Kapitel 36

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„Das große Unglück ist leider sichtbar. Das große Glück ist leider unsichtbar." ~Anita

Jerusalem, Israel
Ca. 1249 n. Chr.

Auf einen Schlag bekam die Welt wieder etwas Farbe und Finja landete mit einem plumpen Geräusch auf dem Rücken auf einem hartem, unebenen Untergrund.
Der Sauerstoff wurde aus ihren Lungen gepresst, sodass sie schnappend Luft holen musste.
Finja setzte sich aufrecht hin und sah, dass es dort an dem Ort, an dem sie gelandet waren, ebenfalls noch Nacht war, allerdings konnte man weit entfernt am Horizont, an den weichen, hellen Verfärbungen des Himmels, erkennen, dass die Sonne bald aufgehen würde.
Sie lag auf der Erde, irgendwo, umgeben von einpaar einsamen Sträuchern und Pflänzchen, aber sonst war die Gegend eher karg; außerdem war es unfassbar heiß und schwül. Wenige Kilometer von Finja entfernt konnte sie eine große Stadt mit einer Stadtmauer erkennen. Zumindest gab es hier Menschen, und sie waren nicht irgendwo ganz alleine gestrandet.
Blieb die Frage, wo genau dieses irgendwo eigentlich war.
Neben ihr richteten sich Alakta und Jonah stöhnend auf.
„Wo zum Geier sind wir?", fragte der junge Mann verwirrt und sah sich, genau wie Finja in der neuen Umgebung um.
Einzig Alakta, die mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand auf ihren blutenden Arm gepresst hatte, schien zu wissen, wo sie gelandet waren:
„Die Frage ist nicht wo, sondern eher wann."
Finja schluckte. Waren sie etwa in der Vergangenheit?! Sie wusste, dass Alakta und Jonah durch die Zeit reisen konnten; hatten also sie sie hergebracht?
Alakta betrachtete kritisch zuerst die entfernte Stadt, und dann ihre beiden Begleiter. Als ihr Blick auf ihren Bruder fiel, wurde er sorgenvoll.
„Wir sind in Jerusalem; wahrscheinlich zu Zeiten der Kreuzzüge, des 6., würde ich sagen, also so um das Jahr 1249.", brachte Alakta zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
Bitte was?! Oh Gott!
Finja sah sich suchend um, ob es wohl ein Schild gab, á la ‚Hallo, liebe Zeitreisende; ihr seid im Jahr so und so vor den Toren der Stadt xy gelandet. Viel Spaß bei eurem Aufenthalt', von dem Alakta diese Informationen haben könnte, aber natürlich gab es so etwas nicht.
Wäre ja auch zu schön gewesen...
„Woher weißt du das?", fragte Finja misstrauisch.
Alakta würdigte sie keines Blickes:
„Ich weiß es einfach.", meinte sie geheimnistuerisch.
„Ach du Scheiße", murmelte Jonah und sprach damit genau das aus, was Finja auch dachte. Entmutigt sank er auf dem nächstgelegenen Stein zusammen.
„Aber ihr könnt uns doch wieder zurückbringen, oder?", fragte Finja hoffnungsvoll.
Alakta sah sie an, als hätte sie behauptet die Erde sei eine Scheibe. Dann schaute sie zu ihrem Bruder, der düster nickte.
„Nein, können wir nicht.", und nach kurzem Zögern: „Anscheinend haben sich unsere Kräfte vorhin verkeilt, weswegen wir überhaupt die Energie hatten, uns und dich soweit in die Vergangenheit zu bringen. Andernfalls hätten wir das nie geschafft. Jetzt aber sind wir beide, und ich denke mal du auch, komplett leer gebrannt, oder?"
Finja nickte, sie fühlte sich tatsächlich ziemlich erschlagen. Bestimmt würde sie jetzt nicht mal einen kleinen Energieblitz zustande bringen.
„U-Und was heißt das jetzt konkret?", fragte sie nach.
„Abwarten. Bis sich unsere Kraft und Magie wieder einigermaßen erholt hat.", brummte Jonah.
Na toll, sollten sie jetzt etwa, weiß der Geier wie viele Tage in Israel im 13. Jahrhundert verbringen?
Finja bekam langsam Kopfweh von dem ganzen Theater der letzten Tage, aber vielleicht war es auch nur, weil sie gerade all ihre Energie auf einmal verpulvert hat.
Alakta riss sich etwas Stoff von ihrem T-Shirt ab und wickelte es behelfsmäßig um die Wunde an ihrem Oberarm. Mit sorgenvoller Miene wandte sie sich ihrem Bruder zu:
„Wie viel hast du noch?"
Finja beobachtete gespannt, was Jonah, der angefangen hatte in seiner Tasche zu wühlen, wohl herausholen würde. Vielleicht etwas, das ihnen helfen könnte?
Deshalb war sie auch etwas enttäuscht, als sie sah, dass er nur drei kurze Stäbe in der Hand hielt.
„Drei.", verkündete Jonah nüchtern.
„Verdammt...", Alakta biss sich auf die Lippe und fuhr sich mit der Hand über das müde Gesicht.
Jonah packte seine drei Stäbe wieder ein und erst da verstand Finja, was das überhaupt war: Es waren diese Pens, die Diabetiker sich immer spritzen mussten.
Finja war jetzt keine Ärztin, aber ihr war klar, dass Jonah diese Pens wahrscheinlich zum Essen oder anderweitig regelmäßig nehmen musste.
Er hatte noch drei Stück, das war nicht besonders viel.
„Na gut", begann Alakta, „das wichtigste ist jetzt, dass wir uns ausruhen. Aber nicht hier; wir müssen in die Stadt und dort einen sicheren Schlafplatz finden. Immerhin gibt es dort keine wilden Tiere."
Instinktiv zog Finja ihre Beine etwas näher an ihren Körper ran.
Schweigend standen alle drei auf, wobei Jonah immer noch abwesend in die Ebene starrte. Er schien nachzudenken.
Finja konnte Alakta und Jonah vielleicht nicht wirklich trauen, aber sie brauchte die beiden, sonst würde sie nie wieder nach Hause kommen. Und umgekehrt war es genauso: die beiden brauchten sie, damit sie genug Energie zur Verfügung hatten und rechtzeitig in ihrer Zeit ankamen.
Auch wenn keiner ein Wort sagte, gingen die drei so etwas wie einen Pakt ein.

Nach gefühlten Stunden kamen sie endlich an ihrem Ziel an, in Wahrheit konnte ihr Fußmarsch nicht sehr lange gedauert haben, denn die Sonne zeigte sich zwar schon mehr, aber es war immer noch nicht ganz Morgen. Zum Glück war das große Holztor der Stadtmauer offen und sie schafften es, sich unbemerkt hineinzuschleichen. Finja war so erschöpft, dass sie jetzt gleich einfach ins Bett fallen könnte. Leider mussten sie erst eins finden.
Ein weiteres Problem war ihre Kleidung: alle drei trugen immer noch ihre modernen Klamotten, mit denen sie allerdings von allen Seiten dumm angemacht werden würden, wenn sie nicht bald etwas Neues zum Anziehen finden.
Obwohl es noch sehr früh war, fühlte sich die Luft schon sehr drückend an und es waren auch schon einige Leute unterwegs; die meisten waren Händler, die in den engen Straßen ihre Stände aufbauen wollten.
Um nicht aufzufallen, mussten Finja, Alakta und Jonah sich hinter den Häusern oder im Schutz der Schatten bewegen, bis es Alakta gelang zwei bodenlange Kleider und Kopftücher für sich und Finja , und eine weite Hose für Jonah von einer Wäscheleine zu stibitzen.
Finja tat die arme Familie ja leid, die sie gerade bestahlen, aber sie hatten nunmal  keine andere Wahl.
Die drei unterhielten sich während ihres Ausflugs nur sehr wenig, sie hatten keine gemeinsamen Themen.
„Da", rief Jonah auf einmal und deutete auf ein etwas heruntergekommenes Haus, „da können wir schlafen."
Tatsächlich stand vor der Tür ein Schild mit hebräischer Aufschrift.
Finja hatte von Alakta erfahren, dass sie trotzdem alles in der fremden Sprache verstehen konnten, was, wie Finja fand, ein großer Vorteil war.
Müde gingen sie auf das Lehmhaus zu und Jonah klopfte einmal kräftig. Nach einiger Zeit öffnete eine untersetzte, ältere Frau mit einem leuchtend blauen Kopftuch die Tür und sah sie erstaunt an. Wahrscheinlich bekam sie so früh morgens nicht oft Kunden.
„Guten Tag, wir möchten bitte ein Zimmer mieten.", erklärte Jonah freundlich. Er musste alles klären; schließlich waren sie in einer sehr männerdominierenden Zeit gestrandet.
Die Frau nickte freundlich und lächelte sie fröhlich an, wobei man ihre vielen fehlenden Zähne sah.
Wahrscheinlich freute sie sich aber nur über das Geld (das sie nicht hatten).
Die Frau führte sie stumm ins Haus, eine sehr einsturzgefährdet aussehende Treppe hoch und in ein kleines Zimmer mit einem winzigen Fenster. Dort drin gab es nicht viel. Fast gar nichts, wenn man's genau nimmt, nur zwei Ledermatten auf dem Boden.
Jonah verzog sich in eine Ecke des kleinen Raumes, um etwas Privatsphäre zu haben, was aber fast unmöglich war. Als Finja sah, dass er dabei war sich einen dieser Pens anzusetzen, drehte sie sich diskret weg.
Alakta und Jonah rollten sich auf der einen Matte dicht zusammen, das hieß für Finja blieb die andere übrig.
Obwohl es verdammt unbequem und sehr heiß war, konnten sie endlich, endlich schlafen.

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