Kapitel 42

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„Alles, was mehr aus uns macht, ist Gnade für uns." ~Rainer Maria Rilke

Jetzt da sie sich stärker aufs Zeitreisen konzentrieren konnte, fühlte es sich anders an, wie Finja fand.
Sie spürte wie ihr Magen in die Kniekehle rutschte und vor lauter Orientierungslosigkeit, fiel Finja bei der Landung um und landete schmerzhaft auf dem harten Dielenboden eines sehr bekannten Hauses.
Durch die Fenster fiel orangenes Licht, also war es entweder Morgengrauen oder Dämmerung, aber das war Finja eigentlich ziemlich egal; Hauptsache sie waren wieder in einem Stück zuhause angekommen.
Triumphierend drehte sie sich, immer noch auf dem Boden liegend, zu Alakta und Jonah um, die beide etwas eleganter gelandet waren als sie.
Auch die Geschwister schienen erleichtert zu sein, sich wieder in ihrer Zeit zu befinden, denn Alakta riss sich das Kopftuch mit einem befreitem „Endlich!" vom Kopf und Jonah half Finja sogar gutgelaunt auf, indem er ihr die Hand entgegenstreckte.
Von weiter entfernt waren Schritte und Stimmen zu hören; Alaktas Augen weiteten sich und in einer fließenden Bewegung hatte sie einen Dolch aus den Untiefen ihres Kleides hervorgeholt.
Dann packte sie Finja am Arm, verdrehte diesen nach hinten, sodass Finja nun vor ihr stand und presste ihr den scharfen Dolch gegen die Kehle.
Das Ganze ging so schnell, dass Finja nicht mal Zeit hatte, Angst zu empfinden.
Ihre Freunde kamen ins Wohnzimmer gestürmt, samt Nikolai, Jamie, Mia und einer jungen Frau, die Finja nicht kannte; blieben aber wie angewurzelt stehen, als sie die Situation erkannten.
„Bleibt stehen!", warnte Alakta und presste das Messer noch etwas fester gegen Finjas Haut. Sie versuchte sich möglichst nicht zu bewegen und auch nicht zu schlucken, damit sich ihre Kehle nicht nach vorne bewegte und Opfer des spitzen Dolches wurde.
„Wir geben euch Finja im Austausch für Polonius. Das ist der Deal." Verschwunden war die zumindest teilweise freundliche Alakta, die Finja die letzten zwei Tage kennengelernt hatte; jetzt war die berechnende junge Frau wieder zurück.
Billy nickte bitter und gab Jamie ein Zeichen, besagten Polonius wohl schnell zu holen. Der Junge verschwand die Treppe hoch. Finja hoffte, dass es Polonius gut ging; sie wollte nicht wissen, was diese Alakta sonst mit ihr machte.
Ein Blutstropfen löste sich von ihrem Hals und lief quälend langsam runter, über ihr Schlüsselbein, bis er schließlich den Saum ihres Kleides rot färbte.
Eine unerträgliche Stille breitete sich aus, bis Jamie die Treppe wieder runter getrampelt kam, diesmal mit dem schüchternen Typen aus der Bibliothek im Schlepptau. Das war dann wohl Polonius; er sah putzmunter aus.
Als der Grieche Alakta und Jonah erkannte, war er nicht mehr zuhalten:
Er warf sich Jonah in die Arme, der ihn, obwohl sich seine Zittrigkeit verschlechtert hatte, auffing, liebevoll umarmte und ihm einen kurzen Kuss auf den Mund gab. Darauf hatte er die ganze Zeit gewartet.
Blitzschnell ließ Alakta Finja los, packte Jonah und Polonius und schon waren sie verschwunden.
Sobald sie allein waren, stürzten ihre Freunde vor und bombardierten sie mit Fragen:
„Wo warst du?", fragte Lilie besorgt und prüfte sie auf Verletzungen.
„Wohl eher, wann warst du?", wand Jamie mit wissenschaftlicher Neugierde ein.
„Geht es dir gut?", fragten Jakob und Billy gleichzeitig. Sie lächelte alle ihre neuen Freunde an; gerührt davon, wie sie sich alle um sie kümmerten.
Finja erzählte ihnen alles bis ins kleinste Detail, wobei Nikolai und die unbekannte Frau, die sich an seiner Seite hielt, bei dem Teil mit den Franzosen stutzen.
Doch niemand wusste, wer diese Leute waren. Allerdings hatten sie auch etwas andere Sorgen im Moment.
Nikolai stellte ihr die Fremde als Clara vor, erzählte ihre Geschichte mit den 12 Königen und die beiden nickten sich zur Begrüßung zu.
Clara hatte sie an etwas erinnert: Finja griff in ihr Kleid, doch fand den Stein nicht. Erschrocken dachte sie, ihn verloren zu haben, aber da fanden ihre Finger schon den runden Umriss. Der Stein war noch völlig intakt und Finja zeigte ihn ihren staunenden Freunden.
„Das fass ich einfach nicht! Du hast ihn tatsächlich gefunden, Finja! Meine Güte!", Jakob sah aus, als wäre er Finja am liebsten um den Hals gefallen. Sie fühlte sich ausgesprochen geschmeichelt.
Entsetzt musste sie aber feststellen, dass sie nur noch eine Nacht von der Apokalypse trennte!
Jedoch hatten sie jetzt immerhin alle Steine beisammen und somit, die bestmögliche Waffe gegen die Naruli.
Einen richtig ausgearbeiteten Plan hatten sie nicht, alles klang noch etwas schwammig:
Sie mussten morgen in aller Frühe zum Hafengebiet, wo Alakta das Portal erschaffen lassen will; allerdings konnten sie die 13 Könige erst verwenden, wenn das Portal mal geöffnet war.
Ihr Zeitplan war ab diesem Zeitpunkt dann verdammt eng; aber besser konnten sie auch nicht planen, da zuviele Komponenten von den Mitraern abhingen.

Sie hatten beschlossen, alle früh ins Bett zugehen, da morgen ein großer Tag auf sie wartete, da sollten alle ausgeschlafen sein.
Allerdings hatten sie die Schlafstätten diesmal anders verteilt: Jamie hatte sich in der Küche niedergelassen, Mia könnte Sakis Zimmer nehmen und Nikolai und Clara würden in Billys Zimmer schlafen, der sich extra eine schmale Luftmatratze, die Saki überraschend noch im letzten Winkel der Garage gefunden hatte, aufgepumpt hatte und bei Finja im Wohnzimmer übernachten würde.
Billy war noch im Bad, als Lilie sich zu Finja in das sonst leere Wohnzimmer gesellte. Sie setzte sich neben ihre Freundin auf die Couch, die Finja als Bett diente, und lächelte sie leicht an.
Lilie wirkte unsicher, wie sie beginnen sollte, was sehr untypisch für die spontane Frau war.
Finja fiel auf, dass ihre Brille fehlte und fragte ihre Freundin danach, sie antwortete nur düster: „Sana." und Finja nickte verständnisvoll.
„Aber deshalb bin ich nicht hergekommen.", Lilie sprach so schnell, als würde sie das Gesagte liebend gerne noch schneller loswerden.
„Bisher, bisher hatte ich nicht die Chance es dir zu sagen, aber...", sie biss sich peinlich berührt auf der Lippe herum, „aber als du im Winterpalast von diesem Limenti verletzt wurdest, gab er etwas von seinem Gift an dich weiter... Das ist nicht schlimm, überhaupt nicht; Gott, ist mir das schon oft passiert, kein Ding!", lachte Lilie zittrig beim Anblick von Finjas aufgerissenen Augen. Aber sonst schien sie ihrem Blick auszuweichen, „die Sache ist nur, wenn das passiert, erzählt man praktisch...die Wahrheit. Man macht eine komplett wahre, sehr persönliche Aussage; und bei dir war es eben die Geschichte mit deinem Vater...", schloß sie kleinlaut.
Oh, nein, hatte sie das wirklich gesagt??
„Hey, wir müssen nicht darüber reden! Ich wollte dir nur Bescheid geben; ich mag es nicht so in die Privatsphäre anderer einzudringen.", meinte Lilie eilig, als sie Finjas entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkte.
„Und vielleicht fühlst du dich schlecht, weil er gegangen ist, aber das heißt nicht, dass es deine Schuld ist. Hörst du? Es ist nicht deine Schuld. Dein Vater sollte dich lieben und schätzen, schon klar; aber manchmal ist das einfach nicht so; Familie ist nicht immer biologisch, sondern man kann sie sich auch aussuchen. Wir lieben dich und egal was morgen passiert, es war mir eine unglaubliche Ehre dich gekannt zu haben.", Lilie war entschlossen ihrer Freundin das Gefühl zu vermitteln geliebt und gebraucht zu werden.
Sie umarmten sich. Finja hat schon viel über ihren Vater gehört; tröstende Wort, aber noch nie hat jemand ihre Gefühle so gut ausdrücken können.
„Danke", flüsterte sie in Lilies dunkle Locken.
Die beiden saßen da, bis Billy oben die Badezimmertür öffnete und laut die Treppe hinunter kam; da lösten sie sich voneinander und Lilie drückte sich an Billy vorbei.
„Und lasst euch nicht von den Bettwanzen kneifen!", rief sie ihnen noch hinunter. Finja musste lachen, doch der immer fröhliche Billy flüchtete nur ohne eine Reaktion unter seine Decke.
Angespornt von Lilies Rede, war sie entschlossen ihrem Freund genauso mitfühlende Worte entgegenzubringen wie Lilie.
„Billy?"
„Hm?"
„Wie geht's dir?"
„Gut."
„Das stimmt nicht und das weißt du auch.", schloss Finja traurig. Billy weigerte sich vehement sie anzusehen.
„Nein, nein, alles gut.", versicherte er, doch seine Stimme klang seltsam belegt.
„Es tut mir so leid.", Finja rutschte von der Couch auf die Luftmatratze und kniete sich neben Billy, der sich langsam wieder aufsetzte.
„Niemand kann sie mehr zurückholen und alles, was ich oder sonst jemand dir jetzt erzählt, macht Theias Tod wieder okay, aber irgendwann wird dieser Schmerz, den du jetzt fühlst, ein Teil von dir sein. Der Schmerz wird nie ganz weggehen, aber er wird sich verwandeln in etwas Lebendiges und das wirst du sein.", sie wusste ihre Worte waren nicht perfekt, doch Billy legte seine Arme um ihre Schultern. Sie spürte etwas Nasses und brauchte einpaar Sekunden um zu verstehen, dass er weinte.
Schützend nahm sie den Blonden in den Arm und versuchte ihn durch beruhigende „Shh,shh"-Geräusche zu beruhigen.
Irgendwann schliefen sie schließlich in dieser Position ein: beide auf der Luftmatratze und die Arme übereinander.
Obwohl es sehr unbequem und eng war, konnte Finja sich keinen besseren Schlafplatz für den Moment wünschen.
Morgen würden sie die Welt retten, und alle würde gut werden, versuchte sie sich einzureden.
Sie mussten es schaffen.
Sonst würde morgen das Undenkbare geschehen.

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