Kapitel 28

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„Rücksicht setzt Einsicht voraus." ~Gerhard Branstner

Finja wusste nicht mehr, wie sie in den großen Raum mit den weißen Laken über den Möbeln gekommen war, aber Lilie führte sich, was schon mal beruhigend war.
Sie erinnerte sich nur noch daran, dass sie gegen die Limenti gekämpft und sie sogar besiegt hatte (Ha!), dann hatte Lilie sie gefunden, und dann...?
Ab da war alles verschwommen und undeutlich, hatten die beiden noch geredet? Ja, oder? Aber über was?
Die beiden Freundinnen gingen durch eine prunkvolle schwarze Tür, und Finja wollte Lilie gerade nach ihrem Blackout fragen, als eine Stimme panisch schrie:
„Nein! Rennt weg!" Es war Billy, der mit auf dem Rücken gefesselten Händen neben einer weiteren braunen Tür kniete. Seine blonden Haare hingen ihm wirr ins Gesicht und in seinen Augen stand ein unbeschreiblicher getriebener Ausdruck.
Erst jetzt bemerkte Finja, dass Billys Fesseln ganz aus Eis waren.
Sana.
Die beiden Freundinnen wollten fliehen, doch zu spät: Eine massive Eiswand versperrte ihnen den Rückweg.
Ein gemeines Lachen ließ die beiden abermals herumwirbeln; Sana betrat den Raum und ihr folgten ein unbekannter Mann in Lederklamotten und ein älterer Herr in einer Tweedjacke. Er kam Finja seltsam bekannt vor....
„Herr Hartmann?!", das gibt's doch nicht! Da stand ihr Chef und lächelte ihr freundlich zu. Also steckte er doch in alldem drin! Wer weiß, vielleicht war er sogar dieser Vorspieler...
Was war das denn für eine Arbeitsstelle?!Waren da etwa alle Psychopathen?!
„Hallo, Finja.", begrüßte Herr Hartmann sie heiter.
Doch er war schnell vergessen, als Billy stöhnte: „Es...ist eine Falle. Er ist...der Verräter." und blickte auf den Mann mit der Lederkluft, der sich sichtlich unwohl unter Billys Blick fühlte. Die Ketten schienen so kalt zu sein, dass sie Billys Haut schmerzhaft verbrannten.
„Oh mein Gott, Liam?!", Lilie hatte den Mann auch erkannt.
Liam? Der Name kommt mir bekannt vor.
War Liam nicht Theias Mann, zu dem sie wollte um Informationen zusammen zu suchen? Aber wenn er hier und der Verräter war, wo war dann Theia??
Lilies suchte nervös nach einem Fluchtweg, aber es war zwecklos; sie konnten Billy ja schlecht hier lassen.
„Du Verräter!", Billy spuckte vor Liam auf den Boden und wollte auf ihn zukriechen, wurde aber von seinen Fesseln daran gehindert.
„Ganz ruhig. Das bringt überhaupt nichts mehr. Ihr werdet sterben.", grinste Sana. Ihre dunklen Augen flackerten. Finja hatte das seltsame Gefühl, dass diese Frau tatsächlich wahnsinnig sein könnte. Herr Hartmann betrachtete Finja mitleidig, aber sie würdigte ihn keines Blickes.
Eine Frau, die Finja noch gar nicht bemerkt hatte, trat ins Licht und sie erkannte sie als Alakta Dahl wieder. Sie humpelte, also hatte Lilies Wurfstern sie doch schwerer verletzt! Finja konnte nicht anders als etwas Schadenfreude zu empfinden. Diesmal war Alakta aber alleine gekommen.
Mit harter Miene betrachtete sie die Gefangenen: Billy, der immer noch gegen die Fesseln ankämpfte und Finja und Lilie, beide voller Blut und sichtlich erschöpft.
Jetzt fiel Finja auch auf, was sie die ganze Zeit gestört hatte: Woher wusste Sana, weshalb sie ihre Bibliothek aufsuchen wollten? Nun war es klar: Alakta musste ihr mitgeteilt haben, dass die Rebellen eine Energiewerferin auf ihrer Seite hatten und sie musste nur noch eins und eins zusammen zählen.
„Oh und ich hab noch eine Überraschung für euch...", mit diesen Worten streckte Sana einen Arm aus und aus der Luft materialisierte sich eine weiter Eiskette. Die Wintermentikerin zog einmal kurz daran und aus dem anderen Zimmer kam Theia gestolpert, deren Hände ebenfalls in den Handschellen am anderen Ende der Kette steckten.
„Nein!", schrie Billy weiter, „Lasst sie los!"
Theia schien unverletzt, jedoch waren ihre Augen rot und geschwollen und sie sah aus als hätte sie geweint.
Trotz allem, trotz der Tatsache, dass ihr Mann sie verraten und sie gefesselt war, schaffte Theia es ermutigend zu lächeln.
„Liam ist der Verräter, wie ihr schon mitbekommen habt", begann sie zu reden; in ihrer Stimme schwang Bitterkeit und Enttäuschung mit, „Er hat Alakta die Namen der unentdeckten Mentiker gegeben."
Sie schaute ihren Mann dabei keine Sekunde lang an. Liam schien sich sehr unwohl in seiner Haut zu fühlen und senkte die Augen, doch Finja konnte kein Mitleid für ihn aufbringen.
„Es wird Zeit.", flüsterte Alakta geheimnisvoll und breitete die Arme aus.
Herr Hartmann, Sana und Liam stellten sich schutzsuchend hinter sie, während Theia, Finja und Lilie sich zu Billy gesellt hatten.
Sie mussten das, was auch immer jetzt kam, gemeinsam bekämpfen.
Vor Alakta begann die Umgebung sich zu drehen, zu winden, wie bei einem kleinen Tornado, mit dem Unterschied, dass sich die Luft schwarz, rot und weiß färbte.
Die Schneewittchenfarben.
Ein Surren war zu hören und ein Wind kam auf; goldene Punkte tanzten von dem Tornado aus, in den Raum hinein.
Dann manifestierte sich eine Gestalt im Auge des Wirbelwindes; sie wurde immer größer bis sie schließlich aus der zirkulierenden Luft ins Freie trat.
Es war ein Mann in einer Soldaten-Uniform. Seine eigentlich sanften Züge waren zu einer wütenden Fratze verzogen. Kerzengerade stand er da und starrte sie ihn an.
Selbst Billy war ganz ruhig geworden, und Theia flüsterte ängstlich, aber auch voller Respekt: „Das ist Sakerdos; einer der Naruli, ich glaube er ist Zorn."
So sahen die Naruli also aus? Irgendwie hatte Finja da mehr erwartet, aber vielleicht kommt das ja noch. Schließlich war Sakerdos noch nicht richtig da, nur ein Teil von ihm.
Aber der würde schon ausreichen, um sie zu töten.
Stumm bewegte Sakerdos den Kopf und aus dem Nichts tauchten um ihn herum zwei Duzend Limenti auf, die sich aber noch nicht rührten.
„Wir sollten ihnen wenigstens die Chance geben sich zu verteidigen, denkt ihr nicht?", sagte Sana gedehnt und Billys und Theias Fesseln schmolzen. Schnell standen die beiden auf. Sana hielt sich wahrscheinlich für gönnerhaft, aber Finja verachtete sie dafür nur noch um so mehr.
Sakerdos hob die Hände, die nur aus wirbelnden Strudeln bestehen zu schienen und die Limenti griffen an.
Während Lilie, Theia und Billy sich um die Schattenwesen kümmerten, nahm Finja sich den Naruli vor.
Sie wusste was jetzt kommen würde: Sakerdos versuchte sie aufzusaugen, ihnen alle Magie, ihr ganzes Sein zu nehmen.
Das konnte Finja nicht zulassen, sie war die Einzige, die wenigstens etwas gegen Sakerdos ausrichten konnte.
Sie stellte sich breitbeinig hin und hob ebenfalls die Arme; sie kopierte Sakerdos' Haltung.
Verwirrt blickte dieser zuerst auf Finja und dann zu Alakta, die schneeweiß geworden war.
Finja lenkte die Energie zu ihren Händen, wo sie als zwei weiße Blitzstrahlen heurausgeschossen kamen, direkt auf Sakerdos zu.
Dieser kreischte erbost auf: „Alakta! Was hat das zu bedeuten?!", dann zerfiel er zu nichts, genau wie der Mini-Tornado, der bis jetzt immer noch in der Luft geschwebt hatte.
Die Limenti lösten sich ebenfalls auf. Perplex und verwirrt standen Finjas Freunde in der Leere, wo sie gerade noch gekämpft hatten, bevor sie zu Finja blickten.
Diese musste auf die Knie gehen, um nicht umzukippen. Das war vielleicht doch etwas viel Magie gewesen....
Ihre Freunde stürzten auf sie zu, weshalb sie auch nicht bemerkten, dass Liam von irgendwoher Pfeil und Bogen hatte. Ohne mit der Wimper zu zucken, schoß er einen Pfeil ab. Finja wollte noch eine Warnung ausstoßen, aber da war es bereits zu spät: Der Pfeil traf Theia in den Rücken, trat durch ihre Brust wieder heraus und die Araberin sackte zusammen.
Billy fing sie geistesgegenwärtig auf und starrte entsetzt auf das Blut, das langsam aus der Brust der Toten floss.
Finja lag immer noch wie benommen auf dem Boden, doch Sana rannte mit einer Axt aus Eis auf sie zu. Ihr hübscher Anzug war ganz zerknittert.
Finja konnte nicht viel ausrichten, und auch Billy war beschäftigt, aber Lilie preschte unter Wutgeschrei nach vorne, wich Sanas erstem Hieb aus, packte das Handgelenk der anderen Frau, und drehte ihren ganzen Arm nach hinten. Somit schaffte es Lilie, Sana die Axt aus den Händen zu reißen. Sie holte aus, aber Sana konnte ausweichen und trat den Rückzug an; stattdessen war Liam auf die Kämpfenden zugeeilt und versuchte Lilie mit einem seiner Pfeile zu treffen. Diese lenkte sie jedoch ab und ließ dann Sanas Axt in Liams Schädel fallen.
Er ging sofort zu Boden und sein Gehirn verteilte sich auf dem Boden.
Billy war derweil zusammengesunken und wimmerte leise bei Theias Anblick, deren Augen ins Leere starrten.
Seine Unterlippe zitterte leicht und Tränen liefen ihm übers Gesicht, während er verzweifelt versuchte die Wunde zu versorgen, was natürlich gar nichts brachte, schließlich war Theia schon tot.
Finja kroch auf ihn zu und streichelte ihm sanft über den Rücken. „Billy, hör auf, es bringt nichts mehr...", keuchte sie, Finja sah immer noch schwarze Punkte, aber es ging schon besser.
Billy presste die Lippen aufeinander und schloß Theias offene Augen, bevor zu schluchzen begann.
„N-nein, bitte nicht...", wimmerte er.
Da kam die Rettung, die Finja schon ganz verdrängt hatte:
Der Engel und seine Garde kam durch die Eiswand hereingeeilt.
Beim Anblick der Polizisten, die alle das Symbol violetter Schwingen auf der Brust trugen, flohen Sana, Herr Hartmann und Alakta, die die ganze Zeit nur wie gelähmt auf den Punkt gestarrt hatte, an dem Sakerdos verschwunden war.
Niemand folgte ihnen oder versuchte sie aufzuhalten.
Billy fing jetzt richtig an zu schreien und zu weinen. Lilie stürzte auf ihn zu und nahm den Blonden in den Arm, während sie ihn sachte hin-und herwiegte. Auch sie weinte leise.
Finja fühlte sich bei dieser Emotionalität seltsam fehl am Platz: sie wollte ihre trauernden Freunde nicht stören, also wandte sie sich an den Engel, der die Situation auch erkannt hatte und sie jetzt traurig ansah. Leise befahl er seinen Leuten die Partygäste unten in Sicherheit zu bringen.
Niedergeschlagen zog der Engel Billy hoch: „Kommt, ihr könnt nichts mehr für sie tun."
Mit sanfter Gewalt lösten er und Lilie Billy von Theias Leiche, die er fest umklammerte, als könnte sie nochmal sterben, wenn er sie losließe.
Zu Finja sagte Engel über die Schulter: „Ich hab dein Auto mitgebracht." Sie nickte. Zu mehr war sie nicht mehr fähig.
Sie gingen an den neugierigen Gästen und den Polizisten von Engel vorbei, aber diese rührten sie nicht an, solange ihr Boss nichts sagte.
Sobald Billy und Lilie auf der Rückbank saßen, wandte sich Engel an Finja:
„Sie war seine Mentorin, musst du wissen. Wie eine zweite Mutter." Finja nickte erneut, sie fühlte sich wie betäubt, ob vor Trauer oder vor Erschöpfung.
„Mach dir keine Sorgen um die Leiche, wie bergen sie. Ich halte euch die Polizei von Hals." Engels Stimme klang aufrichtig und Finja sah in seinen Augen echte Betroffenheit.
Er sah Billy durch die Scheibe des Wagens an, dann fiel ihm noch etwas ein: Er schnippte kurz mit den Fingern und einer seiner Polizisten kam auf sie zu. Mit einer Plastiktüte in der Hand, die er Finja stumme reichte, bevor er wieder verschwand.
Dadrin waren in Alufolie eingewickelte Sandwiches. Finja fiel auf, dass sie schon den ganzen Tag nichts gegessen hatten, aber sie bezweifelte, dass jetzt jemand Appetit hätte.
„Tut mir leid, mehr kann ich nicht für euch tun.", entschuldigte sich Engel und ging wieder zurück zu seinen Leuten.
Finja setzte sich mit zitternden Fingern hinters Steuer und fuhr nach Hause.

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