Kapitel 11: Der erste Streich

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Leahs Sicht

Die Anfangsphase hieß Beobachtung. Ich war seit fast zwei Jahren nicht mehr in Seattle gewesen, daher musste ich vorsichtig abtasten, was sich verändert hatte. Im Haus meiner Eltern konnte ich seine Visitenkarte auftreiben und mir seine Adresse nur zu gut eingeprägt. Sein Büro lag inmitten der erfolgreichen Wirtschaftszone von Seattle, in einem der Hochhäuser der City. Offenbar war es dem korrupten Arsch gut ergangen, mit seinen kriminellen Kniffen und Tricks.

Ich fuhr mit dem Bus nach Seattle, das letzte Stück mit der Bahn, bis ich im besseren Teil der Stadt stand. Mein Budget lag bei 500 Dollar, der Hälfte von Bellas Startkapital. Ich hoffte dennoch, nicht alles ausgeben zu müssen. Nun stand ich gegenüber von einer Kanzlei, auf einer sehr edlen Marmorplatte in großen Buchstaben wie angeprangert stand: Kanzlei J.Jenkins, Notare für alle Gelegenheiten. Passender Name, dachte ich und musste grinsen.

In der unmittelbaren Umgebung lagen vier Restaurants, die natürlich noch nicht voll besucht waren, da es noch vor 12 war. Das das mir am nächsten lag, war ein Französisches mit hübscher honigfarbener Holzvertäfelung, wie ich durch die große Fensterfront erkennen konnte. Perfekt!

Ich schritt durch die Eingangstür und dem Kellner an der Garderobe, der mir meine Jacke abnahm sagte ich „Ein Einzeltisch am Fenster bitte" und schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln. Ich wusste, dass er es mir nicht abschlagen konnte, denn so wie ich aussah hätte ich gut und gerne eine erfolgreiche Businessfrau aus einem der umliegenden Büros sein können. Heute morgen hatte ich über eine Stunde vor dem Spiegel gestanden und mich so hergemacht wie nicht einmal zum Abschlussball der Schule im Reservat. Niemand hätte mir jetzt noch abgekauft, dass ich erst 17 war, locker ging ich als 21 durch. Meine Augen waren dezent betont und ich hatte mein Gesicht so konturiert, dass es noch eckiger aussah, noch strenger und vor allem noch entschlossener. Mein Geburtsmal hatte ich mit Make Up versteckt, was mein Gesicht sofort weicher erscheinen ließ. Dazu ein wenig dunkler Lippenstift und dunkelgraue, schlichte Klamotten, die ich aus dem Kleiderschrank meiner Mutter stibitzt hatte. Mein kurzes Haar hatte ich aus Alternativlosigkeit mit dem Bügeleisen geglättet, bis es ganz gerade herunterfiel und eine scharfe Kante an meinem Kinn bildete. Meine Ethnie war mir deutlich anzusehen und es gefiel mir. Ich hoffte nur, dass ich mit diesem Aufzug nicht herausstach in dieser mir unbekannten Welt von Geld, Macht und Schönheit.

Doch der Kellner führte mich direkt an den Platz, den ich mir vor kurzen von draußen ausgesucht hatte. Ich bestellte das Erste, das ich auf der Karte fand. Die Gerichte standen dort allesamt auf französisch und ich war sicher, nichts davon schon einmal gesehen, geschweige denn gegessen zu haben, selbst wenn ich die Auswahl verstanden hätte. Dazu eine Flasche Wasser, ich musste mein Glück ja heute nicht reizen und einen Wein bestellen, dessen Namen ich nicht einmal aussprechen konnte.

Dann wartete ich.

Das Essen war weniger exotisch als ich gedacht hatte, offenbar Truthahn und kleine Kartoffeln, in Rosmarin geschmort. Dazu wurde reichlich Baguette und Käse gereicht, der auf einer goldenen Platte unter einer gläsernen Käseglocke lag.

Es schmeckte alles sehr lecker, trotzdem fand ich die 70 Dollar für den Truthahn und 13 Dollar für die Flasche Wasser wirklich ungerechtfertigt! Ich trödelte mit dem Essen, kaute das knusprige Brot extra langsam um mich länger im Restaurant aufhalten zu können und beobachtete unauffällig die Straße. Jedoch umsonst, wie es schien. Es wurde halb eins und schließlich ein Uhr. Bis auf die letzten Krümel hatte ich das Brot verputzt und jetzt schien es mir aussichtslos. Das Geld würde ich Bella vollständig zurückgeben, es hatte mich schließlich niemand gezwungen, in diesem hochpreisigen Restaurant zum Mittag zu essen. Ich musste einen anderen Ansatz finden, mich Jenkins anzunähern. Die Rechnung lag bereits in einem ledernen Umschlag auf dem Tisch und ich schob die passenden Geldscheine hinein. Im Eingangsbereich hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet, also wartete ich höflich auf meinen Blazer.

Und plötzlich sah ich ihn. Einen Steinwurf entfernt stand er, in einem blauen Anzug mit weißer Krawatte und schwatzte mit einem seiner Kollegen. Sein Haar war zurückgegelt und sein Gesicht glänzte vom Schweiß. Er war schmierig und falsch und sein ganzer Körper strahlte das aus. Es war zu spät die Flucht einzuschlagen und so schenkte ich ihm ein kleines Lächeln, ohne meine Zähne zu zeigen. Du kranker Spinner dachte ich und sah zu Boden als er mein Lächeln erwiderte. Sein Blick war interessiert, aber ich hatte erleichtert bemerkt, dass er mich nicht wiedererkannt hatte. In Gedanken sprach ich ein Stoßgebet, dann hörte ich wie der Ober ihn begrüßte:

„Mister Jenkins, es ist mir eine besondere Freude Sie zu sehen. Bitte lassen sie mich ihre Jacke abnehmen."

„Pierre" Jenkins sprach gönnerhaft „Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie mich J nennen sollen" Er schüttelte gebieterisch den Kopf. Eingebildeter Vollidiot

„Wie geht es meinem alten Freund Phillippe? Ist er anzutreffen?"

„Zur Zeit ist er außer Haus, aber ab morgen wird er wieder jeden Tag hier sein. Das „Louis D'Or" ist schließlich sein ganzer Stolz" , antwortete Pierre und warf sich in die Brust.

Jenkins kannte den Besitzer des Lokals? Dann kam er öfter hierher, vielleicht sogar täglich. Ich sah auf meine Armbanduhr. Es war Viertel nach eins. Ich wandte mich an den Kellner, der sich an der Garderobe um die Jacken der Gäste kümmerte, während Jenkins mit dem Ober weiterplauderte.

„Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie mir sagen, wo ich mich frisch machen kann?"

„Natürlich Miss, das ist gleich der Gang da vorne. Die linke Tür führt in die Tiefgarage, rechts geht es zu den Bädern"

Ich streckte die Hand nach meinem Blazer aus: „Den nehme ich gleich mit, ich hab da unten geparkt" Er überreichte mir die schwarze Jacke, ich bedankte mich und ging den Korridor entlang. Dabei musterte ich aufmerksam das Personal: weinrote Hemden, schwarze polierte Schuhe, und alle mit einem blütenweißen Geschirrtuch über dem Arm. Sehr gut! All das hatte ich zu Hause.

Ich lief den Gang entlang, der schummrig beleuchtet war, stilvolle schwarz-weiß Bilder von Paris in den 50er Jahren schmückten die Wände und ich warf mir einen kurzen Blick über die Schulter. Aber niemand folgte mir oder sah mir nach. Dann stand ich vor einer schwingenden Holztür, in der auf Kopfhöhe ein rundes Fenster eingelassen war, wie ein Bullauge. Nach einem schnellen Blick schlüpfte ich in das leere Zimmer und ignorierte geflissen das Schild, das unter dem Bullauge prangerte: Zutritt ausschließlich für Personal. Das Licht anzuschalten hätte zu viel Aufmerksamkeit auf mich gezogen, deswegen musste das Halbdunkel ausreichen. Hastig tastete ich mich vorwärts, bis ich an die Garderobe des Personals gelangte. Da hörte ich gedämpfte Schritte auf dem Flur und mein Atem beschleunigte. Wahllos griff ich eine der Uniformen und riss das Namensschild ab. Ich stopfte es in meine Tasche und flog zurück zur Tür.

Ich betete, dass niemand reinkommen würde und lauschte am Bullauge, doch die Schritte waren vergangen und das einzige, was ich hörte waren das Stimmengewirr der Leute, die sich im Restaurant unterhielten und das helle unbestimmte Klingen von Gläsern und Geschirr. Damit schlüpfte ich aus dem Raum und lief, so schnell ich konnte ohne die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, über den Flur durch die zweite Tür ins Untergeschoss. 

(1) Vulnerability is a sign of strength: Bis(s) zum Sonnenaufgang (TWILIGHT-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt