Kapitel 27: Eneas Vermächtnis

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Bellas Sicht

Was, wenn diese Urne nicht anders beschaffen war, als ein Marmeladenglas? Ich wusste nicht wie lange ich den Kopf in die Hände gestützt da saß und überlegte. Am Rande hatte ich mitbekommen, wie Charlie auf der Couch eingeschlafen war und sein leises Schnarchen erklang im Chor mit Darcys, die sich auf ihrem Küchenstuhl zusammengerollt hatte.

Es schien mir die einzige Lösung.

Ich musste die Temperatur im Inneren der Schatulle erhöhen, sodass der Druck anstieg um die schwarze Schale aufzubrechen und die Urne schließlich zu knacken.

Eine langsame Hitze, ich befürchtete nämlich sonst das Metall zu schmelzen.

Ein Feuer, dachte ich und nahm die warme gesteppte Decke aus der Küchenbank.

Obwohl es heute Nacht überraschenderweise nicht regnete musste ich einen trockenen Platz finden, um ein vernünftiges Feuer entfachen zu können, denn der Regen der vorherigen Tage und Wochen hatte den Boden aufgeweicht. Ich stand unter dem Vordach unseres Hauses und sah mich um. Bei der Überdachung neben der Garage war ein geeigneter Platz, des weiteren lagerten in dem kleinen Nebengebäude unsere Vorräte an Brennholz, was mir gelegen kam, denn ich hatte keine besondere Lust, heute Nacht Holzscheite durch die Gegend zu tragen. Also machte ich mich ans Werk, suchte mir etwas Zeitungspapier heraus und trockene Birkenzweige, die ich als Anmachholz verwendete.

Als ich ein halbwegs brennendes Feuer zustande gebracht hatte, rannte ich in die Küche und nahm meine Pizza und Darcy mit nach draußen, wo ich mich auf einem Campingstuhl in die kuschelige Decke einwickelte. Darcy döste auf meinem Schoß und mein Blick war auf die Urne geheftet, wie sie unbeweglich in der Glut stand. Ich ließ den Tag Revue passieren, Leahs körperliche Annäherungen, Jacobs Gefühle für sie und die Tatsache, dass ich mit zwei Wolfswandlern befreundet war.

Es war schon eigenartig, dachte ich.

Edward hatte gewollt, dass ich ihn vergesse, aber es schien, als hätte er gleichzeitig alles dafür getan, genau das zu verhindern. Der Schlüssel im Blumenkasten, der Kaufvertrag des Hauses und nun diese mysteriöse Schatulle. Als wollte er meine Neugier auf sich und seine Familie nur noch weiter anheizen. Außerdem war da die Tatsache, dass das alte Haus der Cullens erneut zu einem Schauplatz für Fantasiegeschöpfe wurde, wenn auch aus einer anderen Familie. Wirklich merkwürdig!

Aber nicht nur das war der Grund, warum ich meine Gedanken in dieser Nacht nicht von ihm fernhalten konnte. Das Feuer stimmte mich ruhig nach dem anstrengenden Tag und ich erlaubte mir das, was ich mir sonst um jeden Preis verweigerte: Ich ließ die Erinnerungen an die Vergangenheit zu und wurde von einer stürmischen Welle Nostalgie erfasst und davon geschwemmt. Damals hatte ich mich vollkommen und gegen jegliche Vernunft in Edward verliebt und als er vor einigen Monaten gegangen war, hatte er versucht, all das zu vernichten. Doch ich kannte meine Gefühle besser als er und wusste, dass ich ihn und das, was er mit meinem Leben gemacht hatte, schönes und schreckliches, niemals vergessen würde. Ich war nur zu willig gewesen, mich damals in ihn zu verlieben, es war so leicht gewesen wie atmen. Zum tausendsten Mal fragte ich mich, wo er wohl gerade war und wie es ihm ging. In Gedanken durchleuchtete ich all seine Worte, die er zu mir gesagt hatte, sparte auch die schmerzhaften nicht aus, sondern holte alles zurück aus den tiefen Schubladen, in denen ich die Erinnerungen vergraben hatte.

Mit einem Mal war ich verwundert, denn es hatte damals auf mich so gewirkt, als wollte er, dass es passierte. Dass ich mich in ihn verliebte. Deshalb hatte er mich morgens zur Schule abgeholt und mir Geschenke gemacht und war nie freiwillig von meiner Seite gewichen, sondern nur, wenn es nicht anders ging, oder etwa nicht?. Aber als ich jetzt darüber nachdachte, merkte ich, wie sinnlos das klang im Bezug auf seine Abschiedsworte. Meine Gedanken und Gefühle waren ein heilloses Durcheinander. Das was ich wollte, was ich vermutete und die unbestreitbaren Tatsachen lieferten sich einen verbissenen Kampf in meinem Herzen.

Immer wieder legte ich Holz nach und stundenlang war ich vertieft in meine Gedanken, gefangen in Melancholie. Als ich mit brummendem Schädel irgendwann auf den Schluss kam, dass es egal war und dass ich meine Energie besser auf Dinge richten sollte, die ich tatsächlich verändern konnte, vernahm ich ein leises Klicken. Im Osten zeichnete sich bereits das erste Blau des neuen Tages ab, aber ich war nicht müde. Zunächst bemerkte ich gar nicht, dass sich die Urne geöffnet hatte, doch dann sah ich, wie die schwarze Ummantelung des Kästchens ein Stück hervor geschoben wurde und eine Öffnung entblößte, die in der Glut die übrigen Flammen zu absorbieren schien, wie ein schwarzes Loch. Mit dicken, feuerfesten Handschuhen griff ich ins heruntergebrannte Feuer um die Schatulle und ihren Inhalt möglichst schnell aus der Hitze zu retten. Während ich sie auf den kühlen Boden stellte, sah ich, dass das harte Metall der Schatulle entlang der dünnen Linien aufgesprungen war. Ich war so gespannt, dass ich es fast nicht aushielt, die Form abkühlen zu lassen, obwohl ich genau wusste, dass ich mir ordentlich die Finger verbrennen würde, wenn ich nicht aufpasste und wartete.

Die Sekunden schienen still zu stehen und ich näherte mich der Urne, fühlte die sie aus sicherer Entfernung mit meinen Handflächen ab und als ich sicher war, dass ich sie berühren konnte, schob ich meine Hand durch den Spalt und tastete mich vorsichtig weiter. Dort bekam ich etwas zu fassen und schaffte es, den Gegenstand mit Mühe durch den schmalen Riss zu zwängen.

Es war ein Buch, ein rabenschwarzes, in gegerbtes Leder gebundenes Buch. Ich konnte bereits am Geruch wahrnehmen, dass es sehr alt sein musste. Die Seiten waren vergilbt, erkannte ich beim flüchtigen Durchblättern, und als ich die Zeichen darauf bemerkte, verharrte ich kurz. Die gedrungenen Buchstaben waren eindeutig eine Handschrift. Wie alt mochte dieses Buch sein? Und wie einzigartig, falls es keine gedruckte Fassung davon gab?

Da Buchrücken und Cover schlicht und leer waren, schlug ich die erste Seite auf um mir den Titel anzusehen.

La Bibliotheque d'Opale stand da in verschlungenen blassbraunen Buchstaben, die verdächtig nach eingetrocknetem Blut aussahen. Vom Namen des Autors oder der Autorin keine Spur.

Ich blätterte weiter, froh darüber, dass das restliche Buch nicht in dieser eigentümlichen Farbe geschrieben war. Schwierig zu entziffern war es trotzdem, wegen der kleinen und spitzen Buchstaben, deren schwarze Tinte an mancher Stelle zusammengelaufen war. Das vollständige Werk war handgeschrieben, wie ich schaudernd in Gedanken an die vielen Stunden Arbeit feststellte, denn dünn war das Buch nicht.

An der ersten Zeile der nächsten Seite setzte ich an. Sie war auf Englisch geschrieben, wie ich dankbar erkannte, jedoch in einer Färbung, die seit Jahrhunderten nicht mehr verwendet wurde, wie ich im dem Schein der Taschenlampe, die ich mir zur Hilfe genommen hatte, bemerkte.

Ich brauchte eine Ewigkeit um die erste Seite des Buches zu entziffern, die wie eine Art Einführung schien. Es dämmerte bereits zum Morgen. Meinen Schlaf brauchte ich zwar für heute, doch würde ich ihn zu einem anderen Zeitpunkt nachholen müssen, denn meine Augen flogen gespannt über das verwitterte Papier.

Londinium, Königreich von Essex.

Eneas Vermächtnis: Über die ganz und gar unmenschliche Natur des gemeinen Bluttrinkers, Succubus Lamien in VII Abhandlungen

Die mysteriösen Characteristica der Wesen, die der Gattung des gemeinen Bluttrinkers oder im colloquialen Sinne "Vampyr" zugehörig sind, wirft eine Unzahl an Fragen auf. Dieses Werk beschäftigt sich mit einigen wichtigen Anmerkungen zu ihren Attributen sowie ihrer langjährigen Historie. Darüber hinaus befinden sich weitere Gedanken diesbezüglich in folgenden Teilen der Bibliothéque d'Opale, wohingegen andere Ungeklärtheiten wohl niemals eine Antwort finden werden. Bei der Suche nach Information über den Sukkubus ist äußerste Vorsicht geboten, wie bei allen nicht menschlichen Nebenspezies, die parallel zur dominanten Realität des Homo sapiens coexistieren. Die Cenntnis um den gemeinen Blutsauger ist mit hoechster Vorsicht zu genießen und kann in den falschen Händen eine bedrohliche Waffe sein, für den, der über sie verfügt und den, der in törichtem Handeln sie nicht zu beherrschen weiß.

(1) Vulnerability is a sign of strength: Bis(s) zum Sonnenaufgang (TWILIGHT-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt