Kapitel 38

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„Wer jeglicher Eigenart ermangelt, ist ein sehr fader Mensch." ~Jean de la Bruyère

Jonah wurde von lauten Stimmen geweckt. Anscheinend stritten sich zwei Männer unten, auf der Straße vor ihrer Unterkunft, über den Preis irgendeines Gewürzes, dessen Name Jonah erst nachschlagen müsste. Natürlich war es ihr Glück, dass das kleine Fenster zur Straße hinging.
Blinzelnd öffnete er die Augen und wurde von dem hellem, einfallendem Licht geblendet, sodass er sich nochmal zur Seite drehte, um weiterzuschlafen, bis ihm auffiel, dass die schlafende Gestalt seiner Schwester nicht mehr da war.
Stöhnend setzte er sich schließlich auf und reckte sich. Es hatte keinen Zweck zu versuchen nochmal einzuschlafen; Jonah könnte nicht eher ruhen, bis er sich vergewissert hätte, dass Alakta wohlauf war. Außerdem wurden die Geräusche von draußen immer lauter.
Müde gähnte er und fuhr sich durch die verstrubbelten Haare.
Finja lag immer noch seelig schlafend auf ihrer Matte, aber von Alakta keine Spur.
Misstrauisch stand er so leise wie möglich auf; obwohl: wenn Finja bei dem Lärm draußen so fest schlafen konnte, war es fast unmöglich, dass Jonah sie weckte.
Er wollte schon die Treppe runtersteigen, um unten oder draußen nach seiner Schwester zu suchen, aber da kam sie schon selbst die Tür hinein, gefolgt von der kleinen Vermieterin.
Beide hielten jeweils zwei Schüsseln in den Händen, die sie jetzt auf dem Boden abstellten. 
„Vielen Dank.", sagte Alakta leise zu der anderen Frau. Diese lächelte nur ihr geheimnisvolles zahnloses Lächeln, nickte kurz freundlich und drückte sich wieder an Jonah vorbei, zur Treppe.
Von dem Geklapper des Geschirrs war jetzt auch Finja aufgewacht und sah sich schlaftrunken um.
„So, Essen ist fertig. Schließlich müssen wir zu Kräften kommen!", verkündete Alakta und verteilte das mitgebrachte Essen. Es handelte sich um drei Stück eines längliches, flachen Oblatenbrotes, etwas einer hellbraunen Paste, die vielleicht Hummus sein könnte, und so fettiger Milch, dass sich Jonahs Zunge nach einem Schluck schon ganz pelzig anfühlte.
Jonah musste schon wieder einen seiner Pens opfern, jetzt hatte er nur noch einen. Nachdenklich und mit mahlendem Kiefer zwirbelte er den letzten in seinen Fingern.
Alakta, die beim Essen öfters beinahe aus Versehen ihre neue Kette mit dem Falken-Anhänger in den vermeintlichen Hummus baumeln ließ, sah ihn sorgenvoll an.
Er hasste es, wenn er der Grund für ihre vielen Probleme und Sorgen war.
Eine Zeitlang aßen sie schweigend, doch mitten drin legte Finja ihr angebissenes Brot zur Seite und fragte die beiden Geschwister:
„Wieso tut ihr das? Wieso wollt ihr die Welt zerstören?"
Alakza stellte die Schüssel mit der Milch, aus der sie gerade trinken wollte, beiseite und sah Finja mit zusammengekniffenen Augen an.
„Das verstehst du nicht. Die Naruli würden sowieso irgendwann auf die Erde kommen. Wir beschleunigen nur das Unvermeidbare, und damit haben immerhin noch einpaar von uns die Chance zu überleben. Sakerdos wird seine Anhänger verschonen.", meine sie nur nüchtern und Jonah nickte zustimmend.
Finja stieß spöttisch Luft aus: „Das glaubt ihr doch selbst nicht, oder? Er wird niemanden verschonen! Niemanden!"
Alaktas Haltung versteifte sich etwas. Wenn Jonah sie nicht so gut kennen würde, wäre es ihm nie aufgefallen.
Sie presste den Mund zusammen und sah Finja nicht mehr an. Stattdessen übernahm Jonah das Reden:
„Du hast doch überhaupt keine Ahnung! Wir haben das alles genau geplant; es wird alles gut ausgehen, zumindest für uns."
„Deine Schwester scheint das aber anders zu sehen; kriegst du jetzt kalte Füße, Alakta?"
„Siehst du nicht, dass sie Angst hat!", rief Jonah aufgebracht. Er hasste es auch, Alakta in diesem Zustand zu sehen.
Da wurde Finja still. Alakta holte tief Luft und setzte zum Reden an:
„Was weißt du schon von unserer Welt, Finja? Wie lange bist du schon dabei? Zwei oder drei Tage? Du kannst es gar nicht verstehen", Alakta klang sehr müde.
„Ich verstehe immerhin, dass Angst keine Erklärung dafür ist, fast die ganze Weltbevölkerung auszurotten!", konterte Finja.
„Aber es würde sowieso geschehen, und dann sind wir alle tot. Jetzt können immer noch einpaar leben!", zischte Alakta wütend.
„Das liegt aber nicht an euch, das zu entscheiden! Und bevor ihr fragt: Nein, ich werde mich euch nie anschließen; ich werde immer gegen euch kämpfen, selbst wenn ich dabei sterben sollte!", verkündete Finja dramatisch.
„Ha! Als ob wir dich bei uns haben wollten!", höhnte Alakta. Jonah, der Finja tatsächlich anbieten wollte, sich ihnen anzuschließen, blieb lieber stumm.
Aber dachte nach.
Jonah war nicht das, was man unbedingt als ‚schlau' bezeichnen würde und obwohl seine Schwester ihn nie für seine Langsamkeit geärgert hatte, wie andere Geschwister es vielleicht getan hätte, nagte diese Tatsache trotzdem an ihm. Herr Gott, er hätte ja noch nicht mal einen einfachen Schul-Abschluss geschafft, wenn er je eine normale Schule besucht hätte!
War das ganze wirklich eine so gute Idee...?
Aber Alakta hatte gesagt, dass sich alles zum Guten wenden würde, und vielleicht war Jonah naiv, aber er vertraute seiner Schwester von ganzem Herzen.
Noch dazu hatte sie viel zu viel für ihn getan, als dass er ihr jetzt in den Rücken fallen könnte.
Er dachte an Polonius, der zuhause auf ihn wartete und Oh Gott, hoffentlich ging's ihm gut! Schließlich hatten sie ihn ganz allein bei den Rebellen gelassen.
Jonah hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, dafür, dass sie den Griechen mitgenommen hatten auf ihren nächtlichen Überraschungsbesuch; er hatte gewusst, dass Polonius hätte zuhause bleiben sollen!
Jonah hatte sich schon oft verliebt, doch nie war etwas wirklich Ernsthaftes daraus geworden. Trotzdem hoffte er jedes Mal (vielleicht diesmal, vielleicht diesmal), und jedes Mal wurde er enttäuscht.
Die einzige Konstante in seinem Leben war immer Alakta gewesen; auf sie konnte er immer zählen.
Aber bei Polonius fühlte es sich zum ersten Mal richtig an, seine Hand zu halten war das Beste auf der Welt für Jonah und wenn Polonius ihn so voller Zuneigung ansah, konnte Jonah nicht anders, als zu denken, dass es tatsächlich Liebe war.
Alakta warf ihr Essen zurück in die Schüssel und stapfte wütend nach unten, um sich zu beruhigen.
Jonah folgte ihr und warf der verwirrten Vermieterin einen entschuldigenden Blick zu, bevor er seine Schwester ein Stückchen von der Tür des Hauses entfernt vorfand.
Besorgt rieb sie sich mit den Händen über die Arme.
Jonah sagte kein Wort, er umarmte seine Schwester auch nicht oder berührte sie sonst wie; es war besser sie einfach in Ruhe zu lassen, aber ihr auch zu zeigen, dass er da war.
Bis...
„Oh mein Gott, Finja?", rief er erstaunt, als er sah wie die andere schnellen Schrittes aus ihrer Unterkunft auf die belebte Straße lief.
„Was?!", fragte Alakta verwirrt und wirbelte herum. Ungläubig beobachteten die beiden Finja, bevor sie sich aus ihrer Starre lösen konnten und ihr eilig hinterher rannten.
„Wollte sie etwa fliehen?", schnaubte Alakta.
„Ich denke nicht, zumindest würde ich bei einem Fluchtversuch nicht seelenruhig durch die Vordertür spazieren.", antwortete Jonah und suchte verzweifelt mit den Augen die Menge nach Finja ab. Doch es waren einfach zu viele Menschen unterwegs, die auf dem Markt einkaufen wollten.
Jonah drückte sich an einer hübschen Frau mit einem Haufen Kinder vorbei, die ihm aufgrund dieser Ungehobeltheit eine wüste Beschimpfung an den Kopf warf.
Einer der Händler wollte ihm unbedingt einen exotisch aussehenden Hut andrehen und bot sogar Alakta einpaar goldene Armreife an.
Doch die beiden beachteten ihn nicht und suchten wortlos weiter. Sie mussten sich nicht absprechen; schließlich waren sie ein eingespieltes Team.
„Da ist sie!", rief Alakta ihn zu und deutete auf ein Haus, das um längen besser aussah, als die anderen drumherum. Es war schön verputzt und hatte sogar einige Blumen vor dem Fenster und vor der Haustür. Es war vielleicht kein Königspalast, aber im Vergleich zu der restlichen Nachbarschaft, glich es einer Villa.
Jonah konnte Finja nirgendwo erkennen, also musste Alakta sie aufgespürt haben. In dieser Disziplin war sie wirklich eine Meisterin.
Seite an Seite betraten die Geschwister das Haus und stellten ziemlich schnell fest, was genau das für eine Etablissement war:
Etwa ein Duzend junger Frauen standen im Hauptteil des Hauses; sie trugen bauchfreie, einheitliche rote, leichte Kleidung. Es waren Bauchtänzerinnen, die sich geschmeidig zu der rhythmischen Musik bewegten.
Eine Gruppe junger Männer saß oder lag in einer Sitzecke auf Kissen und Liegen; sie aßen Oliven, tranken Wein und sahen den Tänzerinnen lachend zu.
Jonah und Alakta schienen sie gar nicht bemerkt zu haben.
Finja stand kerzengerade vor einem mittelalten Mann mit einem geflochtenem schwarzem Bart, der ihm bis zum Bauchnabel, den man wegen seiner offenen Weste gut sehen konnte, ging. Er trug ein Haufen klimpernder Ketten und Armreife. Mit einer seiner ringbesetzten Hände fuchtelte er vor Finjas Gesicht rum. Jonah dachte zuerst der fremde Mann hätte die blausten Augen der Welt, doch dann begriff er, dass sie einfach nur glühten.
Der Mann war ein Hypnotiseur.
Und er hatte sie bemerkt.
„Angriff!", brüllte er den jungen Männern zu, die keine Sekunde zögerten, obwohl sie die beiden bisher nicht bemerkt hatten. Die jungen Bauchtänzerinnen liefen aufgescheucht umher und versuchten sich in den Ecken klein zu machen.
Alakta schickte die Männer mit einer Druckwelle durch die Luft und wand sich jetzt dem Hypnotiseur zu, der Finja zur Seite gestoßen hatte.
Die Blonde starrte mit getrübten, ergrauten Augen ins Nichts und Jonah hätte es nicht gewundert, wenn sie bald anfangen würde zu sabbern.
Der Mann grinste sie jetzt an; seine vielen Ketten gaben ein rasselndes Geräusch von sich, sobald er sich auch nur ein bisschen bewegte, und wenn Jonah nicht noch im letzten Moment mitbekommen hätte, wie er ganz kurz zur Decke sah, hätte er die herabfallenden Stein- und Lehmbrocken zu spät bemerkt und er und Alakta wären jetzt Matsch.
Er sprang zur Seite und riss Alakta mit sich; die Teile der Decke landeten nur Zentimeter neben ihnen. Alakta schickte ein weiter Druckwelle aus, die den Fremden mit einem erneuten Rasseln gegen die Wand knallen ließ und ihn soweit ablenkte, dass Jonah seine Pistole ziehen konnte und dem Hypnotiseur mitten ins Gesicht schießen konnte.
Sein Gefolge schrie verängstigt: „Hexerei!", als sie ihren Boss da tot auf dem Boden liegen sahen und flüchteten durch eine Hintertür.
Finja, die jetzt da der Hypnotiseur nicht mehr lebte, auch von dem Zauber befreit war, betrachtete perplex den toten Mann und die schreienden Tänzerinnen.
Jonah packte ihre Hand und zerrte sie hinaus; Alakta rief den jungen Frauen zu:
„Lauft! Ihr seid frei!"; die waren nicht dumm und nahmen die Beine in die Hand.
Jonah, Alakta und Finja machten sich so schnell wie möglich auf den Rückweg.
„Was...was ist passiert?", fragte Finja leise.
„Du würdest hypnotisiert.", antwortete Alakta genauso leise. Auch wenn kaum Mitgefühl in ihrem Verhalten zu erkennen war, wusste Jonah, dass das die Art seiner Schwester war, ihr Mitleid auszudrücken.
„Oh", meinte Finja nur schwach. Sie schien in den letzten Tagen genug mitgemacht zu haben, um von so etwas noch geschockt zu sein. Sie tat Jonah fast leid.
„Wir sollten nach Hause gehen, und noch etwas Essen.", verkündet Alakta entschlossen; Finja nickte nur stumm.
„Geht's dir gut?", fragte Alakta sanft an ihren Bruder gerichtet.
„Ja, klar.", meinte Jonah leichthin, obwohl er sich immer noch wie gerädert fühlte. Er musste kurz schlucken, seine Kehle war so kratzig.
„Gut", antwortete Alakta erleichtert.
Manchmal brachte er es einfach nicht übers Herz ihr die Wahrheit zu sagen.
Hoffentlich konnten sie bald nach Hause. Es wurde langsam Zeit.

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