umsah, die noch stand.
„Weg da!", heischte Alakta ihn an und eilig verzog er sich zu den Rebellen.
Finja konnte Sakis Weinen hören und es zerbrach ihr das Herz, vor allem weil sie nichts mehr für Jakob tun konnten...
„Finja", sprach Alakta sie an und Finja wand ihr wieder ihre Aufmerksamkeit zu.
„Du musst jetzt alle Energie, die du hast, in den Riss lenken, kannst du das tun? Um den Rest kümmern wir uns."
Finja nickte, schloß kurz die Augen, holte noch einmal tief Luft und schon spürte sie die pure, reine Energie durch ihre Adern fließen und lenkte sie in einem lupenreinen Strahl zu dem roten Riss.
Langsam entstand daraus eine Art Strudel, der stark an die Milchstraße erinnerte. Finja gab immer mehr Energie hinzu, während Alakta und Polonius die ersten beiden Steine hineinwarfen.
Es musste nacheinander geschehen, sonst bestand die Gefahr, dass der Strudel explodierte und die halbe Nordhalbkugel mit sich riss.
Finja erhob sich in die Luft: sie spürte die Macht und die Kraft, die von dem Strudel oder eher gesagt von den Naruli dahinter ausging.
Es fühlte sich wunderbar an, wie diese Macht sie durchströmte, sie einnahm und plötzlich gab es nichts mehr außer ihr und der Macht.
Finja musste aus irgendeinem Grund an Sasja denken und wie schwach sie war, Sasja, die bis zu ihrem Ende ihren Fehler nicht erkannte hatte und ihr Leben für einen sinnlosen Hass, der sie schon seit Jahren von innen auffraß, gelassen hatte.
Doch Finja wollte nicht so enden wie sie, also wand sie sich von der Macht ab und wieder ihrer Mission zu.

Sana rammte währenddessen ihren Ellenbogen in Nikolais Gesicht, da dieser für einen Moment von dem Spektakel am Himmel abgelenkt war.
Sie hätte gerne etwas getan um den ursprünglichen Plan zu erfüllen, doch dafür war es zu spät.
Bitter über Alaktas Verrat, erschuf sie eine Eiswolke, die sie blitzschnell zurück in ihren Eispalast bringen würde. Dort konnte sie dann alles weitere planen.
Niemand folgte ihr; der Engel setzte vielleicht mal kurz zum Flug an, doch Sanas Wolke war einfach zu schnell, und er ließ es bleiben.

Alakta und Polonius schmissen immer mehr der Könige in den Strudel, immer wenn ein neuer Stein ihn traf, leuchtete er in genau der Farbe des Steins auf.
Am Boden bemerkte Alakta an dem Vorsprung, auf dem sie und Jonah standen, einen kleinen Riss, der sich auszubreiten schien...
Sie mussten sich beeilen.
Von oben her rief Finja plötzlich: „Alakta!", sie sah auf.
„Ihr müsst die Steine näher ranbringen!"
Alakta dachte an ihre gemeinsame Zeit in Jerusalem, sie dachte an die Rebellen, die solchen Mut bewiesen hatten, sie dachte an Sasja und Kris, die tot waren und an Theia und Jakob, die durch ihre Schuld ebenfalls gestorben waren. Sie dachte an Jonah und wie sie fast in ihrer blinden Angst seine Zukunft ruiniert hätte. Sakerdos kreischte in ihrem Kopf erbost auf, doch sie beachtete ihn nicht. Es gab nur einen Weg, die Könige noch näher an den Strudel zu bringen....
„Polonius, gib mir deine restlichen Steine." Verwirrt überreichte der Grieche sie ihr.
„Du solltest gehen", meinte sie sanft zu ihm.
„Ich lass dich jetzt nicht alleine." Mit dieser Erwiderung hatte sie nicht gerechnet.
„Aber du könntest sterben!", Alakta verstand nicht, warum er keine Angst hat.
„Dann ist das eben so, das ist das Leben.", Polonius hörte sich fast gleichgültig an.
Nein, das ist es nicht, alle sagen das immer, aber es muss nicht so sein!, sie hätte ihm die Worte am liebsten ins Gesicht geschrien, aber sie brachte kein Wort heraus.
Alakta drehte sich um, sah mit Tränen in den Augen zu ihrem Bruder und rief:
„Es tut mir leid!", dann riss sie sich die Kette mit dem Falken-Talisman vom Hals und warf sie vage in Jonahs Richtung.
Sie sprang. In den Strudel. In ihr Verderben.
Polonius trat erschrocken einen Schritt näher an den Rand.
Da brach der Felsvorsprung und Polonius folgte Alakta schreiend in die Tiefe.
Als die beiden in den Strudel fielen und starben, schloss sich dieser mit einem Mal, genauso wie der Spalt in der Erde. Finja fiel auf die Erde, und obwohl ihre Sicht etwas unscharf war und ihr Gehör alles in den verschiedensten Tonabstufungen wahrnahm, ging es ihr ganz gut.
Na schön, bis auf die Tatsache, dass sie sich fühlte als wäre ein ganzes Flugzeug über sie drübergefahren. Aber immerhin lebte sie noch. Sie sah sich um: Clara und Nikolai fielen sich in die Arme, während Lake und der Engel besorgt auf Billy runterschauten; Lilie dagegen hatte sich zu Saki gesellt und weinte um einen weiter Freund.
Auch Finja musste beim Anblick von Jakobs Leiche die Tränen unterdrücken.
Jonah dagegen hatte sich, nachdem er gesehen hatte, was geschehen war, von Clara und Lilie losgerissen und war auf die Stelle, an der die Erde praktisch sein ganzes Leben verschlungen hatte, zugestürmt.
Schluchzend und halb blind von Tränen war er auf dem Boden rumgekrochen, als würde sich die Erde gleich wieder öffnen . Was sie natürlich nicht tat.
Aus Jonah schien alle Luft entwichen zu sein; er brach zusammen und weinte haltlos drauflos.
„Nein! Nein, nein!", schluchzte er dabei immer wieder.
„Alaktaaa! Bitte komm zurück, bitte kommt wieder. Polonius?? Bitte, bitte..."
Finja nahm ihn in den Arm, so wie sie es für Billy getan hatte; sie und Jonah waren vielleicht keine Freunde, aber jeder hier hatte jemandem mit dem er trauern konnte, jeder außer Jonah.
Also würde sie jetzt diese Rolle übernehmen.
Sie bemerkte die Kette, die Alakta getragen hatte, hob sie auf und hing sie Jonah um den Hals.
Das war alles, was noch von seiner Schwester übrig war.
Schluchzend betrachtete er den Falken-Anhänger und warf sich dann wieder in Finjas ausgebreitete Arme.
Finja sah noch mal zu Billy und konnte dort jetzt auch Mia ausmachen, die von wo auch immer hergeeilt kam und vor ihrem verletzten Sohn auf die Knie ging. Auch sie weinte bei seinem Anblick, und streichelte ihm mütterlich übers Haar.
Bei alldem Leid konnte Finja einfach nicht anders: sie brach in Tränen aus.
Sie hatten vielleicht die Welt gerettet, doch zu welchem Preis?

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